Gesellschaft

Wie Muslim:innen und Jüd:innen in Verbindung bleiben

Die Muslimische Akademie Heidelberg fördert seit Jahren den Austausch zwischen Muslim:innen, Jüd:innen und anderen Glaubensgemeinschaften. Wie hat sich das Verhältnis nach dem 7. Oktober 2023 verändert – und warum gelingt in Heidelberg, was anderswo nur noch schwer möglich ist?

Interview
Anja Reiter
Fotos
Anne Ackermann
Datum
30. August 2024

Ein Dienstagmittag im Sommer. In einem denkmalgeschützten, ehemaligen Militärgebäude der US-Armee in der Heidelberger Südstadt sitzt das Kulturzentrum Karlstorbahnhof. Im Foyer treffen wir vier Frauen zum Interview: Yasemin Soylu und Leyla Jagiella von der Muslimischen Akademie Heidelberg, die von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird. Außerdem Esther Graf von der Agentur für Jüdische Kultur und Sarah Ungan, Gastgeberin vom Verein Karlstorbahnhof. Sie kennen sich gut und plaudern vertraut miteinander.

Die vier Frauen engagieren sich für den jüdisch-muslimischen Dialog. Gemeinsam richten sie die Jüdisch-Muslimischen Kulturtage in Heidelberg aus, ein deutschlandweit einzigartiges Format, das 2017 zum ersten Mal stattfand. In diesem Jahr trägt es den Titel „AufBruch“. Lesungen, Konzerte und Aktionstage sollen künstlerische Räume für jüdische, muslimische und andere postmigrantische Stimmen öffnen, um Bruchstellen in der Gesellschaft sichtbar und besprechbar zu machen. Über solche Bruchstellen sprechen die vier Aktivist:innen auch in diesem Interview.

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 stellt die Beziehungen zwischen Jüd:innen, Muslim:innen und anderen Glaubensgruppen auf die Probe. Wie haben Sie die Ereignisse erlebt?

Leyla Jagiella: An der Muslimischen Akademie waren die ersten Tage von einer ganz großen Sprachlosigkeit geprägt. Alle haben gerungen: Sollen wir uns äußern? Was können wir als Muslimische Akademie sagen? Als die kriegerischen Gegenschläge hinzukamen, wurde die Sprachlosigkeit immer größer. Als Muslimin befand ich mich sofort in einer zwiespältigen Situation: Ich war schockiert von der Gewalt in Israel und besorgt um jüdische Freund:innen und Bekannte. Auf der anderen Seite wusste ich, dass auch die muslimischen Gemeinschaften in Deutschland massiv angegriffen werden würden.

Esther Graf: Als bewusste und aktive Jüdin stand ich unter Schock, zumal ich auch Familie in Israel habe. Als die Hamas am Freitag, dem 13. Oktober, einen „Tag des Zorns“ in der ganzen Welt ausrief, wurde mir klar: Es geht nicht allein um Israel, es geht um einen umfänglichen Judenhass. Als ich das realisiert hatte, war das wie eine zweite Traumatisierung. Meine beiden Großväter waren in der Reichspogromnacht 1938 verhaftet worden. Und nun merke ich plötzlich, wie nah ich ihrer Geschichte bin. Zugleich wusste ich: Das wird richtig schlimm für die muslimische Community, es wird Hassreaktionen geben.

Leyla Jagiella sitzt auf einer Bank
Yasemin Soylu erklärt etwas und gestikuliert dazu
Leyla Jagiella (links) ist Mitarbeiterin der Muslimischen Akademie Heidelberg und Projektleiterin der Jüdisch-Muslimischen Kulturtage Heidelberg. Yasemin Soylu (rechts) ist Geschäftsführerin der Muslimischen Akademie Heidelberg

Wie sind Sie dann mit dem Schock umgegangen?

Leyla Jagiella: Erst standen viele Fragen im Raum: Können wir in einer solchen Situation noch gemeinsame, Jüdisch-Muslimische Kulturtage feiern? Bei unseren Veranstaltungen haben wir den Nahostkonflikt bislang bewusst nicht in den Fokus gesetzt, weil es uns um das Miteinander in Deutschland und die Communitys hier vor Ort in Heidelberg ging. Wir haben gemeinsam Kunst und Kultur gemacht, uns für aktuelle Themen wie den Klimawandel interessiert. Nun war klar: Das wird schwieriger.

Sie haben weitergemacht und den Kulturtagen einen neuen Titel gegeben: „AufBruch“. Wie kann Kunst dabei helfen, den Dialog zu fördern?

Sarah Ungan: Kunst verbindet, gerade auch über unterschiedliche Glaubensgemeinschaften hinweg. Aus dem gemeinsamen Erleben – durch Musik, Tanz oder visuelle Kunstprojekte – erwächst Empowerment und Selbstwirksamkeit. In unseren „Community Arts“-Projekten können Interessierte Kunst schaffen, ohne professionelle Künstler:innen zu sein. Es ist spannend, zu erleben, wie eine Form von Verletzlichkeit und Intimität entsteht, die man über den sprachlichen Dialog allein nicht erreichen kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Projekt „Unter den Teppich“. Nach dem 7. Oktober 2023 haben Künstler:innen und die Stadtgesellschaft gemeinsam an einem übergroßen Webstuhl einen Teppich gewebt. Dabei haben sie sich ausgetauscht zu der Frage: Was wird in Deutschland, in der eigenen Community unter den Teppich gekehrt? Die Geschichten der Weber:innen sind in den Teppich verwoben.

