Gut versorgt vor Ort
Im Herbst 2019 öffnete in der Gemeinde Hohenstein auf der Schwäbischen Alb ein neu errichtetes PORT-Gesundheitszentrum. Grundlage des Zentrums ist ein innovatives Konzept für eine bessere Grundversorgung in der Region aus einer Hand. Wie das funktionieren kann, zeigt ein Besuch vor Ort im Frühjahr 2020.
Bestimmt drei Dutzend Schafe blicken den Besucher:innen des PORT Gesundheitszentrums Schwäbische Alb Hohenstein an diesem Mittwochabend im März entgegen. Ein Beamer wirft die grasenden Tiere auf die Leinwand im Foyer. Sie sind das Startbild für den heutigen Vortrag: „Schluss mit Schäfchenzählen – endlich wieder gut schlafen!“.
Bis zur Corona-Pandemie fanden hier zwischen verglasten Wartezimmern, Kübeln mit Grünpflanzen und einer offenen Küche Vorträge und Kurse zur Gesundheitsförderung und Prävention statt. Etwa 80 Besucher:innen kamen im Schnitt zu Themen wie Diabetes, Meditation und Kinder-Notfälle. Zurzeit versorgt das Gesundheitszentrum die Hohensteiner mit gesundheitsrelevanten Informationen über die Website, mit Beiträgen im Amtsblatt und – wie bereits zuvor – auf Nachfrage per Telefon und E-Mail.
Gesundheitsversorgung durch PORT
Für die 3.700 Einwohner:innen der Gemeinde Hohenstein ist es nicht einfach, sich vor Ort gut versorgen zu können – auch gesundheitlich. Die fünf Ortsteile liegen verstreut zwischen sanft gewellten Feldern, Weiden und Heidelandschaften mitten auf der Hochebene der Schwäbischen Alb. Zur Landkreisstadt Reutlingen dauert die Fahrt eine gute halbe Stunde auf engen Serpentinenstraßen die Alb hinunter. Wenn man ein Auto hat. Einen Bahnhof gibt es in Hohenstein nicht, Busverbindungen sind spärlich.
Seit September 2019 steht den Hohensteinern für ihre Grund- und Primärversorgung eines von insgesamt vier PORT-Gesundheitszentren in Deutschland zur Verfügung – unter anderem mit einer Allgemeinmedizinerin und Diabetologin, einem Kinder- und Jugendarzt, einer Physiotherapiepraxis, einer Gesundheitslotsin, Präventionsangeboten, einer Hebammenpraxis und einem Pflegestützpunkt. Hinzu kommen konsiliarärztliche Sprechstunden, an denen zu festgelegten Zeiten ärztliche Fachkräfte für Psychiatrie oder Fachkräfte zur Frühförderung von Kindern vor Ort sind.
„Wir haben uns in Hohenstein gut um- und zugehört, um den Menschen ein passendes Angebot machen zu können“, erklärt Gernot Bohnenberger vom Kreisgesundheitsamt.
PORT steht für „Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung“ und ist ein Programm, mit dem die Robert Bosch Stiftung seit 2017 bundesweit vier beispielhafte Initiativen für eine bessere Gesundheitsversorgung mit jeweils bis zu 500.000 Euro fördert. Zentrales Ziel ist die Entwicklung und der Aufbau innovativer und exzellenter Gesundheitszentren, die für die Region eine umfassende Grund- und Primärversorgung aus einer Hand sicherstellen und eine bessere Behandlung und Betreuung vor allem chronisch Kranker ermöglichen.
Ein voller Veranstaltungskalender
Auch das PORT-Gesundheitszentrum Hohenstein bietet mehr als eine Praxis. Am Eingang des modernen Flachbaus in mattgrau und weiß zeigen Tafeln an, wer hier wann praktiziert. Davor erstreckt sich ein großzügiger Parkplatz inklusive Ladestationen für Elektroautos. Auch kurz vor Beginn des heutigen Vortrags sind noch ein paar Lücken zu finden. „Die bieten hier ganz tolle Veranstaltungen rund um das Thema Gesundheit an“, findet Sonja Fingernagel. Die Hohensteinerin zeigt auf das Plakat im Eingangsflur, auf dem alle Angebote zur Gesundheitsförderung und Prävention aufgelistet sind. Meditation und Yoga, Achtsamkeits- und Atemtraining, Backkurs mit den Landfrauen, Notfälle im Kindesalter und ein Themenabend Diabetes sind darunter.
