Vor einem Jahr begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. In der Folge suchten Millionen ukrainischer Geflüchteter Schutz in Europa, viele von ihnen in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Ferdinand Mirbach, Senior Expert der Robert Bosch Stiftung, spricht mit politischen Entscheidungsträgerinnen aus Estland und der Tschechischen Republik über Herausforderungen, Erfolge und die aktuelle Situation.
Ferdinand Mirbach: Am 24. Februar 2022 begann Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine. Der Konflikt lag seit Wochen in der Luft, dennoch war der Lauf der Ereignisse schwer vorhersehbar. Wie stellte sich für Sie die Situation im Februar 2022 dar und wie gut waren Sie auf das Kommende vorbereitet?
Pavla Novotná: Im tschechischen Innenministerium sprachen wir bereits einige Wochen vor dem 24. Februar über viele mögliche Szenarien und Krisendokumentationen. Aber ich muss zugeben, dass wir nicht erwartet hatten, was dann tatsächlich passierte – sowohl was die Geschwindigkeit der Ereignisse als auch die Zahl der Flüchtlinge angeht. Im Februar 2022 erreichten im Durchschnitt 20.000 Menschen pro Tag unser Land. Innerhalb eines Monats kamen 265.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge, das entsprach fast drei Prozent der Bevölkerung der Tschechischen Republik. Auch wenn wir vorausschauend geplant haben – die Realität hat unsere Planungen bei Weitem übertroffen.
Anne-Ly Reimaa: Auch Estland hat sich auf die Situation vorbereitet. Bereits Ende 2021 haben wir Krisenpläne entwickelt und unsere Partner:innen und Journalist:innen über die aktuelle Situation informiert, da damals sehr viele Fake News in den Medien waren. Vier Tage nach Kriegsbeginn überquerten die ersten 300 ukrainischen Flüchtlinge die estnische Grenze. Bis April hatten wir 12.000 ukrainische Flüchtlinge im Land, was eine der höchsten Pro-Kopf-Zahlen von Kriegsflüchtlingen in Europa war – Estland ist ein kleines Land mit einer Bevölkerung von nur 1,3 Millionen Einwohnern. Schätzungen zufolge halten sich derzeit etwa 70.000 Kriegsflüchtlinge in Estland auf, von denen etwa 39.000 eine befristete Aufenthaltserlaubnis beantragt und erhalten haben.
Ferdinand Mirbach: In den ersten Wochen und Monaten lag der Fokus auf der Nothilfe für die ukrainischen Flüchtlinge und deren Schutz. Inzwischen hat sich die Situation geändert. Da der Krieg in der Ukraine noch andauert, stellt sich die Frage nach der mittel- und langfristigen Integration der ukrainischen Geflüchteten.
Pavla Novotná: Deshalb haben wir bereits Ende März 2022 mit der Vorbereitung der zweiten Phase begonnen, der Anpassungs- und Integrationsphase der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in der Tschechischen Republik. Wir haben Arbeitsgruppen zu Bildung, Wohnen, sozialer Gesundheitsfürsorge und Berufsberatung gebildet. Da viele Kinder ankamen, ist eines der wichtigsten Ziele, die schulpflichtigen Ukrainer:innen in das tschechische Schulsystem einzugliedern. Eine große Herausforderung bleibt die offene Frage, ob diese Menschen in der Tschechischen Republik bleiben werden. Nach den von uns durchgeführten Umfragen planen immer noch Zweidrittel der Flüchtlinge, irgendwann in die Ukraine zurückzukehren.
Anne-Ly Reimaa: Als Erstes haben wir allen ukrainischen Flüchtlingen schnelle und effektive Unterstützung wie beispielsweise finanzielle Unterstützung und Unterkunft angeboten. Bei unseren Integrationsmaßnahmen waren wir ziemlich erfolgreich: Mittlerweile haben 44 Prozent der Ukrainer:innen einen Job gefunden. Das Interesse am Eintritt in das estnische Schulsystem ist unter ukrainischen Schüler:innen sehr groß. Im September 2022 haben wir in unserer Hauptstadt Tallinn zwei weitere allgemeinbildende Schulen eröffnet, an denen wir auf Estnisch und Ukrainisch unterrichten.
Die Schule für ukrainische Kinder wurde am Donnerstag, dem 19. Mai 2022, in der Purkynova-Straße in Brünn (Tschechische Republik) eröffnet. Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar sind mehr als 5 Millionen Flüchtlinge aus dem Land geflohen.
Ferdinand Mirbach: Sie haben beide erwähnt, dass die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge viel höher war als erwartet und daher ziemlich herausfordernd. Ich frage mich, ob oder wie das die Integrations- und Inklusionspolitik in Ihren Ländern verändert hat?
