Denjenigen Macht verschaffen, die zu wenig gehört werden: Wie kann das in die Tat umgesetzt werden? Wir fördern Projekte, die etablierte Organisationen und Organisationen mit weniger Macht zusammenbringen. Ein Einblick in die Praxis des Powersharings.
Wir alle werden in vorbestimmte und oft ungerechte Machtverhältnisse hineingeboren. Eine gerechtere Verteilung dieser Macht hinzubekommen scheint jedoch fast unmöglich. Denn wer verliert schon gerne an Kontrolle und Wirkkraft? Eine unerwartete Antwort liefert der Ansatz des Powersharings: Gerechte Machtverteilung kann nach diesem Ansatz funktionieren, wenn Gruppen mit Macht und Privilegien bewusst auf sie verzichten oder ihre Macht mit weniger privilegierten Gruppen teilen.
Genau das geschieht im Rahmen des Projekts „In der Vielfaltsgesellschaft gemeinsam solidarisch Handeln!“ des Paritätischen NRW. Dafür haben sich mehrere Tandems zusammengetan, die jeweils aus einer privilegierteren Organisation im Wohlfahrtssektor und einer Migrantenselbstorganisation mit weniger Macht bestehen.
Doch wie genau funktioniert Powersharing in der deutschen Einwanderungsgesellschaft? Welche Herausforderungen gibt es dabei? Und was haben die, die Macht abgeben, eigentlich davon? Zwei Modellprojekte aus Bielefeld und Dortmund zeigen, was eine neue Machtverteilung bringt – und wo die Hürden liegen.
Dr. Ferdinand Mirbach, Senior Expert bei der Robert Bosch Stiftung, erklärt:
„Durch Powersharing sollen Macht und Privilegien anders verteilt werden. Voraussetzung dafür ist, dass Menschen oder Organisationen ihre Privilegien reflektieren, Verhältnisse verändern wollen und so zur gerechteren Verteilung von Macht, Zugängen und Beteiligungschancen beitragen.“
Wie erfolgreiches Powersharing aussehen kann, zeigt ein Tandem aus Bielefeld. „Zu uns kommen viele Familien, die von Traumata belastet sind, zum Beispiel durch Fluchterfahrungen, Gewalt, Rassismus, Diskriminierung, Hasskriminalität“, erklärt Amin Alich. Er ist Vorstandsmitglied des Islamischen Zentrums Bielefeld e.V., einer offenen Moschee, die Berührungsängste mit dem Islam in Deutschland abbauen möchte. Durch seine ehrenamtliche Tätigkeit kommt Amin Alich mit vielen Menschen in Kontakt, die Schlimmes erlebt haben. „Sie leiden häufig unter Traumafolgestörungen wie Schlaflosigkeit, Angst, Depressionen, Konzentrationsschwierigkeiten oder auch Wutausbrüchen.“
Für die Menschen, mit denen Alich zu tun hat, ist die eigenständige Bewältigung ihrer Traumata schwierig. Ihnen fehlt der Zugang zu professioneller Hilfe. Denn auch medizinische Leistungen wie professionelle Traumabewältigungstherapien setzen gewisse Privilegien und Zugänge voraus. Diese Hürden gilt es durch Powersharing abzubauen.
Gemeinsam mit Dilek Dogan-Alagöz aus dem ZENTRUM TEMPUS Bielefeld e.V. bewarb er sich als Tandem beim Programm des Paritätischen NRW. Als Diplom-Pädagogin ist Dilek Dogan-Alagöz auf Traumabewältigung spezialisiert und kann als Teil einer etablierten Organisation viel Expertise und Zugänge mit Amin Alichs Verein teilen. Im Tandem entstand so die gemeinsame Idee, die traumaspezifische Kompetenz des ZENTRUM TEMPUS Bielefeld e.V. auch für Besucher:innen des Islamischen Zentrums Bielefeld e.V. nutzbar zu machen.