Ein Muslim hat zu mir gesagt, wie leid es ihm täte, was ich erleben müsse. Bis heute habe ich Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Zitat vonEsther Graf, Agentur für Jüdische Kultur

Neben dem fortlaufenden Kulturprogramm setzen Sie auf eine zweite Säule: die Community Labs. Dort ermöglichen Sie in einem geschützten Raum konstruktive Gespräche zwischen den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Wie läuft das ab?

Yasemin Soylu: In die Community Labs laden wir Menschen aus muslimischen und jüdischen Communitys ein – und Menschen, die sich diesen Communitys verbunden fühlen. Die Menschen können Fragen stellen, die „draußen“ meist nicht gestellt werden. Teilnehmen kann man nur auf Empfehlung. Wir haben mit einer ganz kleinen Gruppe angefangen: Gemeindemitgliedern, Studierenden und Aktiven im jüdisch-muslimischen Dialog. Mit der Zeit wurden es immer mehr Beteiligte.

Worüber sprechen die Menschen denn in den Community Labs?

Esther Graf: Der erste Termin war Anfang März 2024. Der Moderator hat Bilder auf den Boden gelegt: Natur, Landschaften, Blumen. Ein lockeres Kennenlernen. Dann fragte er uns: Wie geht es euch nach dem 7. Oktober? In den überaus offenen Gesprächen wurde schnell klar, wie sehr wir in unseren jeweiligen Blasen verhaftet sind, wie wenig wir von den anderen Lebenswelten wissen. Ich habe von den Anfeindungen erzählt, denen ich als Jüdin ausgesetzt bin. Ein Muslim hat zu mir gesagt, wie leid es ihm täte, was ich erleben müsse. Bis heute habe ich Gänsehaut, wenn ich daran denke.

Esther Graf ist im Gespräch und gestikuliert
Sarah Ungan ist im Gespräch und gestikuliert
Esther Graf von der Agentur für Jüdische Kultur (links) und Sarah Ungan vom Kulturzentrum Karlstorbahnhof Heidelberg (rechts)

Was hat sich durch den Austausch in den Community Labs verändert – und was wollen Sie noch erreichen?

Esther Graf: Vor Kurzem gab es einen vereitelten Anschlag auf die Synagoge in Heidelberg. Noch am selben Tag schrieb mir eine Muslimin aus dem Community Lab, wie schlimm sie das fände, dass ihr die Worte fehlten. Ich war sehr gerührt. Daraufhin haben wir uns dann auch privat getroffen. Wenn wir uns jetzt im Community Lab sehen, ist es ganz anders als zuvor!

Sarah Ungan: Nach den ersten Treffen fällt uns das Sprechen viel leichter. Das ist wichtig – auf beruflicher, aber auch auf privater Ebene. Noch fungieren die Community Labs als „Safer Space“. Über kurz oder lang sollten wir aber auch wieder offene Formate finden, in denen wir streiten dürfen, ohne dass wir uns voneinander wegbewegen. Diese Verantwortung haben wir als Kulturort.

Kommt es manchmal auch zu kritischen Momenten?

Esther Graf: Einmal war ein junger, muslimischer Mann dabei, der zwei Studierende gefragt hat, ob sie denn kein grundsätzliches Problem mit der Staatsgründung Israels hätten. Ich war schockiert, jemanden hier im Community Lab zu haben, der tatsächlich das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Aber die beiden jungen Menschen haben die Geduld aufgebracht, historische Hergänge zu erklären. Das hätte ich in dieser Situation nicht geschafft.

Wenn wir erwarten, vollumfänglich verstanden zu werden, gelingt uns kein Austausch.

Zitat vonYasemin Soylu, Geschäftsführerin der Muslimischen Akademie Heidelberg

Der Diskurs zwischen Jüd:innen, Muslim:innen und der Mehrheitsgesellschaft ist von einer großen Verletzbarkeit geprägt. Fallen die falschen Worte, schlagen die Wellen rasch hoch. Welche Fehler sind verzeihbar, welche nicht?

Esther Graf: Antisemitische Parolen sind keine Meinungen. Das muss ich nicht aushalten, das will ich hier nicht haben, ebensowenig wie antimuslimische Bemerkungen.

Yasemin Soylu: Bei unseren Veranstaltungen haben wir das zum Glück noch nicht erlebt. Ansonsten finde ich: Wenn wir erwarten, vollumfänglich verstanden zu werden, gelingt uns kein Austausch. Es geht vielmehr darum, zu lernen, einen Kulturraum, eine Stadt, eine Bühne zu teilen, auch wenn man gegenteilige Positionen hat. 

Einer Ihrer Aktionstage heißt „Dreaming Jewish-Muslim Futures“. Was ist Ihr Traum für den jüdisch-muslimischen Dialog der Zukunft?

Yasemin Soylu: Viele Menschen sagen: Der jüdisch-muslimische Dialog ist tot. Dazu gehören auch solche, die seit Jahrzehnten im jüdisch-muslimischen Dialog aktiv sind. Ich hoffe, dass wir an einen Punkt kommen, an dem wir die aktuellen Herausforderungen als Stärkung, nicht als Schwächung für den Dialog erleben.

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