Deutschland hat eines der schwächsten Antidiskriminierungsgesetze in Europa. Ferda Ataman, Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, mit einem Appell, das endlich zu ändern.
Nicht diskriminiert zu werden ist ein Grundrecht in unserem Land. Und dieses Grundrecht ist gerade jetzt von großer Bedeutung. Denn wir leben in einer Zeit, in der rassistische und menschenfeindliche Narrative Land gewinnen: Für Menschen mit Migrationsgeschichte, queere Menschen, Menschen mit Behinderung, Jüd:innen, Muslim:innen und viele andere hat sich das Leben in den vergangenen Jahren verändert. Viele machen sich Sorgen um ihre Zukunft und um die Sicherheit ihrer Familien in Deutschland.
Unsere Demokratie braucht daher gerade jetzt einen funktionierenden Schutz vor Diskriminierung. Was viele aber nicht wissen: Deutschland leistet sich 2024 immer noch eines der schwächsten Antidiskriminierungsgesetze in Europa. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist 2006 in Kraft getreten. 2006: das war ein anderes Deutschland. Sei es die Bevölkerung, das Internet, soziale Medien, Künstliche Intelligenz, Mobilität, medizinische Versorgung, die Wirtschaft - kaum ein Bereich, der sich nicht stark gewandelt hat. 18 Jahre später ist das Gesetz aber kein einziges Mal inhaltlich reformiert worden.
2016 hat die Antidiskriminierungsstelle das Gesetz evaluiert und festgestellt: Das AGG ist schwach, lückenhaft und nicht zeitgemäß. Es schützt zu wenige Menschen, gilt in wichtigen Lebensbereichen nicht und stellt Menschen, die gegen Diskriminierung vorgehen wollen, vor zu hohe Hürden. Damit es gelingt, Menschen wirksam vor Diskriminierung zu schützen und ihr Grundrecht auf Gleichbehandlung und Würde durchzusetzen, muss das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz - wie im Koalitionsvertrag angekündigt - reformiert werden. Und zwar jetzt.
Der Schutz vor Diskriminierung greift nicht überall. Er gilt im Arbeitsrecht und bei so genannten Massengeschäften, also auf dem Wohnungsmarkt, beim Einkauf oder im Restaurant. Wenn der Kellner die Kundin rassistisch beleidigt, kann sie mit dem AGG dagegen vorgehen. Wenn ein Mitarbeiter beim Jobcenter das gleiche tut, geht das nicht: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist für die Privatwirtschaft bindend, aber nicht für den Staat selbst.
Der Staat sollte aber von Unternehmen nichts verlangen, was er an sich selbst nicht als Anspruch stellt. Er sollte beim Diskriminierungsschutz nicht nur mitmachen, sondern mit gutem Beispiel vorangehen. Sonst ist er unglaubwürdig und das kostet Vertrauen. Hinter Diskriminierung steckt nicht immer Absicht, manchmal passieren Ungleichbehandlungen ohne böse Hintergedanken. Ungerecht ist es trotzdem. Umso wichtiger ist es, dass es verbindliche Regeln gibt, an die sich alle halten müssen.
Nicht alles, was Menschen als ungerecht empfinden, ist rechtlich gesehen eine Diskriminierung. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet es, Menschen "aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität" (§1 AGG) zu benachteiligen. Anders ist es, wenn Menschen wegen ihres sozialen Status schlechter gestellt werden. In diesen Fällen greift das AGG nicht. Das zu ändern, wäre ein wichtiges Zeichen.
Im Thema Einwanderungsgesellschaft fokussiert sich die Robert Bosch Stiftung einerseits auf Kommunen als zentrale Orte, an denen Integration unter Beteiligung der (migrantisch geprägten) Zivilgesellschaft und der Wirtschaft positiv gestaltet werden kann. Ein zweiter Schwerpunkt liegt darauf, gesellschaftliche Teilhabe und Repräsentanz von Menschen mit Migrationsgeschichte zu verbessern. Wir regen Powersharing zwischen Institutionen und weniger etablierten Gruppen der migrantischen Zivilgesellschaft an und fördern das Empowerment der migrantisch geprägten Zivilgesellschaft.