Nun arbeiten beide Vereine zusammen. Im gemeinsamen Projekt „Stärkung der Handlungskompetenz und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ bieten beide Vereine ihren Mitgliedern Workshops zur Traumabewältigung an. Dort können die Teilnehmer:innen zunächst erfahren, was ein Trauma überhaupt ist und was dabei im Gehirn und neurophysiologisch mit einem Menschen passiert – denn oft ist das Verstehen der eigenen Verfassung schon der erste Schritt in Richtung Bewältigung. Im weiteren Verlauf werden Stabilisierungsübungen gemacht.
Amin Alich kennt die Familien aus dem Islamischen Zentrum Bielefeld e.V., kann sie dort niederschwellig erreichen und ins Projekt holen. „Das funktioniert nur durch den persönlichen Austausch und das Vertrauen, das zwischen uns entsteht“, erklärt er. Das Vorgehen hat Erfolg: Zu den vier Workshops, die bisher stattgefunden haben, kamen je bis zu 17 Teilnehmer:innen.
Überhaupt, Vertrauen ist ein schwerwiegendes Pfund im Miteinander, auch unter den Tandempartner:innen. Dilek Dogan-Alagöz und Amin Alich erleben innerhalb ihres Tandems geteilte Macht als etwas Positives. Im großen Gefüge der Wohlfahrt sehen beide das kritischer. Alich erläutert: „Auch wenn man als Migrantenorganisation gut vernetzt ist, hat man gegen die großen Player kaum eine Chance und an eine Kooperation auf Augenhöhe ist gar nicht zu denken. Daher und weil wir Dilek schon länger kennen, war uns diese Zusammenarbeit sehr wichtig.“ Dogan-Alagöz ergänzt: „Die Macht liegt bei den Regeldiensten, also bei sozialen Diensten wie zum Beispiel Einrichtungen der Jugend-, Familien- und Altenhilfe. Sie haben finanzielle Ressourcen und Kontakte zur Sozialpolitik. Sie haben Lobbys, die wir als kleine Vereine nicht haben.“
Wenn es nach Alich und Dogan-Alagöz ginge, müsste sich das ganze System ändern. Sie wünschen sich einen leichteren Zugang zu finanziellen Ressourcen für Migrantenselbstorganisationen, größere gesellschaftliche Anerkennung für ihre Arbeit sowie ein besseres Mitspracherecht auf kommunaler Ebene. Als größte Hürde fürs Powersharing sehen die beiden, dass die bestehenden Ungleichheiten bisher kaum gesehen und anerkannt werden. Sie wünschen sich, dass bei der Verteilung von Geldern auch auf die unterschiedlichen Startbedingungen verschiedener Vereine eingegangen wird.
Ein weiteres Praxisbeispiel des Powersharings zeigt ein Theaterprojekt in Dortmund. In diesem Falle teilt ein etablierter Verein für Bildungsarbeit seine Macht, in dem er ein Theaterprojekt für Jugendliche ins Leben ruft.
Heimat dieses zweiten Tandems ist die Dortmunder Nordstadt, ein vielfältiger Stadtteil mit hoher Arbeitslosenquote, viel Armut und einem im Schnitt niedrigen Bildungsniveau. Die Projektinitiatoren Mete Derendeli und Okan Özbek sind beide in diesem Viertel groß geworden und kennen die Verhältnisse. Mete Derendeli ist Projektleiter bei „UBV – Unternehmen. Bilden. Vielfalt.“, einem etablierten Verein, dessen Mitglieder:innen und Unterstützer:innen sich gemeinsam für Vielfalt und Chancengleichheit in Arbeit und Ausbildung sowie für die Partizipation am Bildungs- und Kulturleben in Dortmund einsetzen. Hierzu gehören einerseits die Förderung der Ausbildungsbereitschaft von Unternehmer:innen und andererseits die Unterstützung von Jugendlichen auf dem Weg in die Ausbildung. Sein Tandempartner Okan Özbek leitet den noch jungen Verein Habitus Ruhr, der sich im Bereich Erziehungshilfen engagiert
Beide verbindet das Interesse, Jugendlichen Perspektiven fürs Berufsleben aufzuzeigen und ihre Stärken zu fördern. Gemeinsam entwickelten sie das Theaterprojekt „In deinen Schuhen“. Ziel ist es, dass Jugendliche lernen, sich in andere Personen hineinzuversetzen, sich also symbolisch ihre Schuhe anzuziehen. Dazu interviewen sie Menschen, die einen besonderen Lebensweg hinter sich haben, etwa jemanden, der es aus der Obdachlosigkeit herausgeschafft hat. Die jungen Leute entwickeln unter Anleitung Szenen und Stücke, die sie selbst inszenieren und aufführen. Mete Derendeli hat bereits Erfahrungen mit solchen Workshops und erzählt: „Die Jugendlichen haben tolle eigene Ideen. Für viele ist es eine völlig neue Erfahrung, dass sie für ihr eigenes Ding Applaus bekommen, das gibt ihnen sehr viel Selbstvertrauen.“
Das Ganze hat noch einen weiteren – ganz praktischen – Vorteil: Über das Theaterspielen lernen die Jugendlichen, ihre Stimme und ihre Körpersprache bewusst einzusetzen. Das ist auch hilfreich bei Vorstellungsgesprächen oder in Assessment-Centern.
