Rund eine Million Menschen flüchteten 2022 vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland – und stellen Landkreise in Sachen Integration vor neue Herausforderungen. Das Programm „Land.Zuhause.Zukunft“ entwickelt schon seit 2018 Lösungsansätze, um Zugewanderte vor Ort erfolgreich in die Gesellschaft einzubinden und stellt sich die Frage: Wie kann Integration in ländlichen Räumen langfristig für alle Zugewanderten gelingen?
„Der Krieg in der Ukraine hat unsere Strukturen im vergangenen Jahr an ihre Grenzen gebracht“, sagt Julius Fogelstaller. Er ist Integrationsbeauftragter im Landkreis Dachau und kümmert sich um die nachhaltige Einbindung von neuzugewanderten Menschen in die Gesellschaft vor Ort. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wirkt sich spürbar auf seine Arbeit aus: Rund eine Million Kriegsflüchtlinge suchten laut Bundesinnenministerium 2022 in Deutschland Schutz vor der russischen Invasion – eine humanitäre Katastrophe, die in ihrer Konsequenz Städte und Landkreise vor neue Herausforderungen stellt. Geflüchtete stehen nun nicht nur vor einem Neuanfang, sondern auch vor der Aufgabe, dort Fuß zu fassen, wo Strukturen bereits ausgelastet sind. Zwar schaffen Kommunen und Landkreise mit Notfallversorgungen, Online-Sprechstunden und anderweitigen Hilfsangeboten vielerorts ein umfangreiches Angebot, um die Kriegsflüchtlinge zu unterstützen, doch gleichzeitig geraten die Verwaltungen immer stärker an ihre Grenzen.
„Mit einem Mal haben sehr viele Menschen auf unsere Integrationsangebote vor Ort zugegriffen. Hierauf mussten wir erst einmal reagieren.“
Diese Herausforderung kennt auch Claudia Neuner-Dietsch, Integrationslotsin im Landkreis Weilheim-Schongau. Von den rund 3.700 Geflüchteten, die hier leben, kommen 1.290 aus der Ukraine. „Das ist eine große Zahl – und es wurden sehr viele Ressourcen darauf ausgerichtet, die richtigen Strukturen für diese Menschen zu schaffen“, sagt Neuner-Dietsch. Von einem Tag auf den anderen mussten Kapazitäten und Unterbringungsmöglichkeiten gefunden werden, um die verhältnismäßig vielen Geflüchteten im bayerischen Landkreis unterzubringen.
Die Fluchtbewegung 2022 stellt Landkreise in ganz Deutschland vor eine massive Aufgabe – und wirft gleichzeitig ein Licht auf strukturelle Defizite. Denn nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine stellt die Integrationsarbeit die Landkreise vor vielschichtige Herausforderungen. Der Grund: Integration ist in Deutschland keine Pflichtaufgabe, wodurch uneinheitliche Finanzierungskonzepte, befristete Arbeitsstellen und fehlende übergeordnete Strukturen den Arbeitsalltag vieler Mitarbeiter:innen prägen.
„Integrationsarbeit ist bundesweit ein Flickenteppich und hängt oft von einzelnen Personen in der Verwaltung ab.“
„Bei uns im Landkreis gibt es zwar ein tolles Integrationskonzept, das gut umgesetzt wird“, führt Bias-Putzier aus. „Aber das sieht nicht überall so aus. Wir wünschen uns übergreifend verlässliche Strukturen und Rahmenbedingungen, damit die Integration unserer Mitmenschen nicht von einzelnen Köpfen abhängig ist.“
Wie kann man die Integration in ländlichen Räumen verbessern? Welche innovativen Ansätze gibt es vor Ort bereits – und wie kann man sie gemeinsam umsetzen? An diesen Punkten setzt das Programm „Land.Zukunft.Zuhause“ der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit der Universität Hildesheim an, das seit 2018 Lösungsansätze entwickelt, um neuzugewanderte Menschen aktiv in die Gesellschaften vor Ort einzubinden. Gemeinsam mit den teilnehmenden Landkreisen geht das Programm die Herausforderungen der Integrationsarbeit an. Durch die Fluchtbewegung aus der Ukraine treten die Herausforderungen dieses Engagements noch deutlicher hervor.
