Meinungsbeitrag
Lernen wir endlich, lokale Akteure ernst zu nehmen!
Herkömmliche Konfliktlösung und Friedensförderung funktionieren nicht, sagt Dr. Stella Voutta. Afghanistan ist ein Beweis dafür, andere leider in Sicht. Die Welt muss mehr auf lokale Lösungen und Verantwortung vertrauen. Plädoyer für eine Neuausrichtung internationaler Friedensförderung.
Der diesjährige Weltfriedenstag erlaubt nur eine nüchterne Bilanz: Seit 2010 hat sich laut Konfliktbarometer des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung die Anzahl an gewaltsamen Krisen von 139 auf 180 um fast ein Drittel erhöht. Die tragischen Ereignisse der letzten Monate in Afghanistan sind nur das letzte Beispiel dafür, dass das bestehende System der Konfliktlösung und Friedensförderung der internationalen Gemeinschaft nicht funktioniert.
Wenn sich nichts ändert, könnten nach Angabe der Weltbank bis 2030 bis zu zwei Drittel der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung von bewaffneten Konflikten, fragiler Staatlichkeit und Gewalt betroffen sein. Konflikte verursachen circa 80 Prozent des Bedarfs an humanitärer Hilfe, auf die derzeit bereits 235 Millionen Menschen hoffen müssen. Eine 2020 veröffentlichte Studie des norwegischen Peace Research Institute Oslo kam zu dem Schluss, dass fast die Hälfte aller Konflikte zwischen 1989 und 2018 auch nach einem Friedensschluss wieder aufflammten.
Fast die Hälfte aller Konflikte flammt wieder auf
Genau das könnte auch auf Afghanistan zukommen. Die westliche Gemeinschaft muss noch im Einzelnen aufarbeiten, warum ihr Engagement im Land – oder zumindest der Versuch, einen Beitrag zu Staatsaufbau oder gar „nation building“ zu leisten – nach zwanzig Jahren als gescheitert bewertet werden muss. Aber bereits heute scheint klar: Die mangelnde Anpassung ihrer Maßnahmen an die Bedürfnisse vor Ort und die fehlende Einbindung lokaler Akteure waren große Versäumnisse.
Deutlich wurde dies lange vor dem eiligen Abzug westlicher Soldaten im Sommer. Ausschließlich US-Regierung und Taliban hatten an den Friedensverhandlungen teilgenommen, die im Februar 2020 zum Doha-Abkommen führten. Nicht einmal die damalige afghanische Regierung war an den Gesprächen beteiligt gewesen. Die Chance wurde verpasst, einen auch darüber hinaus inklusiven – und damit gesamtgesellschaftlichen, multiperspektivischen – Friedens- und Dialogprozesses anzustoßen. Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund die vor Ort zahlreichen zivilgesellschaftlichen Projekte der Friedensförderung keine gesamtgesellschaftliche Wirkung erzielen konnten – auch wenn viele entschieden einen inklusiven und lokal geführten Ansatz verfolgten. „Positiver Frieden“, ein Zustand, der nicht nur die Abwesenheit von physischer beziehungsweise personaler, sondern auch struktureller Gewalt wie beispielsweise verschiedene Formen der Diskriminierung umfasst, kann nur erreicht werden, wenn alle gesellschaftlichen Ebenen daran teilhaben – also auch die maßgeblichen Regierungen.
Auf Bedürfnissen der lokalen Akteure aufbauen
In der Tat weiß die internationale Gemeinschaft schon länger, dass erfolgreiche Konfliktbearbeitung und Friedensförderung inklusiv gestaltet und auf konkreten Bedürfnissen der lokalen Akteure aufbauen müssen, um nachhaltig zu wirken. Zum Beispiel beschlossen die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen 2016 die „Sustaining Peace“-Agenda. Sie forderten ein Umdenken in der UN-Friedensstrategie durch einen Fokus auf die langfristige Stabilisierung von Frieden, statt auf die kurzfristige Beilegung von bewaffneten Konflikten.
