Wahlen in Frankreich - das Ende der EU wie wir sie kennen?

"Es wird zu oft gesagt, die EU sei Teil des Problems, wobei sie in Wahrheit entscheidend zur Lösung beiträgt." Die französische Journalistin Natalie Nougayrède ist Fellow an der Robert Bosch Academy und Beobachterin der internationalen Politik. Im Interview spricht sie über die Folgen des Brexits, den Einfluss von Fake News und warum die Wahlen in Frankreich für die Zukunft der EU entscheidend sind.

Robert Bosch Stiftung | April 2017
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Natalie Nougayrède ist französische Journalistin und schreibt über internationale und europäische Angelegenheiten, insbesondere über Sicherheitsfragen und Menschenrechte. 2016 und 2017 war sie Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.

Frau Nougayrède, durch das Auslösen des Artikels 50 hat die britische Regierung den Brexit offiziell eingeleitet. Von Seiten der EU wurde deutlich, dass die Austrittsbedingungen hart verhandelt werden sollen. Und aus einer aktuellen Umfrage geht hervor, dass der Großteil der Europäer der Meinung ist, man solle nicht zulassen, dass die Briten sich lediglich die Vorteile der EU-Mitgliedschaft heraussuchen. Wie ist momentan die Stimmung in der britischen Öffentlichkeit – ist man immer noch zufrieden oder bereut man bereits den Brexit?

Natalie Nougayrède: Jetzt, fast ein Jahr nach dem Brexit-Referendum, ist das Land gespalten: Manche sind für den Verbleib, andere für das Verlassen der EU. Viele, die zu den 48 Prozent gehören, die für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, hatten die Hoffnung, ein vollständiger Austritt könne vermieden werden – sie haben die Hoffnung nach wie vor nicht aufgegeben. Nachdem das Parlament der Premierministerin Theresa May das Mandat erteilt hat, Artikel 50 auszulösen, erscheint dies jedoch sehr unwahrscheinlich. Umfragen, die in der Öffentlichkeit durchgeführt wurden, haben eher gezeigt, dass es nach dem Brexit-Entscheid keine Wende gegeben hat: Diejenigen, die für den Austritt gestimmt haben, halten an ihrer Entscheidung fest – und es könnten sogar mehr sein als im Juni 2016. Politiker, die den Brexit befürworten, versprechen eine glorreiche Zukunft eines "globalen Großbritanniens", das sich im Wesentlichen den USA und der von einigen sogenannten Anglosphere zuwenden würde, zu der auch Teile des ehemaligen British Empire gehören. So könnten die eigenen Interessen besser vertreten werden. Diese Vorstellung ist sehr umstritten. Dennoch hat die Debatte keine Welle des Bedauerns unter denjenigen ausgelöst, die dafür gestimmt haben, die Bande zur EU zu durchtrennen. Ich denke, die Schwierigkeiten, die vorauszusehen sind, werden größtenteils geleugnet. Man ist sich der Auswirkungen des Brexits noch nicht voll bewusst.

Zurzeit gibt es viele Diskussionen über Fake News und über die Rolle der Medien in der politischen Berichterstattung. Wie haben die britischen Medien im Vorfeld des Brexit-Votums agiert? Und welche Rolle spielen sie beim derzeitigen Wahlkampf in Frankreich?

Die Medienlandschaft in Großbritannien war während des Referendums von Befürwortern des Brexits geprägt – diese Sichtweise dominierte vor allem in den Boulevardblättern, die eine hohe Reichweite erzielen. Die BBC gab sich Mühe, neutral zu bleiben. Bei den links orientierten Blättern war die stärkste Stimme für den Verbleib die des Guardian. Fake News spielten eine große Rolle, allerdings vor allem deshalb, weil sie von einflussreichen Politikern verbreitet wurden, die der Bevölkerung versprachen, durch den Brexit könnten hunderte Millionen von Pfund gespart werden, die dem National Health Service zugutekämen: Dies war eine glatte Lüge. In ähnlicher Weise wurden Bilder von Flüchtlingen in Europa von der UK Independence Party dazu instrumentalisiert, den Menschen Angst zu machen, sodass sie für den Brexit stimmten. Diese Manipulationsversuche wurden natürlich in den sozialen Medien aktiv weiterverbreitet. Trotzdem denke ich, das Ergebnis des Votums ist zu großen Teilen der Unzufriedenheit der Unter- und Mittelschicht geschuldet, die sehr unter der Sparpolitik und unter den Kürzungen im Bereich der öffentlichen Ausgaben gelitten haben – wie auch dem Umstand, dass in Großbritannien Verwirrung und eine ausgeprägte Unkenntnis darüber herrschen, was es mit der EU überhaupt auf sich hat. Selbst ohne Fake News wäre es schwierig gewesen, die Bevölkerung vom Verbleib zu überzeugen. Es war zu erwarten, dass es schwer werden würde, Jahrzehnte negativer Berichterstattung im Hinblick auf die EU in Großbritannien einfach ungeschehen zu machen.

