Wie können unsere Ernährungssysteme nachhaltig gestaltet werden? Gerade auf lokaler Ebene finden Landwirt:innen und Zivilgesellschaft kreative Ansätze – und wollen damit bis in die EU hinein wirken.
Auf den ersten Blick sieht die Antwort aus wie ein überdimensionaler Rechen. Eine junge Frau steht in der Metalltür eines Gewächshauses und hält ein Werkzeug aus großen, weiten Metallzacken, eingefasst in einen schmalen Holzrahmen, in der Hand. Mit dieser Grelinette, erklärt sie, könne man den Ackerboden ökologisch nachhaltig auflockern und sicherstellen, dass Insekten nicht aus den Erdschichten vertrieben würden. Die junge Frau gehört zum solidarischen Gärtnereiprojekt „PeterSilie“, das auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei nahe Marburg Gemüse anbaut und damit inzwischen rund 100 Haushalte im Umkreis versorgt. Heute stellt sie diesen Ansatz einer Gruppe von Menschen vor, die eins gemeinsam haben: Sie wollen Ernährungssysteme nachhaltiger machen – lokal und international.
„In Frankreich“, wirft Ann-Marie Weber, eine der Organisatorinnen dieses Treffens, vor dem Gewächshaus ein, „gibt es eine Website, auf der man den Bausatz für eine Grelinette kostenlos downloaden kann“. Die Teilnehmenden aus Frankreich um sie herum nicken zustimmend. „Lasst euch gerne davon inspirieren“, sagt eine Frau. Ann-Marie Weber freut sich: Synergien aufzutun, um nachhaltige Ernährungssysteme voranzubringen und Netzwerke zu etablieren, ist das Ziel dieses Zusammentreffens.
Wie kann ein nachhaltiges, faires Ernährungssystem aussehen? Überall in Europa beschäftigen sich Menschen mit dieser Frage und finden sich zu Solidarischen Landwirtschaften, Ernährungsräten oder Lebensmittelkooperativen zusammen. Solche lokalen Lösungen können aber auch woanders funktionieren - wenn sich die Akteur:innen entsprechend vernetzen. Wir fördern drei Partner, die sich diese Vernetzung und Verbreitung zur Aufgabe gesetzt haben.
Seit 2005 setzt Ann-Marie Weber sich dafür ein, ihre Region nachhaltig zu verändern. Denn während Klimawandel, Bodenpolitik und die Ausweitung von Monokulturen unsere Ernährungssysteme immer deutlicher vor Herausforderungen stellen und nach nachhaltigen Lösungen verlangen, werden zentrale Fragen deutlich: Wie können Menschen, die in diesem Bereich aktiv sind, solche Systeme gestalten? Wie werden sie als politische Akteurinnen und Akteure sichtbar? Und wo müssen sie erst einmal zusammenarbeiten, um wirklich Einfluss zu nehmen?
Durch transformatorische Bildung in Sachen Ernährung und Landwirtschaft will Ann-Marie Weber dafür sorgen, dass nachhaltige Initiativen gefördert und Menschen für das Thema sensibilisiert werden. Ganz einfach sei diese Aufgabe allerdings nicht immer: „Sowohl in der Bildungsarbeit als auch in der Erzeugung fehlt gesellschaftliche Wertschätzung. Die Stimmung ist aufgeheizt, wenn es um Ernährung geht, und es herrscht viel Schwarz-Weiß-Denken. Das ist ein eher dialogfeindliches Klima“, erklärt sie. Dennoch ist gerade der Austausch für sie das zentrale Instrument hin zu einer nachhaltigen Veränderung: Weber will Räume schaffen, in denen Menschen zusammenkommen und voneinander lernen können. „Dazu gehört auch, widersprüchliche Meinungen auszuhalten. Ich möchte zum Beispiel sehr gerne auch mit konservativen Kräften in der Region zusammenarbeiten und hier vertrauensbildende Maßnahmen schaffen“, sagt sie.
