Was hat Gerechtigkeit mit Ungleichheit zu tun? Und was muss getan werden, um eine gerechtere Welt zu schaffen? Diesen Fragen gehen die Expertinnen der Robert Bosch Stiftung Atje Drexler und Ellen Ehmke nach. Und sie erklären, welchen Beitrag die Robert Bosch Stiftung leistet.
Jeden Tag werden laut Schätzungen der Vereinten Nationen rund 385.000 Kinder auf der Welt geboren. Stellen wir uns zwei Kinder vor, die zufällig am gleichen Tag vor zehn Jahren geboren wurden. Welches Los haben sie gezogen? Asha kam in einer bergigen Region Nordindiens zur Welt. Sie ist aufgrund einer körperlichen Behinderung auf eine Gehhilfe angewiesen. Ihre Familie lebt in einem einfachen Haus, das der Besitzer der Teeplantage, auf der die Eltern arbeiten, an sie vermietet. Ohne Unterstützung kann Asha nicht zur Schule gehen, aber entsprechende Angebote gibt es nicht. Der gleichaltrige Ben lebt in einer deutschen Stadt, seine Eltern arbeiten beide in unbefristeten Angestelltenverhältnissen. Die Wohnung, in der sie leben, haben sie vor einigen Jahren gekauft. Ben geht zweimal die Woche zum Basketballtraining, und seit er in der Schule Schwierigkeiten hat, kann er Nachhilfestunden nehmen.
Die Lotterie des Lebens hat Asha und Ben offensichtlich sehr unterschiedliche Start- und Entwicklungschancen zugeteilt. Doch wo liegt die Ungerechtigkeit? Zunächst: Sie besteht sicher nicht darin, wo und in welche Körper sie geboren wurden – denn Unterschiede zwischen Menschen sind schön, wünschenswert, ein Fakt und evolutionär notwendig. Sprich: Nicht dass Asha und Ben unterschiedliche Merkmale haben, ist ein Problem, sondern was Gesellschaften daraus machen, wenn sie beispielsweise Asha aufgrund dessen schlechtere Chancen auf Bildung gewähren.
Es ist also nicht allein die Familie, die zum Los-Glück (oder -Pech) gehört, sondern es sind zudem die größeren Kontexte, Strukturen, Regeln und Institutionen. Vermögen ist sowohl in Indien als auch in Deutschland sehr ungleich verteilt, und in der globalen Verteilung zwischen Ländern wirken die Folgen des Kolonialismus bis heute nach.
Beim Stichwort Ungleichheit denken die meisten Menschen zuerst an die Verteilung von Geld, von Einkommen und Vermögen. Und tatsächlich sind Einkommen und Vermögen weltweit, aber auch in Deutschland sehr ungleich verteilt. In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte rund 60 Prozent des Vermögens, die ärmere Hälfte der Bevölkerung verfügt gemeinsam über nur gut zwei Prozent des Nettovermögens. Weltweit stieg die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre sowie der Besitz der allerreichsten Menschen an, während zugleich die Zahl der Menschen in absoluter Armut wieder zunahm.
Über wie viel Geld jemand verfügt, ist von großer Bedeutung für den Zugang zu weiteren Gütern wie Gesundheit, Bildung oder Wohnraum. Und die finanzielle Lage ist entscheidend dafür, wie gut jemand insgesamt am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann.
Doch ist der finanzielle Status einer Person nicht die einzige Dimension von Ungleichheit. Ungleichheiten sind auch dadurch gekennzeichnet, dass in einer Gesellschaft nicht alle Menschen gleichberechtigt anerkannt sind und nicht jede Stimme gleichermaßen Gehör findet. Dies gilt in vielen Kontexten für Frauen, ethnische Minderheiten, Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen oder Menschen mit Behinderungen – und die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Die Erfahrungen und Bedürfnisse dieser Gruppen werden in zahlreichen Gesellschaften weniger berücksichtigt und spielen eine geringere Rolle bei gesellschaftlichen Entscheidungen. Das wird dadurch verschärft, dass Menschen, die in einer Gesellschaft weniger Anerkennung erfahren, auch in politischen Prozessen häufig unterrepräsentiert sind.
„Wenn Menschen aufgrund persönlicher Merkmale oder familiärer Hintergründe systematisch von Chancen, Ressourcen und Mitbestimmungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden, werden Unterschiede zu gesellschaftlich geschaffener Ungleichheit.“
Das Wort „Ungleichheit“ beschreibt zunächst einmal Verteilungsverhältnisse, wie sie eben sind. Doch wenn man Ungleichheiten als das Ergebnis von Ausschlüssen betrachtet, kommt man schnell zur Frage, wie die Verhältnisse sein sollten – und das ist die Frage nach Gerechtigkeit.