Anne-Ly Reimaa: Eigentlich war Estland schon immer eine sehr inklusive Gesellschaft. Seit mehr als 20 Jahren haben wir integrationspolitische Aktionspläne und Services. Aber ja, zu einigen Änderungen in unserer Integrationspolitik kam es im vergangenen Jahr doch. Wir bieten mehr Estnisch-Sprachkurse und Beratungsdienste an, insbesondere online. Wir intensivierten die Koordination zwischen allen staatlichen Institutionen mit dem Ziel, die Kommunikation zu verbessern, schneller und flexibler zu sein.
Pavla Novotná: Es ist nicht allzu bekannt, aber die Tschechische Republik ist auch ohne den Zustrom ukrainischer Flüchtlinge zu einem Einwanderungsland geworden. In den letzten Jahren kamen jährlich rund 80.000 Menschen legal in die Tschechische Republik – das ist eine der höchsten Einwanderungsraten in der Europäischen Union. Wir haben also bereits Integrationspolitiken etabliert und mussten diese nur anpassen, als die Ukrainer:innen kamen. Einige Themen haben natürlich unsere besondere Aufmerksamkeit, wie etwa Arbeitsmarktintegration, Sozialleistungen und Unterbringung. Aber die gesamte Verwaltung – auf kommunaler, regionaler und Landesebene – zeigte große Bereitschaft und Flexibilität. Das war meiner Meinung nach der größte Erfolg meines Landes im Zuge dieser Krise.
Ferdinand Mirbach: Wir haben bisher viel über staatliche Maßnahmen zur Unterstützung der ukrainischen Flüchtlinge gesprochen. Mein Eindruck ist, dass auch die Zivilgesellschaft einen sehr wichtigen Beitrag geleistet hat. Viele Bürger:innen halfen sofort und organisierten z.B. mit ihren privaten PKWs Transporte von der ukrainischen Grenze nach Deutschland oder stellten Unterkünfte zur Verfügung. Wie sah das in Ihren Ländern aus?
Anne-Ly Reimaa: Auch die estnische Zivilgesellschaft war sehr unterstützend und es gab viele Freiwillige. Die Bevölkerung arbeitete effektiv mit den kommunalen Verwaltungen zusammen und Dachverbände trugen viel zu den Hilfsangeboten bei – insbesondere diejenigen der Ukrainer:innen und anderer ethnischer Minderheiten in Estland.
Pavla Novotná: Wir haben großes Engagement der Zivilgesellschaft wahrgenommen, insbesondere zu Beginn, als es um humanitäre Hilfe ging. Ein ganz wichtiger Beitrag der Zivilgesellschaft war die Solidarität beim Thema Wohnen – ohne diese hätten wir die Situation nicht bewältigt. Herausfordernd war die Koordination aller Freiwilligen und der zivilgesellschaftlichen Angebote. Deshalb sind wir jetzt zu zentral koordinierten Angeboten übergegangen, die nicht mehr von Ehrenamtlichen, sondern von fest angestelltem Personal durchgeführt werden.
Ferdinand Mirbach: Die Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge durch Staat und Zivilgesellschaft ist in diesen Krisenzeiten ein wertvolles Gut. Die Frage ist natürlich, ob das auch von der breiten Bevölkerung getragen wird und wie nachhaltig diese Unterstützung ist. Die Robert Bosch Stiftung fördert derzeit ein Projekt in Polen, bei dem in Dialogformaten über Themen diskutiert wird, die für Pol:innen und ukrainische Geflüchtete gleichermaßen wichtig sind. Ziel ist es, eine soziale Spaltung bei Fragen wie Wohnen, Bildung oder Sozialhilfe zu verhindern. Wie ist die öffentliche Meinung über ukrainische Flüchtlinge in Ihren Ländern und hat sie sich im Laufe des letzten Jahres verändert?
Pavla Novotná: In den ersten Wochen war die öffentliche Meinung sehr positiv, im Grunde stellte niemand die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge in Frage. In Umfragen sieht man, dass die Akzeptanz inzwischen geringer ist, aber das halte ich für normal. Wir haben immer noch eine sehr starke Unterstützung seitens der Regierung und des Parlaments. Aber über die Monate stellte sich eine gewisse Müdigkeit ein. Natürlich sagt die politische Opposition, dass wir mehr für die Tschech:innen selbst tun sollten – aber sie sagt nicht, dass wir die Hilfe für Ukrainer:innen einstellen sollten.
