Reportage

Beteiligung in Cali: Ein Viertel kämpft um Anerkennung

Am Rande der kolumbianischen Metropole Cali kämpfen die Bewohner:innen einer Siedlung seit Jahren um die Anerkennung als legales Stadtviertel. Dank des Projekts „Ciudad y Paz“ und einer furchtlosen Universitätsprofessorin wird ihr Wunsch bald Wirklichkeit.

Text
Camilo Jiménez Santofimio
Bilder
Néstor David Velásquez, Miguel Galeano, Iván Galindo Sánchez, Gynna Millán, Enzo Mosquera, Socioeconomic Survey Data (SVSH and Universidad del Valle), Luisa Fernanda Afanador
Datum
02. Oktober 2023

„Oh mein Gott, es hat geklappt!“ Es sind die ersten Worte von Francy Mina, als sie 2020 an jenem schicksalhaften Tag den Telefonhörer abnimmt und lauscht. Jahre harter Arbeit, gemeinschaftlichen Engagements und bürokratischer Hürden liegen hinter ihr. Jahre, in denen sie und ihre Gemeinschaft für die offizielle Anerkennung ihres Wohnortes Brisas de las Palmas gekämpft haben. Jetzt endlich machen sie Fortschritte: Am anderen Ende der Leitung bestätigt die Universitätsprofessorin Ángela Franco-Calderón die Kooperation zwischen Brisas de las Palmas, der Universidad del Valle und der Stadtverwaltung Cali. Es ist das erste Mal, dass die Siedlung und ihre Bewohner:innen gesehen werden. Ein erster Schritt in Richtung Anerkennung, Anschluss, Wandel. Francy Minas Emotionen kochen über.

Ein Stadtteil, der keiner ist

Brisas de las Palmas. Ein Teil der kolumbianischen Metropole Cali im Westen des Landes, der sich mit seinen Backsteinhäusern, den farbenfrohen Fassaden und der üppigen Vegetation nahtlos in das Stadtbild einfügt. Über 900 Menschen, verteilt auf rund 200 Grundstücke, leben hier. Doch der Schein trügt: Brisas de las Palmas gehört administrativ nicht zur Metropole Cali dazu.

„Brisas de las Palmas ist offiziell kein Stadtteil, sondern eine sogenannte ‚informelle‘, also illegale Siedlung“, erklärt Francy Mina mit sanfter, singender Stimme. Sie ist Vorsitzende des Gemeindekomitees und alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Seit Jahren setzt sie sich für die Anerkennung und Legalisierung ihres Wohnorts ein. Denn nur die rechtliche Eingemeindung bringt die dringend benötigten Ressourcen in ein Viertel, das ansonsten vom städtischen Versorgungssystem und der Infrastruktur abgekoppelt ist. Die Bewohner:innen wollen mitverwaltet werden, dieselben Leistungen erhalten wie die Bewohner:innen anderer Viertel auch. Und sie wollen ihren Lebensstandard heben. Sie wollen ein Ende der Ungleichheit.

Eine Luftaufnahme der Siedlung Brisas de las Palmas, die in unmittelbarer Nähe der Metropole Cali liegt.
Die Siedlung Brisas de las Palmas liegt in unmittelbarer Nähe der Metropole Cali.

Brisas de las Palmas: Eine Siedlung der Hoffnung

Die Gründung von „Brisas“, wie es hier genannt wird, ist mit der gewaltvollen Geschichte Kolumbiens verknüpft. Mehr als 50 Jahre dauerte der Bürgerkrieg in dem südamerikanischen Land an, und auch das Friedensabkommen 2016 hat die Gewalt nicht überall beendet. Seit 1985 sind mehr als neun Millionen Menschen aus ländlichen Gebieten geflohen und haben Zuflucht in den Städten gesucht. Allein in Cali haben sich 200.000 Geflüchtete niedergelassen. Francy Mina ist eine von ihnen. Sie floh in den 90er-Jahren aus ihrem 60 Kilometer entfernten Heimatdorf Buenos Aires, Cauca, vor der FARC-Guerilla in die Metropole. Ohne Schulabschluss, ohne Perspektive. Als sie von einer neuen Siedlung im westlichen Berggebiet erfuhr, zog sie dorthin. Die Siedlerfamilien, viele Kriegsopfer wie Mina, viele mit indigenem oder afrokolumbianischem Hintergrund, errichteten Bambushütten und deckten sie mit Plastikplanen ab. Hier begann ihr neues Leben.