Was gerecht ist, ist eine Frage, die seit der Antike diskutiert und immer wieder anders beantwortet wird. Heute werden wahrscheinlich die meisten Menschen zustimmen, dass es ungerecht ist, dass viele Menschen wenig bis keine Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und ein gutes Leben haben. Dabei spielen nicht nur persönliche Gerechtigkeitsvorstellungen eine Rolle. Es wirken auch Normen, die globale Gültigkeit beanspruchen, etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Denn Zugang zu Bildung, Gesundheit, Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben und sozialer Sicherheit sind Menschenrechte.
Um die Welt gerechter zu machen, braucht es Veränderungen in drei Dimensionen: bei der Anerkennung benachteiligter Gruppen, deren Repräsentation und Teilhabe sowie der gerechten Verteilung von Gütern und Zugängen. Die von der Philosophin Nancy Fraser formulierten Eckpunkte werden oft die „drei R der sozialen Gerechtigkeit“ genannt, denn auf Englisch beginnen alle mit dem Buchstaben „R“: „recognition“ (Anerkennung), „representation“ (Repräsentation) und „redistribution“ (Umverteilung).
Das Abbauen von Ungleichheit ist ein gesellschaftlicher Balanceakt
Auf die Frage, ob und wie viel Ungleichheit gerecht ist, gibt es keine allgemeingültige Antwort, auch weil sich die Antworten je nach Dimension unterscheiden. Bei der Anerkennung geht es um die Anerkennung der Betroffenen als Menschen mit gleichen Rechten. Hier ist also tatsächlich Gleichheit, beispielsweise vor dem Gesetz, das Ziel. Bei der Repräsentation geht es meist um Verhältnismäßigkeit. So zielen Paritätsgesetze etwa darauf ab, dass Frauen im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung auch in gesetzgebenden Gremien vertreten sind. Auf der Ebene der Verteilung geht es dagegen in den Augen der allermeisten Menschen nicht darum, eine generelle Gleichheit der Einkommen und Vermögen zu erzielen, sondern ein gerechtes Maß. Darum, was das gerechte Maß ist, wird aber immer wieder gerungen. Sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern hält die Mehrheit der Menschen aktuell die Schere zwischen Arm und Reich für zu groß – und damit für ungerecht.
Als Stiftung unterstützen wir, dass viele Menschen an der gesellschaftlichen Debatte darüber teilhaben können, wie viel Ungleichheit zu viel ist, zum Beispiel in der Fight Inequality Alliance. Und wir fördern neue Erkenntnisse, die Argumente und Daten für die Diskussion liefern, etwa durch die Studie des Forums New Economy zu Vermögensungleichheit.
„Wir sind überzeugt: Es braucht einen vielfältigen Einsatz gegen Ungleichheit, um am Ende mehr Gerechtigkeit zu schaffen.“
Außerdem setzt die Robert Bosch Stiftung gemeinsam mit ihren Partnerorganisationen an allen drei Ebenen für soziale Gerechtigkeit (Anerkennung, Repräsentation, Verteilung) an. Der Disability Rights Advocacy Fund beispielsweise unterstützt Menschen mit Behinderungen in Ländern des globalen Südens darin, ihre Rechte durchzusetzen. Aus der Bewegung der Menschen mit Behinderung stammt auch der Slogan „Nothing about us without us!“ – zu Deutsch „Nichts über uns ohne uns!“. Wenn über die Belange von Menschen mit Behinderungen entschieden wird, müssen sie mit am Tisch sitzen und angehört werden. In dieser Arbeit geht es also um Anerkennung und Repräsentation. Ähnlich argumentieren Rez Gardi und Mustafa Alio von der Initiative „R-SEAT“: Hier geht es darum, Geflüchteten eine Stimme zu geben und ihre Erfahrungen bei der Ausgestaltung von Maßnahmen der Migrationspolitik zu berücksichtigen. Mit der ungleichen Verteilung von Sorgearbeit beschäftigt sich das Netzwerk „Wirtschaft ist Care“. Auch hier geht es um Anerkennung, denn die Leistungen derjenigen, die andere Menschen oft unentgeltlich versorgen, werden gesellschaftlich wenig gesehen. Aber natürlich spielt hier der Verteilungsaspekt eine große Rolle, denn wer unbezahlt Sorgearbeit leistet, hat nun einmal weniger Möglichkeiten, bezahlter Erwerbsarbeit nachzugehen und etwa fürs Alter vorzusorgen.
Fest steht: Ungleichheit und Gerechtigkeit sind nicht das Gleiche. Und fest steht auch: Gerechtigkeit ohne einen massiven Abbau von Ungleichheit gibt es nicht. Es braucht daher einen vielfältigen Einsatz gegen Ungleichheit, um am Ende mehr Gerechtigkeit zu schaffen.
Wir stehen vor drängenden Gerechtigkeitsproblemen: Arm-Reich-Schere, globale Ungleichheit, Bildungszugang und Klimagerechtigkeit. Diese erfordern eine gerechte Ressourcenverteilung, Generationengerechtigkeit, Chancengleichheit und faire Umweltbelastungsverteilung. Gerechtigkeit formt uns und beeinflusst Entscheidungen. Lesen Sie hier, wie wir Projekte zur Schaffung von Gerechtigkeit fördern.