Essay
Die Tragödie in Afghanistan: Wege aus der Ohnmacht

Die Lage in Afghanistan muss Anlass sein, eine nachhaltige und menschenwürdige Migrationspolitik auf nationaler und internationaler Ebene zu etablieren. Die Zivilgesellschaft und lokale Behörden können einen wichtigen Beitrag leisten, aber wir müssen dafür die Voraussetzungen schaffen. Ein Essay von Sandra Breka, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung.

Sandra Breka | September 2021
Zwei Jugendliche sitzen vor einem Poster mit der Aufschrift "Welcome".
UNHCR/Andrew McConnell

Im August 2015 wurden Tausende Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof von jubelnden Bürger:innen begrüßt. Die Ohnmacht angesichts der dramatischen Lage in Afghanistan, wo Zehntausende Menschen weiterhin darauf warten, das Land zu verlassen, um internationalen Schutz zu finden, könnte in keinem drastischeren Gegensatz zu damals stehen. Die Migrationspolitik von 2015 fungiert als Negativ für Politik von heute. Vielfach geht es um „Ordnung“ oder „Steuerung“ und darum, die Verantwortung für Flüchtlinge auf die stark belasteten Nachbarstaaten Afghanistans zu begrenzen.

Afghanistan muss für Deutschland und seine Partner:innen Anlass sein, eine nachhaltige und menschenwürdige Migrationspolitik zu etablieren. Dabei geht es auch um weitsichtige Vorsorge, denn Migration und andere drängende Herausforderungen wie Klimawandel, Ungleichheit und Konflikte bedingen sich gegenseitig. Unser derzeitiges internationales Migrationssystem ist auf die Folgen dieser Wechselbeziehungen nicht vorbereitet.

Die überragende Mehrzahl der weltweit 26,4 Millionen Flüchtlinge befindet sich außerhalb Europas – das sich immer weiter abschottet. Auch in Deutschland sind Asylanträge seit 2016 stark rückläufig und könnten 2021 den niedrigsten Stand seit acht Jahren erreichen. Die Tragödien im Mittelmeer oder im schwer belasteten Libanon, wo jeder Sechste ein Flüchtling ist, bleiben ungelöst.

Sandra Breka
Gene Glover

Über die Person

Sandra Breka ist Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung. Vor ihrem Eintritt in die Stiftung im Jahre 2001 war sie beim Aspen Institute in Berlin sowie beim American Council on Germany in New York tätig. Nach ihrem Studium in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten erhielt Sandra Breka ihren Master an der Columbia University in New York. Im Jahr 2008 war sie Yale World Fellow.

Internationale Solidarität: Humanitäre Verpflichtung und staatliches Eigeninteresse

Es bedarf geordneter, legaler und sicherer Aufnahmemöglichkeiten für Flüchtlinge – in Deutschland und Europa, um für Krisen vorzusorgen und Alternativen zu gefährlichen Fluchtrouten zu entwickeln. Internationale Solidarität und der Schutz der Menschenwürde sind dabei humanitäre Verpflichtung und staatliches Eigeninteresse zugleich.

In Iran und Pakistan leben bereits heute rund 90 Prozent der 2,2 Millionen registrierten afghanischen Flüchtlinge. Die Umsiedlung in andere Länder bietet besonders gefährdeten Menschen den benötigten Schutz. Ohne eine solche internationale Verantwortungsteilung ist Flüchtlingsschutz auf Dauer nicht denkbar. In akuten Krisen sind Aufnahmeprogramme für Zehntausende Menschen eine Lebensversicherung.

Weltweit jedoch klafft die Lücke zwischen der Zahl der Flüchtlinge, die laut Vereinten Nationen eine Umsiedlung benötigen, und staatlichen Zusagen weit auseinander. Vor der Pandemie wurden nur rund fünf Prozent der besonders gefährdeten Flüchtlinge umgesiedelt. Deutschland bietet dieses Jahr über Aufnahmeprogramme bis zu 6 800 Flüchtlingen Schutz. Fachleute und Teile der Politik fordern mindestens 40 000 Aufnahmen pro Jahr. Während staatliches Handeln fehlt oder nur schleppend erfolgt, versuchen Zivilgesellschaft und Kommunen, Flüchtlingen Schutz zu bieten.

Es bedarf geordneter, legaler und sicherer Aufnahmemöglichkeiten für Flüchtlinge in Deutschland und Europa.

Viele Deutsche unterstützen Programme zur Aufnahme von Flüchtlingen

Was wollen die Bürger:innen im Land? Der Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ fordert ein EU-Aufnahmeprogramm und eine Koalition der Willigen mit Deutschland, sollte es keine gesamteuropäische Lösung geben. 270 deutsche Städte und Kommunen bekundeten gemeinsam mit rund 70 Städten weltweit ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen, nun auch aus Afghanistan.

Dieses Engagement sollte ergänzend zu einem angemessenen staatlichen Aufnahmeprogramm angenommen und öffentlich gefördert werden. Das so genannte Community Sponsorship für Flüchtlinge bedeutet, dass Gruppen oder Kommunen Unterstützung bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen bieten und/oder finanzielle Mittel beisteuern. Dafür müssten diese Akteur:innen auch an Entscheidungen zur Aufnahme von Geflüchteten stärker beteiligt werden. In einer diesjährigen bundesweiten Erhebung von „More in Common“ gaben 22 Prozent der befragten Personen an, dass sie sich vorstellen könnten, zu einer solchen Initiative beizutragen.

Kanada hat mit einem derartigen Programm seit 1979 rund 300.000 Flüchtlinge empfangen. In Deutschland wurde 2019 ein Pilotprogramm eingerichtet, über das insgesamt bis zu 500 Personen in einer staatlich-zivilgesellschaftlichen Partnerschaft aufgenommen werden sollen, zusätzlich zu rein staatlichem Handeln. Das Community Sponsorship hat zahlreiche Vorteile: Die Integration der Flüchtlinge wird durch persönliche Beziehungen und individuelle Unterstützung gefördert – und kann so Integration stärken und einer gesellschaftlichen Polarisierung entgegenwirken.

Eine neue Bundesregierung hat die Chance, die Flüchtlingspolitik international und national neu zu gestalten. Von Zivilgesellschaft und Kommunen unterstützte Aufnahmeprogramme können einen wichtigen Beitrag leisten – auch für die europäische und internationale Migrationspolitik. Es gibt Wege aus der Ohnmacht, es gilt sie zu gestalten.

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