Mit digitalen Werkzeugen Wahrheit finden und Gerechtigkeit schaffen
Gewalt und Konflikte hinterlassen tiefe Spuren in einer Gesellschaft. Erst wenn sich die Menschen mit dem Unrecht der Vergangenheit auseinandersetzen, wird nachhaltiger Frieden möglich. Das Potenzial, das in digitalen Rollenspielen und sozialen Netzwerken für die kollektive Aufarbeitung der Vergangenheit steckt, inspirierte die Teilnehmer des diesjährigen „Berlin Seminar“ für ihre Arbeit in Konfliktländern.
Anarchist, Sozialdemokrat oder konservativer Katholik? Mirian Bllaci sitzt vor einem Laptop und wählt seinen Charakter, sieben andere Spieler scrollen ebenfalls durch mögliche Profile. Gemurmel und Swing-Musik der 1930er Jahre ertönen aus dem Raum in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung in Berlin. Sie alle spielen zum ersten Mal „Through the Darkest of Times“, ein Strategiespiel, in dem man der Anführer einer zivilen Widerstandsgruppe im Dritten Reich ist. Mirian Bllaci schlüpft in die Rolle eines Sozialdemokraten und muss nun virtuell Aktionen gegen das Naziregime ausführen: Flugblätter verteilen, Sabotageakte planen, aber vor allem auch weitere Widerständler gewinnen ohne dabei von der Gestapo gefasst zu werden.
Friedensakteure aus Konfliktländern kommen nach Deutschland
„Das sind fiktive Personen, aber sie sind das Ergebnis ausführlicher historischer Recherche und wahrer Begebenheiten“, erklärt Bllaci, der in die Spielwelt eintaucht. Er kommt aus Albanien und ist dort Programmdirektor der Organisation „Cultural Heritage without Borders“. Als Menschenrechtsaktivisten, Beauftragte von Wahrheits- und Versöhnungskommission oder Leiter von Gedenkeinrichtungen prägen Menschen wie Bllaci den Umgang mit Konflikten in ihren Heimatländern. Sie alle wissen: Die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht ist für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft nötig, damit aus unterschwelligen Konflikten nicht neue gewalttätige Auseinandersetzungen entstehen.
Gemeinsam mit 24 anderen internationalen Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen nimmt Bllaci im Juni 2019 am „Berlin Seminar: Truth, Justice, Remembrance“ der Robert Bosch Stiftung teil. Seit zehn Jahren lädt die Stiftung jedes Jahr Friedensakteure aus Ländern mit aktuellen oder vergangenen Konflikten für zwei Wochen nach Berlin ein, um ihnen verschiedene Wege der Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland vorzustellen. Deutschland gilt international als beispielhaft für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Gleichzeitig zeigt die Erinnerungskultur hierzulande aber auch, dass der kritische Umgang mit vergangenen Konflikten ein gesellschaftlicher Prozess ist, der Jahrzehnte dauert und nie abgeschlossen ist. So rückt beispielsweise die koloniale Vergangenheit Deutschlands gerade erst in den Fokus der Aufarbeitung.
In die Vergangenheit abtauchen: Gaming-Experte Jörg Friedrich (l.) entwickelte ein virtuelles Strategiespiel, bei dem man in einer zivilen Widerstandsgruppe im Dritten Reich kämpft.
Historische Ereignisse durch Gaming nachempfinden
Ein neuer Schwerpunkt des Berlin-Seminars in diesem Jahr: Digitalisierung. In drei Workshops geht es um digitale Dokumentation, Open Source-Ermittlungen und Gaming, also digitale Spiele. Mirian Bllacis aktuelles Projekt in Albanien ist ein verlassenes Gefängnis aus den Zeiten des Kommunismus, welches eine Gedenkstätte werden soll. „Wir wollen die schwierige Geschichte auch mit alternativen Formen vermitteln und vor allem junge Menschen erreichen, die sich vorher nicht für das Thema interessiert haben“, sagt er. Beim Spielen des Widerstandsspiels sei ihm klar geworden, dass es nicht einfach ist, ein gutes Spiel zu entwickeln, was zugleich unterhaltsam ist und den Spieler einlädt, eine andere Perspektive einzunehmen.
