Die Muslimische Akademie Heidelberg fördert seit Jahren den Austausch zwischen Muslim:innen, Jüd:innen und anderen Glaubensgemeinschaften. Wie hat sich das Verhältnis nach dem 7. Oktober 2023 verändert – und warum gelingt in Heidelberg, was anderswo nur noch schwer möglich ist?
Ein Dienstagmittag im Sommer. In einem denkmalgeschützten, ehemaligen Militärgebäude der US-Armee in der Heidelberger Südstadt sitzt das Kulturzentrum Karlstorbahnhof. Im Foyer treffen wir vier Frauen zum Interview: Yasemin Soylu und Leyla Jagiella von der Muslimischen Akademie Heidelberg, die von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird. Außerdem Esther Graf von der Agentur für Jüdische Kultur und Sarah Ungan, Gastgeberin vom Verein Karlstorbahnhof. Sie kennen sich gut und plaudern vertraut miteinander.
Die vier Frauen engagieren sich für den jüdisch-muslimischen Dialog. Gemeinsam richten sie die Jüdisch-Muslimischen Kulturtage in Heidelberg aus, ein deutschlandweit einzigartiges Format, das 2017 zum ersten Mal stattfand. In diesem Jahr trägt es den Titel „AufBruch“. Lesungen, Konzerte und Aktionstage sollen künstlerische Räume für jüdische, muslimische und andere postmigrantische Stimmen öffnen, um Bruchstellen in der Gesellschaft sichtbar und besprechbar zu machen. Über solche Bruchstellen sprechen die vier Aktivist:innen auch in diesem Interview.
Leyla Jagiella: An der Muslimischen Akademie waren die ersten Tage von einer ganz großen Sprachlosigkeit geprägt. Alle haben gerungen: Sollen wir uns äußern? Was können wir als Muslimische Akademie sagen? Als die kriegerischen Gegenschläge hinzukamen, wurde die Sprachlosigkeit immer größer. Als Muslimin befand ich mich sofort in einer zwiespältigen Situation: Ich war schockiert von der Gewalt in Israel und besorgt um jüdische Freund:innen und Bekannte. Auf der anderen Seite wusste ich, dass auch die muslimischen Gemeinschaften in Deutschland massiv angegriffen werden würden.
Esther Graf: Als bewusste und aktive Jüdin stand ich unter Schock, zumal ich auch Familie in Israel habe. Als die Hamas am Freitag, dem 13. Oktober, einen „Tag des Zorns“ in der ganzen Welt ausrief, wurde mir klar: Es geht nicht allein um Israel, es geht um einen umfänglichen Judenhass. Als ich das realisiert hatte, war das wie eine zweite Traumatisierung. Meine beiden Großväter waren in der Reichspogromnacht 1938 verhaftet worden. Und nun merke ich plötzlich, wie nah ich ihrer Geschichte bin. Zugleich wusste ich: Das wird richtig schlimm für die muslimische Community, es wird Hassreaktionen geben.
Leyla Jagiella: Erst standen viele Fragen im Raum: Können wir in einer solchen Situation noch gemeinsame, Jüdisch-Muslimische Kulturtage feiern? Bei unseren Veranstaltungen haben wir den Nahostkonflikt bislang bewusst nicht in den Fokus gesetzt, weil es uns um das Miteinander in Deutschland und die Communitys hier vor Ort in Heidelberg ging. Wir haben gemeinsam Kunst und Kultur gemacht, uns für aktuelle Themen wie den Klimawandel interessiert. Nun war klar: Das wird schwieriger.
Sarah Ungan: Kunst verbindet, gerade auch über unterschiedliche Glaubensgemeinschaften hinweg. Aus dem gemeinsamen Erleben – durch Musik, Tanz oder visuelle Kunstprojekte – erwächst Empowerment und Selbstwirksamkeit. In unseren „Community Arts“-Projekten können Interessierte Kunst schaffen, ohne professionelle Künstler:innen zu sein. Es ist spannend, zu erleben, wie eine Form von Verletzlichkeit und Intimität entsteht, die man über den sprachlichen Dialog allein nicht erreichen kann. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Projekt „Unter den Teppich“. Nach dem 7. Oktober 2023 haben Künstler:innen und die Stadtgesellschaft gemeinsam an einem übergroßen Webstuhl einen Teppich gewebt. Dabei haben sie sich ausgetauscht zu der Frage: Was wird in Deutschland, in der eigenen Community unter den Teppich gekehrt? Die Geschichten der Weber:innen sind in den Teppich verwoben.