Spezielle Angebote, die ausschließlich für Zugewanderte aus der Ukraine zugänglich sind, sieht man im Landkreis Weilheim-Schongau langfristig kritisch. „Wir spüren hier eine große Hilfsbereitschaft für die Geflüchteten aus der Ukraine“, beschreibt Claudia Neuner-Dietsch die Reaktion der Menschen im Landkreis. „Aber es ist auch so, dass unsere anderen Geflüchteten sich ein bisschen in den Schatten gestellt fühlen. Das war nie unser Ziel und soll so auf lange Sicht auch nicht so bleiben. Deshalb haben wir uns im Rahmen des Programms „Land.Zuhause.Zukunft“ ganz bewusst dafür entschieden, unser Angebot für alle Zugewanderten auszuarbeiten und nicht nur für eine bestimmte Gruppe.“ Einen Fokus legte man in der ersten Konzeptionsphase im Mai 2020 auf Frauen und Familien – Personengruppen, die sich in allen Zuwanderungskohorten finden und darum übergreifend relevant sind.
Weilheim-Schongau war mit neun anderen Landkreisen Teil der ersten Programmphase von „Land.Zuhause.Zukunft“ und arbeitet bereits seit 2020 daran, seine Integrationsarbeit in diesem Rahmen auszubauen. Eine der zentralen Stellschrauben liegt für die Beteiligten dabei in der Vernetzung der Menschen vor Ort – und das schon während der Ausarbeitung.
„Uns ist es wichtig, gemeinsam mit den Zugewanderten Angebote zu entwickeln, die dann auch wirklich genutzt werden. Wir wollen Integration auf Augenhöhe – und mit unserer Zielgruppe“, sagt Ingeborg Bias-Putzier. Dieser Ansatz basiert auch auf strukturellen Herausforderungen, die der Landkreis für eine erfolgreiche Integrationsarbeit mit sich bringt: Weilheim-Schongau ist ein christlich geprägter ländlicher Raum, der aufgrund seiner hohen Anzahl an Kirchen und Klöstern auch „Pfaffenwinkel“ genannt wird. Wirtschaftlich wird er vom Handwerk und der Landwirtschaft, von kleineren Betrieben und einer eher konservativ ausgerichteten Gesellschaft geprägt.
2020 – zu Beginn des Projekts – gab es hier noch große Berührungsängste zwischen Einheimischen und Zugewanderten. „Das lag auch daran, dass es kaum Begegnungsangebote gab und man sich einfach fremd war“, erinnert sich Bias-Putzier. Gemeinsam mit ihrem Team wollte sie Möglichkeiten und Räume schaffen, in denen Menschen mit Migrationsgeschichte mit Einheimischen in den Austausch treten konnten.
Heute ist aus diesem Engagement die App „conWIR“ entstanden – eine Online-Plattform, die Einheimische und Zugewanderte dabei unterstützen soll, gemeinsame Aktivitäten zu veranstalten und sich so näher zu kommen. „Man kann hier selbst Veranstaltungen erstellen oder an Veranstaltungen teilnehmen“, erklärt Claudia Neuner-Dietsch. In verschiedenen Kategorien, wie zum Beispiel Freizeit, Gesundheit oder Bildung, können Menschen Angebote planen und einander zu verschiedenen Veranstaltungen einladen – vom gemeinsamen Grillfest bis zum Sprachkurs für Zugewanderte. Die Begegnungsapp wurde von Anfang an mit migrantischen Frauen entwickelt und dabei ganz nach deren Bedürfnissen gestaltet. Für die Beteiligten ist dieses Vorgehen ein Erfolgsgarant: „Wir sind sehr optimistisch, dass die App gut angenommen wird, weil sie ein Produkt von Menschen für Menschen ist und sie die Inhalte selbst mitkonzipiert haben“, so Neuner-Dietsch.
Die digitale Aufmachung des Angebots entstand während der Corona-Pandemie. „Wir sind damals selbst in den digitalen Raum katapultiert worden und mussten uns zurechtfinden“, erklärt Neuner-Dietsch. „Nach einer Weile haben wir dann aber gemerkt, dass wir auch in unserem Angebot gerne digital bleiben wollen – hier liegt schließlich die Zukunft und wir möchten dafür eintreten, die Digitalisierung in ländlichen Räumen voranzutreiben.“
Der Landkreis Dachau ist von einem deutlich angespannten Wohnungsmarkt betroffen, der es Zugezogenen schwer macht, langfristig angemessenen Wohnraum zu finden. Diese Herausforderung geht der Landkreis seit Mai 2023 mit dem Programm „Land.Zuhause.Zukunft“ an.
