Interview
„Wir müssen unser Ernährungssystem von Grund auf neu errichten“
Um nachhaltig die Welt zu ernähren, muss sich das System der industriellen Nahrungsmittelproduktion verändern. Ruth Richardson, Geschäftsführerin der "Global Alliance for the Future of Food" erklärt, vor welchen Herausforderungen die Weltgemeinschaft dabei steht.
Eine Landwirtin auf ihrem Kohlfeld in Madagaskar
Sobald die Begriffe Klimawandel und Ernährung in einem Atemzug genannt werden, machen sich viele Menschen Sorgen, dass man ihnen vorschreiben will, wie sie sich in Zukunft ernähren sollen. Was antworten Sie auf derartige Bedenken?
Ohne Zweifel müssen wir alle mehr Bewusstsein dafür entwickeln, was wir essen. Denn einige Lebensmittel, beispielsweise Fleisch aus Massentierhaltung oder Erzeugnisse aus einer chemieintensiven Landwirtschaft, sind klimaschädlicher als andere. Allerdings geht es für mich nicht darum, den Menschen Entscheidungen aufzuzwingen, sondern die nötigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sie in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext und den kulturellen Gegebenheiten nachhaltige Entscheidungen treffen können. In vielen Teilen der Welt haben die Menschen keine Wahlmöglichkeit in Bezug darauf, was sie essen und welche Nahrungsmittel Ihnen zugänglich sind. Doch wenn Erzeuger:innen, Unternehmer:innen in der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft, Geldgeber:innen und andere Akteur:innen den Verbraucher:innen nachhaltige Entscheidungen ermöglichen wollen, können sie zu diesem Zweck beispielsweise eine Reihe von Grundsätzen wie Widerstandsfähigkeit, Gleichheit und Gesundheit definieren, an denen sie ihre Maßnahmen ausrichten. Auch die Global Alliance for the Future of Food verfügt über eine Reihe von Grundsätzen, die uns in unseren Entscheidungen leiten und auf diese Weise unsere tägliche Arbeit und unsere Vision von einer Ernährung der Zukunft prägen und bestimmen.
Allerdings reicht individuelles Engagement nicht aus, um das Problem in den Griff zu bekommen. Expert:innen meinen, die weltweiten Ernährungssysteme müssen grundlegend erneuert werden. Dieser Aufgabe hat sich die von ihnen geleitete „Global Alliance for the Future of Food“, eine Allianz philanthropischer Stiftungen, verschrieben. Mit welchen grundlegenden Herausforderungen haben wir es in diesem Zusammenhang zu tun?
Wir haben ein System der industriellen Nahrungsmittelproduktion geschaffen, das seinem Zweck nicht gerecht wird und mit zahlreichen negativen Auswirkungen verbunden ist. Der Rückgang der Artenvielfalt ist nur eines der drängenden Umweltprobleme der heutigen Zeit. Wir stehen zudem vor einer großen Gesundheitskrise, weil der Anteil ernährungsbedingter Erkrankungen wie Diabetes und Fettleibigkeit kontinuierlich steigt. Aus soziokultureller Perspektive ist mit dem derzeitigen Ernährungssystem der Verlust kultureller Werte verbunden. Wir haben schreckliche Dinge getan, wie z.B. Ureinwohner:innen von ihrem Land zu vertreiben, um Palmölplantagen zu errichten. All dies sind Folgen eines Ernährungssystems, das wir geschaffen und aktiv gestaltet haben. Deshalb müssen wir das System transformieren. Und damit meine ich einen grundlegenden, tiefgreifenden Umbau. Wir müssen das System aufgeben und von Grund auf neu errichten. Die Fähigkeiten dazu haben wir.
Ruth Richardson ist Geschäftsführerin der "Global Alliance for the Future of Food" und seit über 25 Jahren im Wohltätigkeitssektor tätig. Dabei stellte sie immer wieder neue, komplexe Projekte auf die Beine: So war sie die erste Geschäftsführerin der "Unilever Canada Foundation" und Gründungsmitglied des "Canadian Environmental Grantmakers' Network". Zuletzt berief UN-Generalsekretär António Guterres sie in den Beratungsausschuss des 2021 anstehenden "Food Systems Summit".
Wie könnte ein solcher tiefgreifender Umbau aussehen?
Viel zu häufig denken wir, dass es für derartige Probleme einer Patentlösung bedarf. Das wird uns in dieser Situation jedoch nicht helfen. Wir brauchen einen systemorientierten Ansatz und Lösungen, die sich in mehreren Bereichen positiv auswirken und an vielen Fronten nützlich sein können. Ein Beispiel: Ich hatte Gelegenheit, das Projekt „Community Based Natural Farming“ in Andhra Pradesh in Indien zu besuchen. Die Beteiligten engagieren sich für umweltverträglichere Anbaumethoden und für einen stärkeren Zusammenhalt bei der Zusammenarbeit von Landwirt:innen. Während meines Besuchs notierte ich alle positiven Veränderungen, die diese Initiative bewirkt hat. Sie reichten von „Wir haben unseren Wasserverbrauch um achtzig Prozent gesenkt“ über „Unsere Bäume binden mehr Kohlenstoff“ bis hin zu „Der von uns angebaute Reis lässt sich länger lagern“.
UN-Generalsekretär Guterres hat auf den Ernst der Lage reagiert und veranstaltet im Herbst in New York den ersten „Food Systems Summit" (UNFSS). Welche Ergebnisse erhoffen Sie sich davon?