„Wenn wir es nicht tun, wird es niemand tun“

Zitat vonFrancy Mina, Vorsitzende des Gemeindekomitees

Damals war Brisas de las Palmas kein typischer Ort zum Leben. In den Bergen des 18. Stadtbezirks gab es Bananenplantagen, Maisfelder und weidende Kühe. Die Region war ein sogenannter „Ejido“: technisch gesehen in staatlicher Hand, allerdings individuell genutzt ohne administrative Regularien. Viele Jahre machte die Regierung keine Besitzansprüche geltend, infrastrukturelle Hilfe blieb jedoch ebenso aus. Dank der Initiative von Menschen wie Francy Mina entwickelte sich die Gemeinschaft über die Jahre hinweg weiter. „Wenn wir es nicht tun, wird es niemand tun“, so lautete ihr Leitspruch. Mit Tombolas, Tanzabenden und Grillfesten sammelten die Bewohner:innen von Brisas Geld für ihre Siedlung. Sie nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand, engagierten einen Landvermesser, schufen Wasser- und Abwassersysteme und pflasterten die Hauptstraße. Sie setzten sich für die Verlegung von Strom-, Internet-, Gasanschlüssen ein und auch für die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Heute besitzt die Siedlung zudem einen zentralen Park, der das Herzstück des sozialen Lebens bildet. Hier trifft man sich zum Reden, Fußballspielen und Entspannen.

Eine Luftaufnahme eines Parks in Brisas de las Palmas.
Eine sich im Bau befindliche Straße.
Die selbst erbauten Häuser prägen das Bild des informellen Stadtteils.

Vieles konnten die Bewohner:innen von Brisas selbst erreichen. Aber nicht alles. Sie sind angewiesen auf das Wohlwollen der Stadtregierung. Denn sie hat es in der Hand, ob Brisas zum offiziellen Stadtviertel wird oder weiterhin als illegale Siedlung behandelt wird. Der Status des „Ejido“, eine administrative Grauzone, in der das Land bewohnt und bewirtschaftet wird und die Stadtregierung sich nicht weiter einmischt, ist auf Dauer nicht wünschenswert. Nur wenn die Grundstücke legal ins Eigentum der Bewohner:innen übergehen, kann auch die Siedlung selbst legalisiert werden. Anderenfalls könnten die Vorbesitzer:innen jederzeit die Räumung verlangen und Brisas wieder in eine Bananenplantage verwandeln. Der Wunsch der Gemeinschaft, das von ihnen bewohnte Land rechtmäßig zu besitzen, fand lange Zeit in der Politik wenig Widerhall: Die Legalisierung von informellen Siedlungen ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, bei dem es für politische Akteurinnen und Akteure nichts zu gewinnen gibt. Also wurde dem Bestreben keine Priorität eingeräumt. Doch dann zeichnete sich eine Wende ab.

Mehr über das Projekt

Ciudad y Paz

Das Projekt Ciudad y Paz hat zum Ziel, Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für die Menschen in Brisas de las Palmas zu schaffen sowie für Frieden zu sorgen. Dafür wird ein differenzierter afro- und indigenzentrierter, bäuerlicher und geschlechtsspezifischer Ansatz verwendet. Bis 2026 soll Ciudad Paz als Beispiel für städtische Wiedereingliederung, Umweltschutz und die Stärkung des sozialen Gefüges anerkannt sein.

2020 kommt Francy Mina mit Ángela Franco-Calderón in Kontakt, und die Bemühungen um die Legalisierung von Brisas machen einen großen Schritt nach vorne. Ángela Franco-Calderón ist Professorin für Stadtplanung an der Universidad del Valle in Cali. Seit zwei Jahrzehnten widmet sie sich dem Thema Ungleichheit in kolumbianischen Städten. Sie forscht über informelle Siedlungen wie Brisas de las Palmas und weiß, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltungen und Bewohner:innen ist, um langfristig Veränderungen zu bewirken. „Ich war beeindruckt von Francy und ihrer Gruppe“, sagt sie, „aber ich wusste, dass sie nicht alle Probleme alleine bewältigen konnten.“

Viele dieser Probleme sind direkt mit dem informellen Status der Siedlung verknüpft. Brisas wird von staatlicher Seite vernachlässigt. Die Menschen, die hier leben, haben keinen einfachen Zugang zu Krankenversorgung oder Bildungseinrichtungen. Neben Defiziten in Infrastruktur und Versorgung herrscht in Brisas ein Mangel an öffentlichen Geldern und institutioneller Unterstützung. Während der Coronapandemie hat sich diese Randstellung besonders deutlich gezeigt und auch noch verschärft. Darunter leiden vor allem Frauen, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen.