Während in Weilheim-Schongau ein guter Teil des Weges bereits zurückgelegt ist und die Begegnungsapp öffentlich zugänglich ist, macht der Landkreis Dachau sich gerade daran, gemeinsam mit dem Programm „Land.Zuhause.Zukunft“ einen Ansatz zu entwickeln, der die Integrationsarbeit vor Ort zukünftig verbessern soll. Dafür setzt das Team rund um Julius Fogelstaller an einem Grundbedürfnis der Menschen an: dem eigenen Wohnraum. „Eine unserer Herausforderungen ist, dass wir die Menschen angemessen unterbringen müssen“, sagt Fogelstaller. „Wohnraum, der gut integriert ist und genügend Platz bietet, ist enorm wichtig, um Bekanntschaften zu machen, sich sicher und aufgehoben zu fühlen oder um Leute einzuladen.“
Doch genau dieser ist im Landkreis aktuell Mangelware: Rund 1.500 Wohnungen fehlen hier für Menschen, die einen erschwerten Zugang zu Wohnraum haben. Die Wartelisten für Sozialwohnungen sind lang, die Wartezeit liegt vor Ort aktuell bei ungefähr sieben Jahren. Dafür macht Fogelstaller auch die Nähe zur Großstadt verantwortlich: „Wir befinden uns im Großraum München. Hier ist der Wohnungsmarkt selbst für Normalverdienende massiv angespannt. Dadurch sind die Hürden für eingewanderte Menschen noch einmal höher“, sagt er.
Mit dem Programm „Land.Zuhause.Zukunft“ will er diese Herausforderung nun angehen – zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg in der Ukraine die Anspannung auf dem Wohnungsmarkt noch einmal erhöht hat. Aber: „Es haben sich viele Menschen an uns gewandt, die Geflüchtete bei sich zu Hause aufnehmen wollten“, so Fogelstaller. „Gleichzeitig kamen viele Fragen auf, etwa: Welche Voraussetzungen muss ich erfüllen? Welche staatlichen Unterstützungsangebote gibt es?“
Das Ziel des Integrationsangebots, das im Rahmen von „Land.Zuhause.Zukunft“ geschaffen werden soll, liegt demnach vor allem in der Vernetzung vor Ort. Denn mit zahlreichen Organisationen, die Geflüchtete bei der Job- und Wohnungssuche unterstützen, verfügt der Landkreis zwar über ein dichtes Netz an Akteur:innen, die sich bereits mit dem Thema auseinandersetzen. Doch oft fehlt es an der nötigen Verknüpfung. „Unser erster Schritt: Alle Akteur:innen sollen voneinander erfahren. Im zweiten Schritt wollen wir dann Angebote entwickeln, damit Zugewanderten der Zugang zum Wohnungsmarkt erleichtert wird“, erklärt Fogelstaller den Ansatz des Landkreises.
Künftig sollen feste Ansprechpartner das Matching zwischen Wohnungssuchenden und Vermietenden übernehmen – eine Nachhaltigkeit, die in der Praxis bisher allerdings nur schwierig umzusetzen ist. Denn befristete Arbeitsstellen und unsichere Förderungen erschweren eine langfristige Planung. Diese Herausforderungen auch gemeinsam mit anderen Landkreisen anzugehen und zu reflektieren, ist für Fogelstaller ein Meilenstein in Sachen Integrationsarbeit. Wie wertvoll diese gemeinsame Herangehensweise ist, hat er beispielsweise im Forum „Integration in ländlichen Räumen“ gemerkt. Hier tauschen sich Vertreter:innen der Landkreise seit 2021 langfristig über Konzepte und Strategien kommunaler Integrationsarbeit aus.
Für die Zukunft hat Fogelstaller konkrete Wünsche in Richtung Politik: „Wir wünschen uns eine unbefristete Finanzierung. Das Thema Integration und Zuwanderung wird nicht in zwei Jahren verschwinden, sondern für immer eine Herausforderung bleiben. Und gute Integrationsarbeit trägt dazu bei, dass ein guter gesellschaftlicher Zusammenhalt vor Ort entsteht“, sagt er.