Jörg Friedrich, Game-Designer von „Through the Darkest of Times“ und Dozent des Workshops, will den Teilnehmern vermitteln, „was für ein mächtiges Werkzeug Spiele sein können, um historische Ereignisse persönlich nachempfinden zu können.“ Im Spielszenario von Mirian Bllaci fährt sein Charakter zum Beispiel an einer Gruppe SA-Schlägern vorbei, die sich über einen Zivilisten beugen. Drei Optionen gibt es: „Weiterfahren“, „vorsichtig nähern und beobachten“ oder „auf die Gruppe zusteuern“. „Das sind Dilemmata, vor die wir die Spieler stellen, wo sie sich bewusst fragen müssen, was hätte ich getan?“, erklärt Friedrich.
„Wir wollen die schwierige Geschichte auch mit alternativen Formen vermitteln.“
Einen Stock höher in der Repräsentanz der Stiftung geht es um verschiedene Beispiele aus aktuellen Konflikten und darum, wie sich Wahrheit und Gerechtigkeit durch akribische Faktenrecherche auch im digitalen Raum ermöglichen lassen. Durch die rasante Ausbreitung mobiler Kommunikation und sozialer Netzwerke können professionelle Berichterstatter und Bürgerjournalisten sowie Aktivisten weltweit Menschenrechtsverletzungen mit Open-Source-Informationen dokumentieren, verbreiten und gerichtsfest präsentieren.
Mit Laptop Kriegsverbrecher jagen
Wie gut das geht, demonstrieren Rawan Shaif von der Online-Rechercheorganisation Bellingcat und Tobias Schneider vom Global Public Policy Institute (GPPi) am Beispiel eines echten Falls. Als auf Facebook Videos von einem Massaker in Lybien kursierten, untersuchte das Bellingcat-Team das Material mit Kartendiensten und Sonnenstands-Apps und glich es mit anderen Quellen in sozialen Netzwerken ab. Mithilfe der digitalen Werkzeuge gelang es, das Massaker einem Warlord nachzuweisen. „Erstmals wurde vom Internationalen Strafgerichtshof ein Haftbefehl erlassen, dessen Beweislage überwiegend auf Open-Source-Recherchen basierte“, sagt Schneider.
Auch Teilnehmerin Samira Koujok erhofft sich praktische Tipps, welche Online-Werkzeuge sich für ihre Recherchen eignen. Sie ist Programmleiterin der „Internationalen Kommission für vermisste Personen“ (icmp) im Libanon und dokumentiert Vermisstenfälle im Nachbarland Syrien. „Wir nehmen die Daten der Vermissten in einer App auf und dokumentieren alle Fakten. Ich möchte hier lernen, wie ich die Orts- und Zeitangaben mithilfe von Open-Source-Tools überprüfen kann“, sagt sie.
Die Open-Source-Experten Rawan Shaif und Tobias Schneider (Hintergrund) zeigen anhand eines echten Falls in Lybien, wie aus digitalen Informationen gerichtsfeste Beweise werden.
Digital alleine reicht nicht
In diesen Fällen sind die Daten digital zugänglich, aber wie lassen sich historische Ereignisse und Belege aus dem analogen Zeitalter digitalisieren? Für Archivierungsexperten und Dozenten Romain Ledauphin gibt es nicht in erster Linie analoge oder digitale Daten, es gibt einfach nur Informationen, die in einem dreistufigen Verfahren archiviert werden müssen: Aufnahme, Sammlung und Bewahrung der Daten. „Digital ist ein trendiges Wort, aber wichtiger als analog oder digital ist die Strukturierung der Informationen“, sagt Ledauphin.
Kartika Pratiwi, Programmdirektorin des „kotakhitam Forum“ aus Indonesien, weiß um die Bedeutung digitaler Dokumente aus eigener Erfahrung. Als Aktivistin sammelt sie eine große Masse an Video- und Audiomaterial über die Massaker von 1965/66 in ihrem Land. Sie sucht jetzt nach Methoden, um ihre Daten und die anderer Aktivisten online zugänglich zu machen. Mit neuen Inspirationen im Gepäck will sie zurück in Indonesien einen neuen Workflow und ein technisches Team aufbauen. Dabei steht die Sicherheit der Daten vor äußerem Zugriff ganz oben auf ihrer Agenda.