Wie gut, dass das Volk sich am politischen Diskurs beteiligt, meint unser Experte Gordian Haas. Denn das ist es, worum es in der Demokratie geht. Ein Plädoyer für mehr dialogische Bürgerbeteiligung anlässlich des ersten Bürgerrats des Bundestags.
Tierwohl-Label, Lebensmittelampel, Zuckersteuer oder ein Veggie Day in der Kantine – politische Vorschläge zur Zukunft unseres Essens bewegen uns alle und werden regelmäßig kontrovers diskutiert. Wer aber diskutiert diese Fragen miteinander? Es sind zumeist Politiker:innen, die Parlamentsdebatten führen oder sich hitzige Wortgefechte in Talkshows liefern, und es sind Fachleute, die dabei zu Rate gezogen werden. Selten erhalten Bürger:innen die Gelegenheit, diese Fragen miteinander in einem Rahmen zu diskutieren, der ihnen die Chance bietet, bei den politischen Entscheidungsträger:innen auch Gehör zu finden.
Mit dem Bürgerrat zum Thema Ernährung, der sich in den letzten Monaten im Auftrag des Deutschen Bundestags beriet und Ende Februar die erarbeiteten Empfehlungen in Form eines Bürgergutachtens an das Parlament übergeben wird, hat sich dies nun geändert. Das ist eine gute Nachricht für unsere Demokratie. Die wachsende Bereitschaft der Politik, sich auf einen ernsthaften Dialog mit Bürger:innen einzulassen – sich von diesen gar beraten zu lassen – zeigt, dass sich unsere Demokratie weiterentwickelt.
Am Bürgerrat Ernährung nahmen 160 Personen teil. Hierzu wurden zunächst 20.000 zufällig ausgewählte Einwohner:innen angeschrieben. Aus den positiven Rückmeldungen wurde dann in einem zweiten Schritt ebenfalls per Zufall eine Gruppe so gebildet, dass diese die Gesamtbevölkerung hinsichtlich bestimmter Merkmale wie Geschlecht, Alter und Ernährungsgewohnheiten möglichst gut abbildet. Dies ist in sehr hohem Maße gelungen, so lag beispielsweise der Anteil der Frauen im Bürgerrat mit 50,6 Prozent sehr dicht an deren Anteil von 50,7 Prozent in der Gesamtbevölkerung (zum Vergleich: der Anteil der Frauen im Bundestag beträgt 35,1 Prozent).
Der Zufall spielt bei derartigen Verfahren also eine große und wichtige Rolle. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass nicht nur diejenigen gehört werden, die ihre Meinung am lautesten kundtun, sondern auch die schweigende Mehrheit eine Stimme erhält. Insgesamt hat der Bürgerrat neunmal zu verschiedenen Themenschwerpunkten getagt. Dabei haben die Teilnehmenden Informationen von Fachleuten erhalten, miteinander beraten und schließlich neun Empfehlungen entwickelt, wie die Ernährungspolitik zukünftig ausgestaltet werden sollte. Der Bürgerrat empfiehlt beispielsweise, dass Supermärkte verpflichtet werden sollten, aussortierte, aber noch genießbare Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen abzugeben, statt sie zu entsorgen. Auch sollte für alle Kinder in Kitas und Schulen ein kostenfreies und gesundes Mittagessen bereitgestellt werden.
Wie es der Name nahelegt, hat der Bürgerrat nur eine beratende Funktion. Ob seine Empfehlungen tatsächlich umgesetzt werden, entscheidet richtigerweise der Bundestag als demokratisch legitimiertes Gremium. Damit der Bürgerrat nicht zu einer Scheinbeteiligung verkommt, ist es aber wichtig, dass der Bundestag zugesichert hat, sich sowohl im Plenum als auch in Ausschüssen mit den Vorschlägen zu befassen. Nach Abschluss dieser Beratungen kommt es darauf an, transparent darzulegen, welche Empfehlungen umgesetzt werden sollen und gegebenenfalls zu begründen, weshalb andere Vorschläge nicht realisiert werden.
Bürgerbeteiligung kann die repräsentative Demokratie auf vielfältige Weise ergänzen und bereichern. Im besten Fall können so geeignetere Lösungen gefunden werden, weil man auf das Wissen der Vielen zurückgreifen kann. Bürgerbeteiligung trägt auch zu einer höheren Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen bei, weil die Menschen sich nicht nur mitgenommen fühlen, sondern tatsächlich eingebunden werden. Bürgerräte und andere Beteiligungsformate stärken das Gemeinschaftsgefühl und wirken so der zunehmenden Entfremdung von Politik und Bevölkerung entgegen. Dies bereitet den Nährboden, auf dem Demokratie überhaupt erst gedeihen kann.
Es gibt zwar auch regelmäßig Meinungsumfragen, bei denen Personen blitzlichtartig nach ihren momentanen Ansichten gefragt werden, aber das ist etwas vollkommen anderes als eine Beteiligung am demokratischen Diskurs. Demokratie braucht nicht nur Meinungen, sondern auch Faktenwissen und den Austausch von Argumenten. Demokratie lebt von der Debatte! Erst im Austausch mit Personen, die andere Meinungen vertreten, kann man eine informierte und fundierte Position entwickeln.
Auf kommunaler Ebene gibt es dialogische Formate der Bürgerbeteiligung seit den 1970er Jahren, etwa in Form sogenannter Planungszellen, die maßgeblich in Deutschland entwickelt wurden. Im Bereich der beratenden Bürgerbeteiligung nimmt Deutschland international sogar eine Vorreiterrolle ein, lediglich in Japan wurden bislang mehr solche Verfahren eingesetzt. Auf nationaler Ebene gelang es einem Bürgerrat in Irland, mehrheitsfähige Vorschläge zu gleichgeschlechtlicher Ehe und Abtreibung zu entwickeln. Nun hat auch der Bundestag das Experiment gewagt, sich nicht nur von Fachleuten und Enquete-Kommissionen beraten zu lassen, sondern erstmals von einem Bürgerforum. Damit ist das Thema Bürgerbeteiligung nach gut 50 Jahren im obersten politischen Gremium unseres Landes angekommen – gut so!
„In unserer Demokratie sollten wir es begrüßen, wenn das Volk sich am politischen Diskurs beteiligt, denn das ist es, worum es in der Demokratie geht!“
In seiner berühmten Gettysburg Rede von 1863 hat Abraham Lincoln Demokratie als Regierung des Volks durch das Volk für das Volk charakterisiert. Wenn jetzt in Deutschland also künftig das Volk häufiger mitdiskutiert und Empfehlungen an die Politik entwickelt, dann stellt dies keine Gefahr für die Demokratie dar, sondern entwickelt diese vielmehr weiter und gibt ihr neuen Schwung. In unserer Demokratie sollten wir es begrüßen, wenn das Volk sich am politischen Diskurs beteiligt, denn das ist es, worum es in der Demokratie geht!
Mit dem Programm „Zukunft aufgetischt" unterstützt die Robert Bosch Stiftung Kommunen im ländlichen Raum dabei, gemeinsam mit den Bürger:innen vor Ort regionale Ernährungssysteme zukunftsfähig zu gestalten.
Interessierte Kommunen können sich bis zum 15. Mai 2024 für eine Teilnahme am Förderprogramm bewerben.