Anne-Ly Reimaa: Die Unterstützung der Öffentlichkeit in Estland war und ist immer noch sehr hoch. Derzeit sehen es 75 Prozent der Bevölkerung als Pflicht an, ukrainischen Kriegsflüchtlingen zu helfen. Diese hohe Zustimmungsrate hat sich im letzten Jahr nicht wesentlich verändert. Ich finde das ziemlich erstaunlich, denn vor dem 24. Februar 2022 hatten wir nur 332 Personen mit internationalem Schutzstatus im Land – inzwischen sind es 39.000 Personen mit einer zeitlich befristeten Aufenthaltserlaubnis.
Ferdinand Mirbach: Die positive öffentliche Meinung hat sicherlich dazu beigetragen, dass in vielen europäischen Ländern die Integration ukrainischer Flüchtlinge mutig angegangen wird und Erfolge erzielt werden. Gleichzeitig werden warnende Stimmen lauter. In Deutschland weisen Kommunalvertreter:innen darauf hin, dass die Aufnahmekapazitäten weitgehend erschöpft seien – 2022 haben neben den mehr als einer Million ukrainischen Geflüchteten rund 240.000 Menschen aus anderen Ländern Asyl beantragt.
Pavla Novotná: Natürlich haben wir diese Diskussionen auch, gerade wenn es ums Wohnen geht, denn insofern wir keine Zeltlager errichten wollen, haben wir hier einfach Limits. Außerdem führen wir eine interne Debatte über die Frage, ob wir unsere Unterstützungsleistungen neu bewerten müssen, wenn es in Zukunft zu einem noch größeren Zustrom von Flüchtlingen kommen sollte. Aber das ist keine öffentliche Debatte, sondern eine Debatte zwischen der Regierung, den Regionen und den Kommunen.
Anne-Ly Reimaa: Wir haben das gleiche Problem, dass es an Wohnraum mangelt und wir das hohe Niveau der Hilfsleitungen auf Dauer nur schwer werden halten können. Erfreulicherweise arbeitet Estland auf Ministerpräsidentenebene sehr gut mit Finnland zusammen. Wir sind dabei, eine finnisch-estnische Kooperation zu entwickeln, um diejenigen Flüchtlinge besser zu unterstützen, die in Estland einen vorübergehenden Schutzstatus erhalten haben.
Ferdinand Mirbach: Wir haben über die Herausforderungen und Erfolge des vergangenen Jahres gesprochen. Lassen Sie uns abschließend über Perspektiven sprechen: Was erwarten Sie für die kommende Zeit? Glauben Sie, dass es weiterhin eine hohe Akzeptanz für die weitere Aufnahme und Integration ukrainischer Flüchtlinge geben wird?
Pavla Novotná: Ich wage nicht zu sagen, wie die Situation in den nächsten Monaten aussehen wird, da sich die Dinge so schnell ändern können. Wir haben derzeit zwei Zukunftsszenarien: Das Erste geht davon aus, dass es zu einer Eskalation des Konflikts kommt, was auch zu einer Verschärfung im Migrationsbereich führen würde. Das zweite Szenario ist, dass die Situation wie bislang bleibt oder sich sogar verbessert, dann können wir weiter an der Integration ukrainischer Flüchtlinge arbeiten. Das Problem ist, dass unsere Kapazitäten begrenzt sind, und es geht wirklich nicht nur um Geld, sondern um Kapazitäten.
Anne-Ly Reimaa: Am 5. März 2023 finden in Estland Parlamentswahlen statt. Die Ergebnisse könnten also die Einwanderungs- und Außenpolitik beeinflussen. Im Moment ist mein Eindruck, dass die estnische Gesellschaft von den Ukrainer:innenn in unserem Land profitieren kann, da viele von ihnen als Lehrer:innen oder medizinisches Personal, in Restaurants oder Geschäften arbeiten und die estnische Wirtschaft positiv beeinflussen. Außerdem haben die Est:innen während des Zweiten Weltkriegs so gelitten wie die Ukrainer:innen heute, und wir wissen, was es bedeutet, unter der sowjetischen Besatzung zu leben. Aus diesem Grund bin ich überzeugt, dass wir die Ukrainer:innen weiterhin bestmöglich unterstützen werden!
Die Gesprächsteilnehmenden wirken in der Integration Futures Working Group mit. Dieses von der Robert Bosch Stiftung geförderte Projekt bringt führende Entscheidungsträger:innen und Expert:innen aus dem Bereich der Integration, Vertreter:innen der Zivilgesellschaft und führende Akteur:innen der Privatwirtschaft zusammen, um Integrationsherausforderungen im Kontext aktueller Krisen, wie der ausklingenden Covid-Pandemie, starker Flüchtlingszuwanderung oder dem Krieg in der Ukraine, anzugehen.