Derzeit finden aufgrund der Beschränkungen wegen des Coronavirus weder Workshops noch Veranstaltungen statt. Nur die Geburtsvorbereitungskurse und die Rückbildungsgymnastik werden mit viel Abstand zwischen den Teilnehmenden abends im Foyer abgehalten. Sobald es die Bedingungen zulassen, soll das umfangreiche Programm wieder starten. „Wir haben uns in Hohenstein gut um- und zugehört, um den Menschen hier ein passendes Angebot machen zu können“, erklärt Gernot Bohnenberger vom Kreisgesundheitsamt. Er kümmert sich um Gesundheitsförderung und Prävention als Bestandteil des PORT-Konzepts. Es sei ein immens wichtiger Bestandteil des ganzen Gesundheitszentrums, auf die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung einzugehen. So gab es im Vorfeld viele Umfragen. Aktuell bestehen regionale Netzwerke mit Kindergärtner:innen und vielen Engagierten und Professionellen zum Thema Alter. Wichtigstes unterstützendes Netzwerk sei der Arbeitskreis „Gesunde Gemeinde“, den Bohnenberger als Ohr zur Gemeinde und zugleich zuständig für die Gesundheitsförderung beschreibt.
Das PORT-Zentrum bündelt eine Vielzahl an Angeboten, die sich untereinander und mit dem ärztlichen Fachpersonal abstimmen: Aleksandar Matkovic bei der Behandlung in seiner Praxis für Physiotherapie.
„Gerade hier auf dem Land ist so ein Zentrum mit Ärzten, Physiotherapie und sogar einer sozialen Anlaufstelle wirklich wertvoll“, meint Sonja Fingernagel nach dem Vortrag über guten Schlaf, den sie mit zwei Freundinnen aus der Umgebung besucht hat. Aber noch sei das Zentrum wenig bekannt. Viele wüssten nicht, dass hier so viel angeboten werde. Auch mit der Rolle der Gesundheits- und Patientenlotsin, einer weiteren Besonderheit des PORT-Gesundheitszentrums, sind die drei Frauen nicht vertraut.
Die Gesundheitslotsin
Wer zum ersten Mal in das Gesundheitszentrum Hohenstein kommt, steuert meist auf den Holztresen vor einer kleinen Nische im Eingangsflur zu. Zwischen Pflanzentöpfen, einem großen Bildschirm und einigen Info-Broschüren sitzt Elisabeth Reyhing. Als Gesundheitslotsin ist sie ein Eckstein im Hohensteiner PORT-Konzept und Ansprechpartnerin sowohl für Patienten als auch Gesunde. „Viele Besucher denken zunächst, sie müssten sich bei mir für die einzelnen Praxen und Angebote anmelden“, sagt die gelernte Krankenschwester.
Wenn sie erkläre, dass sie eine kostenlose Anlaufstelle für Fragen und Informationen rund um das Thema Gesundheit sei und bei Bedarf auch gerne als Vermittlerin fungiere, ernte sie zunächst oft skeptische Blicke. Aber dann kämen sie doch, die Fragen. Wie zum Beispiel nach orthopädischen Einlagen, Förderungsmöglichkeiten für die Kinder oder nach Unterstützung in der Pflege. Dabei frage sie auch selbst häufig nach: Wie war die Behandlung, gibt es Fortschritte, was kommt als nächstes? „In den Gesprächen kann ich viel heraushören. Oft habe ich ein Gespür dafür, was Leute eigentlich sagen möchten – ohne es zu sagen.“ Elisabeth Reyhing gibt ein Beispiel: Eine Besucherin erkundigte sich nach einem Angebot zur Ernährungsberatung. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Frau bereits seit Jahren ihren deutlich älteren Mann pflegt und damit eigentlich überfordert ist. Die Gesundheitslotsin holte die Mitarbeiterin vom Pflegestützpunkt des Gesundheitszentrums hinzu, die erklärte, welche Unterstützung ihr zustehe und dass sie diese organisieren könne.
PORT steht für...
„Patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung“ und ist ein Programm, mit dem die Robert Bosch Stiftung seit 2017 bundesweit vier beispielhafte Initiativen für eine bessere Gesundheitsversorgung fördert.
Wegen der Corona-Pandemie findet die Beratung zurzeit vor allem telefonisch statt. Zudem informiert Reyhing die Hohensteiner regelmäßig über ihr Angebot auf der Website des Gesundheitszentrums und im Amtsblatt. „Wenn jemand persönlich mit mir reden möchten, gehen wir spazieren.“ Um möglichst vielen Menschen helfen zu können, nutzt die Lotsin ihre Netzwerke. Sie redet mit Lehrkräften und Erzieher:innen, mit Pflegediensten und Ärzt:innen. Hier holt sie sich Informationen und macht zugleich auf ihre Arbeit aufmerksam.