Zur Person

Ángela Franco-Calderón

Ángela Franco-Calderón ist Architektin und Spezialistin für Stadtplanung. Sie hält eine außerordentliche Professur an der Fakultät für Architektur der Universidad del Valle in Cali, Kolumbien, und leitet die dortige Forschungsgruppe „Observatory of Contemporary Architecture and Urbanism“.

Intersektionalität: Lebensrealitäten in der Stadtplanung beachten

Wissenschaftlerin Ángela Franco-Calderón suchte nach Lösungen für die komplexen Probleme der informellen Siedlung. Eine Zusammenarbeit zwischen der Stadtverwaltung von Cali und dem Gemeindekomitee von Brisas erschien ihr dabei genauso unerlässlich wie das Engagement aller Bewohner:innen. Die Realität einer vom Staat vernachlässigten und marginalisierten Bevölkerung, die ohne klare Zukunftsperspektiven und Sicherheitsgefühl lebte, wirklich zu verstehen bedeutete, tiefgreifende soziale Aspekte wie Ungleichheit und Diskriminierung kollektiv zu analysieren. Und genau das wurde getan: In eigens konzipierten Workshopformaten holte Ángela Franco-Calderón erstmals die Akteurinnen und Akteure der Stadtverwaltung, der lokalen Universität sowie die Bewohner:innen Brisas an einen Tisch. Hier besprachen sie nicht nur den Wunsch nach einer Eingemeindung, sondern auch die infrastrukturellen Schwächen der Siedlung und ihre sozialen Schwierigkeiten. Lösungen konnten erdacht und diskutiert werden. Es war der erste Schritt in Richtung einer gleichberechtigten Bürgerbeteiligung.

Mehr über die Methode

Intersektionalität

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Geschlecht, Alter, Bildungsniveau, Hautfarbe oder der Besitz eines legalen Wohnorts – all das sind Faktoren, die Lebensrealitäten maßgeblich beeinflussen können. Je nachdem, welche Voraussetzungen die Menschen mitbringen, haben sie mehr oder weniger Chancen in einer Gesellschaft. Überschneiden sich die Diskriminierungskategorien, wird also ein Mensch gleichzeitig in mehreren Bereichen in einer Gesellschaft benachteiligt, spricht man von intersektionaler Diskriminierung.

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Ángela Franco-Calderón und ihr Team entwickelten mithilfe der Diskussionsergebnisse einen intersektionalen Ansatz, der die unterschiedlichen Diskriminierungskategorien, denen die Menschen in Brisas ausgesetzt waren, einschloss und Beteiligung für alle Gruppen möglich machte. Denn obwohl die Menschen in Brisas denselben Wohnort teilten, waren sie unterschiedlich von – oftmals mehreren – Diskriminierungsformen betroffen. In ihrem intersektionalen Ansatz trug Franco-Calderón diesem Umstand Rechnung, holte Menschen dort ab, wo sie standen, und ermöglichte so Dialog und Teilhabe.

Bei ihrer Arbeit stieß die Wissenschaftlerin 2020 auf das Förderprogramm „Reducing Inequalities Through Intersectional Practice“ der Robert Bosch Stiftung, mit dem die Stiftung Menschen und Organisationen förderte, die einen intersektionalen Ansatz zur Reduzierung von Ungleichheit in ihrer Arbeit gewählt haben. Mithilfe der Projektförderung konnten nicht nur Ungleichheiten innerhalb der Siedlungscommunity bearbeitet werden. Auch die architektonische und technische Planung im Hinblick auf den Bau eines Gemeindezentrums für die Bewohner:innen von Brisas de las Palmas wurde gefördet.