Doch muss festgestellt werden, dass nicht nur in Afghanistan diesen Worten bisher zu wenig Taten folgten. Vor fünf Jahren schlossen die 15 größten Geberländer und 15 große Hilfsorganisationen mit dem „Grand Bargain“ eine Übereinkunft: unter anderem sollten 25 Prozent der Mittel für die humanitäre Nothilfe so direkt wie möglich an nationale und lokale Hilfsorganisationen fließen. Tatsächlich gingen 2019 aber nur 2,1 Prozent dieser Mittel ohne Umwege an solche wichtigen Akteure vor Ort.
Grand Bargain – den Worten folgten zu wenig Taten
Zwar gibt die Tatsache, dass lokale Friedensakteure ihren Aktivitäten in Afghanistan aller Umstände zum Trotz weiter nachgehen, zumindest etwas Anlass zur Hoffnung für das Land. Alles in allem ist die Tragödie von Afghanistan aber eine Warnung: Wenn die westliche Gemeinschaft ihre Friedens- und Konfliktarbeit nicht konsequent neu justiert, könnte es bald weitere Desaster geben. Im westafrikanischen Mali, wo die Bundeswehr an der UN-Mission MINUSMA und der Europäischen Trainingsmission EUTM beteiligt ist, muss sich der Westen kritische Fragen gefallen lassen: Wie wirksam ist die Intervention, wenn die Region statt sinkender Zahlen jedes Jahr neue Höchststände an Gewaltopfern verzeichnen muss?
Es gibt viele Akteure in der Region, die die militärischen, stark auf Terrorismusbekämpfung fokussierenden Ansätze der internationalen Missionen sowie ihrer Partner, die nationalen Regierungen infrage stellen. Sie fordern stattdessen die Stärkung der menschlichen Sicherheit durch Friedensförderung und Konfliktbearbeitung. Ein Beispiel ist die „People‘s Coalition for the Sahel“, ein Netzwerk lokaler zivilgesellschaftlicher Organisationen. Unter der Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse will es unter anderem für die steigende Anzahl ziviler Gewaltopfer, die eklatanten Defizite der Regierungsführung und das mangelnde Vertrauen in die Staatlichkeit nachhaltige Lösungen finden.
Eine Chance für Mali: „People‘s Coalition for the Sahel“
Akteure, die selbst von dem Konflikt betroffen sind und die treibenden Kräfte daher aus nächster Nähe kennen, müssen noch viel stärker einbezogen werden, wenn es um die Ausgestaltung der internationalen Friedensförderung vor Ort geht. Für Mali, ebenso wie für die angrenzenden Länder Niger und Burkina Faso, hat die „People’s Coalition“ nicht nur die vier drängendsten Herausforderungen aus lokaler Perspektive definiert. Sie hat auch Ansätze für deren dauerhafte Lösung und Indikatoren vorgeschlagen, anhand derer die Zielerreichung gemessen werden kann.
Im Gegensatz zu Afghanistan besteht in Mali noch die Gelegenheit, während der Anwesenheit der internationalen Truppen einen gesamtgesellschaftlichen Prozess zu unterstützen. Vorschläge wie die der „People‘s Coalition“ beruhen auf lokaler „ownership“ und haben daher die Chance, auch nach einem Abzug von lokaler Regierung und Bevölkerung getragen zu werden.
Mut, die Kontrolle noch stärker abzugeben
Lokale Konflikttransformation und Friedensförderung voran zu treiben ist nicht leicht. Die internationale Gemeinschaft braucht bei jedem Konflikt Zeit, um den Kontext zu verstehen, geeignete Partner vor Ort zu finden und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Auch benötigt sie den Mut, die Kontrolle noch stärker abzugeben. Dies scheitert weiterhin an institutionellen Hürden und durchaus auch an paternalistischen und (neo-)kolonialistischen Weltbildern in den Köpfen vieler Entscheider. Das Beispiel Afghanistan zeigt aber, dass Europa, die USA und andere Staaten diese Mühen nicht scheuen dürfen. Nur durch ein konsequentes Umdenken in Richtung lokaler Ansätze wird es gelingen, zu künftigen Weltfriedenstagen eine optimistischere Bilanz über den weltweiten Frieden ziehen zu können.
Zur Person
Dr. Stella Voutta ist Teamleiterin Frieden der Robert Bosch Stiftung. Die Stiftung leistet einen Beitrag zur nachhaltigen Friedensförderung, indem sie lokale Ansätze in ausgewählten Regionen und in der globalen Friedenszusammenarbeit unterstützt.