Die Fallkonferenzen
Ein weiterer Vorteil des Gesundheitszentrums zeigt sich in der interdisziplinären Zusammenarbeit der vertretenen Gesundheits- und Sozialberufe, ein zentraler PORT-Konzeptansatz. Dazu hat die Geschäftsstelle der Kommunalen Gesundheitskonferenz das Instrument der Fallkonferenz entwickelt und eingeführt, bei der etwa alle 14 Tage abends im Foyer ein Fall vorgestellt wird. Dabei steht die zu behandelnde Person im Mittelpunkt und schildert selbst ihre Probleme, stellt Fragen und formuliert den Unterstützungsbedarf. Anschließend äußert jede:r aus dem Team des Gesundheitszentrums seine fachliche Einschätzung. Dazu gehören die Allgemeinmedizinerin, der Kinderarzt, der Physiotherapeut, die Gesundheitslotsin, die Mitarbeiterin des Pflegestützpunktes und der Arzt des Kreisgesundheitsamtes. Die erkrankte Person bleibt die ganze Zeit dabei, hört sich alles an und kann das mitnehmen, was ihr ihrer Meinung nach helfen kann. „Der Vorteil für den Patienten sind natürlich die vielen Perspektiven, die wir einbringen und die so vielleicht noch nicht beachtet wurden“, sagt Gernot Bohnenberger, der auch Arzt für Naturheilverfahren ist. „Mir geht es bei den Fallkonferenzen ganz besonders auch um das persönliche Umfeld der Lebenssituation: Was beeinflusst eventuell von dieser Seite den Fall“.
Für das Team sind diese Konferenzen eine Möglichkeit, sich interdisziplinär auf Augenhöhe auszutauschen, voneinander zu lernen – und der zu behandelnden Person mit neuen Anstößen und Ideen umfassend und multiprofessionell zu helfen.
Barbara Steiner, PORT-Koordinatorin in Hohenstein: „So langsam nehmen immer mehr Hohensteiner das Haus als Gemeinschaftsort wahr, an dem ihnen in vielerlei Hinsicht geholfen werden kann.“
Wünsche für die Zukunft
Das PORT-Gesundheitszentrum in Hohenstein wird gut angenommen, aber es gibt Luft nach oben. „Bislang sind es vor allem die chronisch Kranken, die häufiger und regelmäßig in unser neues Gesundheitszentrum kommen“, sagt Barbara Steiner, PORT-Koordinatorin in Hohenstein. „Aber so langsam nehmen immer mehr Hohensteiner das Haus als Gemeinschaftsort wahr, an dem ihnen in vielerlei Hinsicht geholfen werden kann.“ Nun müsse man weiter planen und zum Beispiel E-Health vorantreiben, sagt Steiner, die sich als Professorin für Sozialwissenschaften viel mit dem Thema beschäftigt hat. Sie denke da an eine digitale Plattform mit einem gemeinsamen Terminplan und Fall-Dokumenten.
Auch aus der Bevölkerung gibt es weitere Wünsche an das Gesundheitszentrum. Eine Praxis für Ergotherapie steht ganz oben auf der Liste sowie eine bessere Erreichbarkeit, zum Beispiel mit einem Taxi für Patient:innen, weiß Beatrice Vermeij-Böhm von der Gemeinde Hohenstein. Als Bindeglied zwischen Gemeinde und Gesundheitszentrum sammelt sie Informationen, leitet sie an die richtigen Stellen weiter und pflegt die Netzwerke. Diese Aufgabe, die eher im Hintergrund abläuft, ist für den Erfolg, die Einbindung in die Gemeinde und damit auch die Akzeptanz hilfreich, erklärt die Diplompädagogin.
Wichtig sei, sich weiterhin gut umzuhören, die Netzwerke zu nutzen und vorhandene Angebote einzubeziehen, um keine Doppelstrukturen aufzubauen. „Wir möchten keine Schnellschüsse starten, sondern sehen die weitere Entwicklung als einen Prozess, der wohl überlegt sein muss, damit das hinterher auch richtig funktioniert und angenommen wird.“ Das Gesundheitszentrum sei bereits auf dem richtigen Weg, von den Menschen in Hohenstein als innovatives Angebot für eine umfassende wohnortnahe Versorgung aus einer Hand wahrgenommen zu werden, das der Gesundheit wie auch der Lebensqualität diene und sich zu einem Treffpunkt der Gemeinde entwickele.