Fußballspielende Kinder und Jugendliche
Die Siedlung bietet eigene Plätze für Freizeitaktivitäten.

Franco-Calderón und ihr Universitätsteam starteten mit öffentlichen Versammlungen und Workshops. Francy Mina vermittelte zwischen den Forscher:innen und den Bewohner:innen. Gemeinsam reflektierten sie die Geschichte der Siedlung, teilten Erinnerungen, Anekdoten und Bilder. Die Treffen stärkten die Identität und den Zusammenhalt.

Parallel leiteten die Forschenden eine Umfrage zu Lebensqualität, Wohnverhältnissen und sozialen Bindungen ein. Sie organisierten Fokusgruppen, Workshops und Stadtteilrundgänge. So entstand eine „Karte“ des Ortes Brisas in all seiner Vielfalt.

Brisas de las Palmas liegt an der Grenze des offiziellen Stadtgebiets.
Brisas de las Palmas liegt an der Grenze des offiziellen Stadtgebiets.

Neben der tatsächlichen demografischen Zusammensetzung des Viertels konnte die Karte auch Gefahren und Vulnerabilitäten sichtbar machen: Sie zeigte, wie unberechenbar und unsicher das Leben in Brisas insbesondere für Frauen, Kinder, Ältere und queere Personen war.

Dank des Berichts konnte der Verwaltungsprozess erheblich beschleunigt werden. Darin war auch ein intersektionales Mapping enthalten, das notwendige Transportwege, Einrichtungen, öffentliche Räume und Umweltmanagement aufzeigte und zugleich Konfliktbrennpunkte identifizierte. Die gründliche Forschungsarbeit legte zudem dar, dass Brisas die notwendigen Kriterien erfüllte, um den legalen Status eines Stadtviertels von Cali zu erlangen.

„Die treibende Kraft waren die Bürger:innen. Das verkörpert wahre Demokratie“

Zitat vonMartha Hernández, Ministerin für sozialen Wohnungsbau und städtischen Raum
Thema

Ungleichheit

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Wir unterstützen Forschung und Praxis für weniger Ungleichheit und Diskriminierung. Wir vernetzen und fördern Akteurinnen und Akteure mit systemischen Ansätzen.

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Das Projekt „Ciudad y Paz“ weckte endlich auch das Interesse des Bürgermeisteramts von Cali. Martha Hernández, Ministerin für sozialen Wohnungsbau und städtischen Raum, machte das Projekt in ihrer Amtszeit zum Fokusprojekt und arbeitete eng mit Franco-Calderón zusammen. Mit ihrer Unterstützung wurde Brisas offiziell zum Pilotprojekt für die Legalisierung informeller Siedlungen gekürt. „Es dauerte mehrere Amtsperioden und bündelte Informationen, Wissen und Prozesse – genau das war nötig“, erklärt Martha Hernández. Und dann betont sie: „Die treibende Kraft waren die Bürger:innen, die aktiv werden wollten, statt auf den Staat zu warten. Das verkörpert wahre Demokratie.“

Eine Gruppe von Kindern, die an den Händen fassend einen Kreis bilden.
Unter den Einwohner:innen der Siedlung sind viele Kinder.

Bald könnte Brisas den Bewohner:innen gehören

Die Legalisierung von Brisas de las Palmas steht heute kurz vor ihrem Abschluss. Die Grundstücke der Bewohner:innen wurden offiziell kartiert. Es fehlt jedoch noch eine entscheidende Genehmigung, dann kann Brisas offiziell ins städtische Gefüge von Cali integriert werden. Ángela Franco-Calderón macht der Präzedenzfall auch für weitere Siedlungen Mut: „Wir stehen bereits in Verbindung mit drei benachbarten Siedlungen und spüren die wachsende Synergie. Wir stärken ihre Stimmen, und sie verfügen nun über das notwendige Wissen, um aktiv zu werden.“

Personen unterschiedlichen Geschlechts und Herkunft in Sitzreihen, von der Seite betrachtet, stimmen mit hochgehaltenen Karten über etwas ab
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Francy Mina hat den Wandel miterlebt, den „Ciudad y Paz“ für Brisas initiiert hat. Bald schon könnte sie eine Eigentumsurkunde in den Händen halten und voller Stolz sagen: „Dieses Land gehört mir.“ Mina wartet gespannt auf diesen Moment.

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