Die Machtverhältnisse zwischen den zwei Vereinen sind auch in diesem Tandem sehr unterschiedlich, was beispielsweise finanzielle Förderung oder Netzwerke angeht. Doch beide können etwas für sich mitnehmen. „Beim Umgang mit Jugendlichen habe ich viel von Okan gelernt. Gerade weil wir so verschieden sind, profitieren wir voneinander“, sagt Mete Derendeli vom etablierten Verein „UBV – Unternehmen. Bilden. Vielfalt.“. Auch Okan Özbeks Verein zieht Nutzen aus dem Tandem: „Im sozialen Bereich läuft vieles über Beziehungen, man muss sich erst mal mühsam ein Netzwerk aufbauen und Kontakte knüpfen.“
Sabine Kemler, Projektleiterin und Fachreferentin beim Paritätischen NRW, bestätigt das: „Es gibt auf beiden Seiten der Tandems Ressourcen, die es sich lohnt, zu teilen. Da hat zum Beispiel die etabliertere Organisation einen guten Stand in Entscheidungsgremien, der kleine Verein jedoch den benötigten einfachen Zugang zu den Zielgruppen.“
Bei seinen Bemühungen, mit Habitus Ruhr in der Stadtgesellschaft Fuß zu fassen, hat Okan Özbek viele positive Erfahrungen gemacht: „Viele haben uns sehr unterstützt. Ich habe festgestellt, dass sie gar nicht so sehr das Gefühl haben, Macht abzugeben, sondern vielmehr Freude am Geben und am Fördern.“ Derendeli betont: „Wir möchten im sozialen Bereich ja etwas bewegen und die Situation von Menschen verbessern. Wenn ich etwas von meiner Macht abgebe, heißt das doch auch, dass diejenigen, denen ich helfen möchte, davon profitieren. Ich persönlich möchte generell, dass Jugendliche mehr unterstützt werden, das ist mein übergeordnetes Ziel. Und dafür ist Powersharing super geeignet!“
Wir stehen vor drängenden Gerechtigkeitsproblemen: Arm-Reich-Schere, globale Ungleichheit, Rassismus, Bildungszugang und Klimagerechtigkeit. Diese erfordern eine gerechte Ressourcenverteilung, Generationengerechtigkeit, Chancengleichheit und faire Umweltbelastungsverteilung. Gerechtigkeit formt uns und beeinflusst Entscheidungen. Lesen Sie hier, wie wir Projekte zur Schaffung von Gerechtigkeit fördern.
Zum Schluss ergibt sich eine Gretchenfrage: Warum sollte Macht überhaupt geteilt werden? Klare Antwort: „Weil wir es uns – in Bezug auf Powersharing in der Einwanderungsgesellschaft – aktuell nicht erlauben können, gute Ideen unter den Tisch fallen zu lassen“, meint Sabine Kemler vom Paritätischen NRW. Auch in Bezug auf die Gesamtgesellschaft ist Powersharing daher relevant, ergänzt sie: „Da draußen sind viele gute Lösungsansätze. Wir möchten möglichst alle Perspektiven mit reinholen und die besten Ansätze rausfiltern. Wir brauchen einen fairen Wettbewerb der guten Ideen!“