Der Migrationsforscher Prof. Dr. Hannes Schammann ist Mitglied in der Steuerungsgruppe von Land.Zuhause.Zukunft, einem Projekt der Robert Bosch Stiftung. Hier erklärt er, warum es seit 2015 in der Integrationspolitik zugleich zu einer Professionalisierung und Polarisierung kam.
Als Angela Merkel im Sommer 2015 sagte: „Wir schaffen das!“, verstand ich das nicht als pathetischen Aufruf zur Menschlichkeit, sondern eher als nüchternes Management-Versprechen. In meiner Erinnerung war es ein kleiner, beiläufiger Satz – ganz im Stil dieser pragmatischen Kanzlerin.
Aber eine Frage geriet dabei aus dem Blick: Wollen wir es denn schaffen? Und: Warum? Auch weil darüber keine Diskussion stattfand und Politik zur reinen Problemlösung wurde, hat sich die Realität des Integrationssystems in Deutschland von der öffentlichen Meinung entkoppelt. Und das spüren wir heute, zehn Jahre später, umso deutlicher.
Diese Schilderungen von Hannes Schammann sind Teil einer Serie aus unseren Förderthema Einwanderungsgesellschaft. 2015 sagte Angela Merkel den berühmten Satz „Wir schaffen das!“, sie meinte damit die Aufnahme Hunderttausender Geflüchteter, die innerhalb weniger Monate nach Deutschland kamen. Wir haben Expert:innen und Partner:innen aus unseren Projekten gefragt: Was haben wir in Deutschland in Sachen Integration geschafft in den vergangenen 10 Jahren?
Dabei wurde ja einiges geschafft. Während binnen weniger Monate Hunderttausende Menschen ins Land kamen, wurden Strukturen aufgebaut, neue Ämter geschaffen, professionelles Know-how entwickelt und die Zivilgesellschaft eingebunden. Ich sage immer: Deutschland hat trainiert und Muskeln aufgebaut – und war deshalb 2022 in der Lage, in kürzerer Zeit noch mehr Menschen aufzunehmen. Die Kommunen wussten, was zu tun war, Vereine, Runde Tische und Stiftungen standen bereit.
Die großen Fortschritte waren und sind allerdings oft technischer Natur – es geht um Kompetenzen, Ressourcen, Workflows. Im Programm Land.Zuhause.Zukunft, das ländliche Kommunen bei der Integration von Geflüchteten berät und vernetzt, finden sich zahlreiche Beispiele, wie Integration durch Zusammenarbeit besser funktioniert. Weil Migration so viele unterschiedliche Verwaltungsebenen betrifft, müssen Silos aufgelöst werden. Von Brandenburg bis Baden-Württemberg wurden in ländlichen Kreisen Erfolgsgeschichten geschrieben, von denen auch Städte lernen können.
Und es gibt noch viel zu tun: Während 2015 das BAMF der Flaschenhals war – die Bearbeitung der Asylanträge stockte –, sind es heute die Ausländerbehörden. 2025 leben mehr als doppelt so viele ausländische Menschen in Deutschland wie 2015, und das Migrationsrecht ist noch mal komplexer geworden – doch die personellen Kapazitäten der Behörden sind nahezu gleich geblieben.
Dass sich die gesellschaftliche Stimmung verschlechtert hat und von der Willkommenskultur wenig übrig ist, hat viele Gründe. Es gibt zum Beispiel eine „Migrantisierung“ sozialer Fragen. Wenn Klassenzimmer überfüllt sind oder Wohnraum fehlt, wird schnell Migration als Ursache benannt. Dabei würde es auch ohne Migration an bezahlbarem Wohnraum fehlen – und das Bildungssystem wäre ebenso reformbedürftig.
„Die Angst vor der AfD vernebelt den Blick für pragmatische Ansätze. Restriktive Maßnahmen auf kommunaler und Bundesebene werden als ‚Rettung der Demokratie‘ legitimiert, von Leistungsbeschränkung bis zu Grenzschließungen.“
Im Zeitalter der Polykrise – Klimawandel, wirtschaftlicher Strukturwandel, Krieg in Europa – wirkt Migration wie ein Problem, das man zumindest scheinbar lösen kann. Und das wird politisch instrumentalisiert.
Früher spielte die parteipolitische Färbung von Bürgermeister:innen und Landrät:innen keine Rolle für die Ausrichtung und Qualität der Integrationspolitik. Das ändert sich nun. Die Angst vor der AfD vernebelt den Blick für pragmatische Ansätze. Restriktive Maßnahmen auf kommunaler und Bundesebene werden als „Rettung der Demokratie“ legitimiert, von Leistungsbeschränkung bis zu Grenzschließungen.
Manche aktuell diskutierten Vorschläge – etwa die laxere Auslegung von Menschenrechten oder die Abschaffung des Flüchtlingsschutzes – sind auf Dauer nur in einem autoritäreren Staat umsetzbar. Die Konsequenzen von Migrationspolitik treffen also nicht nur Geflüchtete, sondern uns alle. Natürlich können wir Migrationspolitik ändern, aber bitte mit offenen Augen für die Nebenwirkungen. 2035 wird man sich fragen: War Migration der Auslöser für eine autoritäre Wende – oder der Katalysator, unsere liberale Demokratie zu erneuern?