Am direktesten funktioniere das durch menschlichen Kontakt. Gerade auf lokaler Ebene finden viele Landwirtinnen und Landwirte bereits heute kreative Antworten auf aktuelle Herausforderungen und können so zum aktiven Treiber der Transformation werden – zum Beispiel in Sachen Finanzierungsmodelle: Wie der Zugang zu Land erfolgreich gemeistert werden kann, zeigt sich direkt vor Ort. Während das solidarische Gärtnereiprojekt eine ehemalige Gärtnerei als Verein mithilfe von Direktkrediten kaufte und heute als Gemeinschaftseigentum verwaltet, setzt die Seelbacher Ziegenkäserei auf einen anderen Weg. Mit ihrer Ziegenherde beweidet Claudia Smolka ein nahe gelegenes Naturschutzgebiet und sorgt so gleichzeitig dafür, dass der Bereich auf natürliche Art und Weise gepflegt und die natürliche Artenvielfalt wiederhergestellt wird. Mit ihrer Herde zieht sie durch bemooste Täler zwischen steilen Hängen – optimal für kletterwillige Ziegen. Den finanziellen Ausgleich für diese Initiative erhält Claudia Smolka direkt von der zuständigen Kommune – eine vergleichsweise direkte Finanzquelle für die Landwirtin. Die Vorteile solcher Ideen sieht auch Ann-Marie Weber: „Wenn man lokal oder regional arbeitet, kommen Steine oft schneller ins Rollen als national oder im europäischen Rahmen.“
Um als politische Kräfte im größeren Rahmen wirken zu können, müssten solche Ansätze jedoch erst auf der politischen Bühne sichtbar werden, findet Matteo Metta, der für die Organisation „ARC2020“ arbeitet: „Momentan fressen die großen Fische die kleinen“, sagt er. „Aber nur, weil die kleinen Ansätze oft dezentral arbeiten und nicht vernetzt sind.“
„Wir wollen die Ernährungssysteme der Zukunft entwickeln und dabei auf die Ansätze setzen, die es vor Ort schon gibt.“
Besonders bedeutend sei dieses Missverhältnis mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Brüssel. Bis vor Kurzem noch stand hier im Rahmen des Green Deals der EU ein Meilenstein für nachhaltige Ernährungssysteme in Europa bevor: Das Sustainable Food Systems Law der Europäischen Kommission sollte einen politischen Rahmen schaffen, um ökologische Landwirtschaft voranzubringen und erstmalig das Thema Ernährung integriert anzugehen. „Das hätte uns den notwendigen Rahmen gegeben, um in der Landwirtschaft nachhaltig zu arbeiten – aktuell gibt die europäische Agrarpolitik kleinen und mittelgroßen Betrieben nämlich kaum eine Stimme“, erklärt Matteo Metta.
Doch nun scheint dieses Vorhaben kommentarlos von der Agenda der Kommission verschwunden zu sein - und mit den anstehenden EU-Wahlen 2024 könnte die gesamte Vorarbeit zur Entwicklung des Gesetzes kippen. Wie es weitergeht, ist für viele momentan ein Rätsel – für Organisationen wie ARC2020 ist diese scheinbare Kehrtwende eine Enttäuschung: „Für uns sind das Widersprüche“, kritisiert Metta. „Einerseits wird ein solches Gesetz, das für ländliche Regionen wirklich maßgebend ist, kommentarlos verschoben. Andererseits setzt die EU außergewöhnlich schnell Gesetze, zum Beispiel zum Thema ‚Genetically Modified Food‘, um.“ Gerade vor diesem Hintergrund sei es wichtig, lokalen Initiativen eine Bühne zu bieten und weiter aktiv zu bleiben, findet er: „Man hat oft das Gefühl, dass Brüssel die Politik macht und die Richtung festlegt. Aber vor Ort passiert viel und darauf müssen wir aufbauen.“
Wie die Entwicklung nachhaltiger Ernährungssysteme für die Region Marburg in Zukunft aussehen könnte, legt nun ein Aktionsplan fest, den Ann-Marie Weber gemeinsam mit den Teilnehmenden des Zusammentreffens formuliert hat. Das Ziel: Marburg soll zu einer Pilotregion werden, die als Vorbild für lokale und regionale Initiativen in ganz Europa dienen soll. Vielleicht wirkt dieses Engagement ja sogar bis nach Brüssel.