Arme Menschen, Alleinerziehende, Obdachlose und andere werden bisher in der Politik kaum geachtet oder sogar weiter ausgegrenzt, wie sich in der Diskussion ums Bürgergeld gezeigt hat. Gerade jetzt, in Zeiten, in denen einige in der Politik Empfänger:innen von Sozialleistungen immer wieder pauschal als arbeitsunwillige Problemgruppe markieren und diffamieren. Populismus gegen Arme ist gerade hoch im Kurs. Das führt dazu, dass die Diskriminierung aufgrund des sozialen Status weiter zunimmt.
Schon jetzt zeigen Beratungsanfragen an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, dass viele Menschen unter den Auswirkungen leiden. Sie melden sich bei uns, weil sie in der Wohnungsanzeige lesen müssen, dass "Arbeitslose oder Menschen mit Jobcenter-Leistungen nicht berücksichtigt werden"; weil ihre Kontoführungsgebühren bei geringer werdendem Einkommen steigen, oder weil sie als Obdachlose im Supermarkt draußen bleiben müssen. Das ist Diskriminierung. Der soziale Status gehört deshalb als Diskriminierungsgrund ins AGG. Das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz zeigt bereits, dass das möglich ist.
Nicht nur Empfänger:innen von Sozialleistungen, sondern jede:r kann früher oder später von Diskriminierung betroffen sein. Dafür reicht es, älter zu werden oder aufgrund einer chronischen Krankheit auf Barrierefreiheit angewiesen zu sein oder schlichtweg, Kinder zu bekommen. Das belegt eine Studie der Antidiskriminierungsstelle, die die Diskriminierung von Eltern und pflegenden Angehörigen untersucht hat. Demnach haben während der Schwangerschaft über 70 Prozent der befragten Mütter mindestens eine diskriminierende Situation im Job erlebt. Auch wenn es darum geht, Elternzeit in Anspruch zu nehmen, wird diskriminiert. Hier geraten Väter stärker unter Druck als Mütter. Die Benachteiligung setzt sich beim Wiedereinstieg nach der Elternzeit fort.
Die Robert Bosch Stiftung unterstützt Vorhaben, die Ungleichheit systemisch abbauen und dabei Machtstrukturen sowie Mehrfachmarginalisierungen berücksichtigen. Für einen nachhaltigen Wandel müssen dafür insbesondere bisher benachteiligte Gruppen in die Entwicklung von Lösungsansätzen mit einbezogen werden.
Kein Wunder, dass unter diesen Umständen überkommene Rollenbilder hartnäckig fortleben und Familien das Leben schwer machen. Auch Menschen, die Angehörige pflegen, werden in der Arbeitswelt benachteiligt. Damit der Einsatz von Eltern und pflegenden Menschen nicht zum Burnout mit anschließendem Karriereknick führt, muss familiäre Fürsorgeverantwortung ebenfalls als Diskriminierungsmerkmal in das AGG aufgenommen werden.
Die Menschen, die sich bei uns in der Antidiskriminierungsstelle des Bundes melden, nehmen unsere Demokratie ernst. Sie wissen, dass Diskriminierung verboten ist und wollen sich wehren. Aber selbst unter ihnen trauen sich nur die Wenigsten, ihr Recht vor Gericht einzufordern. Denn das braucht Zeit, kostet Geld und Nerven. Damit Menschen nicht alleine dastehen, sollte mit einer AGG-Reform ein Verbandsklagerecht eingeführt werden. So könnten anerkannte Antidiskriminierungsverbände Menschen zur Seite stehen und bei Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot für Betroffene klagen.
Das Verbandsklagerecht einzuführen, hat außerdem Signalwirkung. Es mahnt dazu, Gesetze ernst zu nehmen. In verschiedenen anderen Bereichen hat sich das bereits bestätigt. Beim Verbraucherschutz hat das Verbandsklagerecht dazu geführt, dass Gesetze konsequenter eingehalten werden. Ein Erfolg, an den das AGG anknüpfen sollte.
Im August wird das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz 18 Jahre alt. Ein gutes Datum, um es aus den Kinderschuhen zu befreien und zu einem zeitgemäßen und wirkungsvollen Diskriminierungsschutz auszubauen. Die Reformvorschläge liegen auf dem Tisch. Die Bundesregierung muss jetzt anpacken, Verantwortung übernehmen und die versprochene AGG-Reform umsetzen. Ein starker Antidiskriminierungsschutz hat Priorität. Es ist kein Charity-Projekt, sondern eine notwendige Investition in unseren Grundrechtsschutz. Diskriminierungsschutz stärken bedeutet konkret, unsere Demokratie gegen den Rechtsruck zu stärken.