Drei Dringe: Erstens wünschen wir uns eine Reihe von Grundsätzen, an denen wir uns weltweit beim Umbau des Ernährungssystems ausrichten können. Nach unserer Erfahrung bieten Grundsätze die wichtigsten Sozialtechniken, um schwierige und unruhige Zeiten zu überstehen – sofern wir sie auch berücksichtigen und umsetzen. Zweitens hoffen wir auf Fortschritte in zentralen Bereichen, die uns am Herzen liegen. Beispielsweise wünschen wir uns klare Aussagen zur Agrarökologie als einem zentralen Lösungsweg für die Zukunft. Der dritte Aspekt ist weniger gut fassbar, doch ebenso wichtig. Wir setzen große Hoffnung auf in den Aufbau belastbarer Beziehungen und Netzwerke, die einen Umbau des Ernährungssystems ermöglichen.
Ruth Richardson auf dem "EAT-Summit" 2016
Darüber hinaus gibt es ein „Champions Network“, zu dessen Vorsitzenden Sie gehören. Können Sie uns einige Einblicke in seine bisherige Arbeit geben?
Zu den so genannten „Champions“ gehören zahlreiche Akteur:innen aus unterschiedlichen Bereichen und Interessengruppen, die sich für den Aufbau eines neuen, besseren Ernährungssystems engagieren. Unsere Aufgabe besteht darin, andere Strukturen des Gipfels zu unterstützen, die Resonanz für erste Prioritäten und sich abzeichnende Empfehlungen auszuloten, und Unterstützung für Lösungsansätze zu organisieren. Zurzeit läuft dieser Mobilisierungsprozess. Es ist wichtig, in diesen Prozessen die Stimmen und Bedenken indigener Menschen und anderer Vertreter der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen. Meines Erachtens können wir strittige Fragen nur angehen, wenn wir uns direkt mit diesen auseinandersetzen und dabei alle Meinungen und Perspektiven einbeziehen.
Als Leiterin der „Global Alliance for the Future of Food“ werden Sie Ende Juli an einem Vorgipfel in Rom teilnehmen. Worum geht es bei diesem Treffen?
Für mich ist dieser Vorgipfel Teil des Planungsprozesses. Er bietet allen Akteur:innen, die sich im Rahmen des Gipfels engagieren und Vorschläge für den Umbaus des Ernährungssystems eingebracht haben, Raum und Gelegenheit, gemeinsam die bisherigen Ergebnisse auf den Prüfstand zu stellen. Und noch viel wichtiger: Wir klären, wie wir uns abstimmen, um die Vielzahl von Maßnahmen und Aktivitäten im Anschluss an den Gipfel anzugehen. Dafür benötigen wir einen langfristigen Arbeitsplan.
„Wir stecken inmitten einer Reihe katastrophaler Krisen, die wir nicht unterschätzen dürfen.“
Was muss geschehen, damit die Ergebnisse des UNFSS auch in Zukunft Wirkung zeigen und beispielweise in die Verfahren im Rahmen der Klima- und Biodiversitätskonventionen integriert werden?
Wir können unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Prioritäten einzelner Akteur:innen richten. Stattdessen müssen wir uns auf diejenigen Prioritäten konzentrieren, die einen Umbau der Systeme ermöglichen. Es geht darum, wirkliche Verantwortung zu übernehmen und uns der Herausforderung zu stellen, nur diejenigen Lösungen und Prioritäten zu berücksichtigen, die tatsächlich zu einem Umbau der Ernährungssysteme beitragen. Außerdem benötigen wir ehrgeizige Verpflichtungen: Wir dürfen die zahllosen katastrophalen Krisen, in denen wir uns derzeit befinden, nicht unterschätzen. Sie verlangen von uns unbequeme, ambitionierte Verpflichtungen: Beispielsweise müssen wir den Verbrauch von Fleisch aus Massentierhaltung und von stark verarbeiteten Lebensmitteln drastisch senken. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Ich denke, wir alle haben verstanden und können uns darauf einigen, dass wir für diese Systeme eine totale Wende hinbekommen müssen.
Prozesse wie der UN Food Systems Summit binden erhebliche Ressourcen, wovon auch Sie selbst vermutlich betroffen sind. Gibt es andere Möglichkeiten, um die Weltgemeinschaft zum schnellen Handeln zu bewegen?
Wir gehen davon aus, dass eine Transformation dann stattfindet, wenn verschiedene Maßnahmen, Netzwerke und Einzelpersonen sektorübergreifend auf eine gemeinsame Vision und Zielsetzung hinarbeiten. Auf diese Weise können sie eine Dynamik in Gang setzen, eine kritische Masse bilden und einen Wendepunkt erreichen. Hier sehe ich unsere Aufgabe. Ich möchte es mit den Worten von Wendell Berry sagen: „In dieser Situation ist allerdings viel Geduld gefragt. Wir haben erkannt, dass wir vor großen Problemen stehen. Doch wenn man fragt: „Wo liegt die große Lösung?“, impliziert dies, dass wir die Antwort bestimmen können. Und genau hier liegt zunächst einmal das Problem. Wir haben versucht, Antworten zu erzwingen, und hatten keine Geduld. Es ist alles andere als leicht, sich in einem Notfall in Geduld zu üben.“ Und ja, tatsächlich ist schnelles Handeln gefragt. Doch wir müssen auch geduldig sein und uns der schwierigen Aufgabe stellen, unser Anliegen mit kleinen Schritten voranzubringen.