Ein Muslim hat zu mir gesagt, wie leid es ihm täte, was ich erleben müsse. Bis heute habe ich Gänsehaut, wenn ich daran denke.
Yasemin Soylu: In die Community Labs laden wir Menschen aus muslimischen und jüdischen Communitys ein – und Menschen, die sich diesen Communitys verbunden fühlen. Die Menschen können Fragen stellen, die „draußen“ meist nicht gestellt werden. Teilnehmen kann man nur auf Empfehlung. Wir haben mit einer ganz kleinen Gruppe angefangen: Gemeindemitgliedern, Studierenden und Aktiven im jüdisch-muslimischen Dialog. Mit der Zeit wurden es immer mehr Beteiligte.
Esther Graf: Der erste Termin war Anfang März 2024. Der Moderator hat Bilder auf den Boden gelegt: Natur, Landschaften, Blumen. Ein lockeres Kennenlernen. Dann fragte er uns: Wie geht es euch nach dem 7. Oktober? In den überaus offenen Gesprächen wurde schnell klar, wie sehr wir in unseren jeweiligen Blasen verhaftet sind, wie wenig wir von den anderen Lebenswelten wissen. Ich habe von den Anfeindungen erzählt, denen ich als Jüdin ausgesetzt bin. Ein Muslim hat zu mir gesagt, wie leid es ihm täte, was ich erleben müsse. Bis heute habe ich Gänsehaut, wenn ich daran denke.
Esther Graf: Vor Kurzem gab es einen vereitelten Anschlag auf die Synagoge in Heidelberg. Noch am selben Tag schrieb mir eine Muslimin aus dem Community Lab, wie schlimm sie das fände, dass ihr die Worte fehlten. Ich war sehr gerührt. Daraufhin haben wir uns dann auch privat getroffen. Wenn wir uns jetzt im Community Lab sehen, ist es ganz anders als zuvor!
Sarah Ungan: Nach den ersten Treffen fällt uns das Sprechen viel leichter. Das ist wichtig – auf beruflicher, aber auch auf privater Ebene. Noch fungieren die Community Labs als „Safer Space“. Über kurz oder lang sollten wir aber auch wieder offene Formate finden, in denen wir streiten dürfen, ohne dass wir uns voneinander wegbewegen. Diese Verantwortung haben wir als Kulturort.
Esther Graf: Einmal war ein junger, muslimischer Mann dabei, der zwei Studierende gefragt hat, ob sie denn kein grundsätzliches Problem mit der Staatsgründung Israels hätten. Ich war schockiert, jemanden hier im Community Lab zu haben, der tatsächlich das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Aber die beiden jungen Menschen haben die Geduld aufgebracht, historische Hergänge zu erklären. Das hätte ich in dieser Situation nicht geschafft.
Wenn wir erwarten, vollumfänglich verstanden zu werden, gelingt uns kein Austausch.
Esther Graf: Antisemitische Parolen sind keine Meinungen. Das muss ich nicht aushalten, das will ich hier nicht haben, ebensowenig wie antimuslimische Bemerkungen.
Yasemin Soylu: Bei unseren Veranstaltungen haben wir das zum Glück noch nicht erlebt. Ansonsten finde ich: Wenn wir erwarten, vollumfänglich verstanden zu werden, gelingt uns kein Austausch. Es geht vielmehr darum, zu lernen, einen Kulturraum, eine Stadt, eine Bühne zu teilen, auch wenn man gegenteilige Positionen hat.
Yasemin Soylu: Viele Menschen sagen: Der jüdisch-muslimische Dialog ist tot. Dazu gehören auch solche, die seit Jahrzehnten im jüdisch-muslimischen Dialog aktiv sind. Ich hoffe, dass wir an einen Punkt kommen, an dem wir die aktuellen Herausforderungen als Stärkung, nicht als Schwächung für den Dialog erleben.
Wenn die Dialogbereitschaft endet und Meinungsverschiedenheiten in Hass übergehen, betrifft das uns alle: Es gefährdet das demokratische Zusammenleben. Was können wir dem entgegensetzen? Ermutigende Ansätze gibt es aus all unseren Fördergebieten – und um diese Ansätze geht es in unserem Dossier.