In Europa werden die Präsidentschaftswahlen in Frankreich genau verfolgt. Wird die bevorstehende Wahl über das Weiterbestehen der EU, so wie wir sie kennen, entscheiden?

Ja, denn es kann kein Europaprojekt ohne Frankreich als überzeugten und engagierten Mitgliedsstaat geben. Sollten Marine Le Pen oder der Kandidat der äußersten Linken Jean-Luc Mélenchon gewählt werden, würde dies einen regelrechten Schlag für die Europäische Union bedeuten: Beide haben eine extreme Abneigung gegen die EU und möchten im Grunde, dass Frankreich sie verlässt. Wird Fillon gewählt, hat die EU eine Chance, jedoch wird seine Politik wiederum deutlich Putin-freundlicher sein, was den Zusammenhalt in Europa und die gemeinsame Politik zusätzlich deutlich schwächen könnte. Seine Vision ist ein Europa, das von Nationen bestimmt ist, nicht von stärkerer Integration. Emmanuel Macron ist der einzige Kandidat, der zum einen wirklich Chancen hat, gewählt zu werden, und sich zum anderen auch sehr stark für die EU einsetzt. Er betont die Notwendigkeit der intensiveren Zusammenarbeit mit Deutschland – ein sehr wichtiger Punkt.

Die Briten haben sich entschieden, aus der EU auszutreten, die Franzosen könnten eine ähnliche Richtung einschlagen – hängt dies mit der Geschichte der beiden Länder zusammen? Beide waren Weltreiche.

Sicherlich sind im Brexit einige Züge imperialer Nostalgie auszumachen: die Vorstellung, dass Großbritannien immer aufs offene Meer hinausschauen wird statt zum Kontinent. Dennoch greift diese Erklärung auf vielfache Weise zu kurz. Dabei werden soziale und ökonomische Faktoren, die das Votum bestimmt haben, bagatellisiert. Die „Vision vom Weltreich“ scheint eher etwas zu sein, das nach dem Referendum entstanden ist und die Wähler im Juni 2016 nicht beeinflusst hat. Ähnlich ist es in Frankreich: Obwohl das koloniale Erbe dort einen starken Einfluss auf die nationale Politik hat - insbesondere wenn es um das Verhältnis zu den arabischen und muslimischen Einwanderern der zweiten und dritten Generation geht -, kann mit dem Vergangenen nicht erklärt werden, warum Populisten manchem Wähler reizvoll erscheinen. Der Hauptfaktor, den es nicht zu vergessen gilt, ist die hohe Arbeitslosenquote, unter der Frankreich seit Jahrzehnten leidet. Das ist Wasser auf die Mühlen des zornigen Volkes, und daraus schlagen Anti-EU-Politiker Kapital. Das Paradoxe daran ist, dass es gar nicht der öffentlichen Meinung entspricht, aus der EU auszutreten, auch nicht aus der Eurozone.

Abgesehen von diesen Beispielen gibt es auch in weiteren europäischen Ländern starke Bestrebungen, die sich gegen die EU richten. Liegen dem grundlegende Versäumnisse oder gar ein Versagen der EU zugrunde? Wenn ja: Wie können wir diese nationalen Strömungen überwinden?

Die Bekämpfung dieser nationalistischen und populistischen Strömungen ist eine komplexe Aufgabe. Es gibt hierfür keine magische Formel. Das Beispiel der Niederlande, wo Parteien der Mitte wie die D66 bei den Wahlen recht erfolgreich waren, macht deutlich, dass eine zuversichtliche Botschaft von Vernunft und Mäßigung Erfolg haben kann. Die EU muss in einer unvorhersehbaren Welt voller Herausforderungen einen Schutz sowohl für Länder als auch die dort wohnenden Menschen darstellen. Ohne die EU sind wir alle schwächer und in stärkerem Maße äußerem Druck und Bedrohungen ausgesetzt. Doch damit diese Gedanken überzeugender wirken, ist es wichtig, dass die EU und die Regierungen der Mitgliedsstaaten durch ihre Politik für wirtschaftliches Wachstum und Sicherheit sorgen und auch die Frage der Migration berücksichtigen. Es wird zu oft gesagt, die EU sei Teil des Problems, wobei sie in Wahrheit entscheidend zur Lösung beiträgt.

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