Auch wenn es in den vergangenen Jahrzehnten Fortschritte gab: Menschen mit Migrationshintergrund sind in deutschen Parlamenten unterrepräsentiert. Eine aktuelle Studie liefert dazu Daten – und erklärt die Gründe für die strukturellen Hürden.
„Menschen mit Migrationshintergrund müssen in der Politik oftmals erst einen ‚Misstrauensvorschuss‘ abbauen“, meint Iftikhar Malik, Rechtsanwalt und für die SPD in der Hamburgischen Bürgerschaft. Malik ist in Deutschland geboren, seine Eltern kommen aus Pakistan. Mühsam müsse er immer wieder Vorbehalte ausräumen. Er wurde schon wiederholt mit Vorurteilen konfrontiert: Er sei frauenfeindlich oder habe demokratiefeindliche Einstellungen. „Das kostet viel Kraft, die ich lieber in die politische Arbeit stecken würde.“
Dass Malik nicht allein ist mit seinen Erfahrungen, zeigen Ergebnisse des von der Robert Bosch Stiftung geförderten Forschungsprojektes „REPCHANCE – Vielfalt in die Parlamente!“. Es hat die Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte in deutschen Parlamenten untersucht.
Ein zentrales Ergebnis der Studie: Menschen mit Migrationshintergrund sind in deutschen Parlamenten unterrepräsentiert. Während in der deutschen Bevölkerung mehr als jede:r Vierte (27,2 Prozent) einen Migrationshintergrund hat, sind es unter den Abgeordneten des Bundestages nur 11,4 Prozent. Noch größer ist die Lücke in den Landesparlamenten – dort machen Menschen mit Migrationsgeschichte nur 7,3 Prozent aus.
Die Forschenden haben auch nach den Gründen dafür gesucht. „Wir haben dafür unter anderem Abgeordnete gefragt, welche Umstände für ihre Karriere förderlich waren“, erklärt Andreas Wüst, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule München und Leiter des Forschungsprojektes. „So fragten wir zum Beispiel, ob ihnen bestimmte Förderprogramme beim Gang in Parlamente geholfen haben.“ Es sei erstaunlich, so der Forscher, dass größere, stark formalisierte Förderprogramme von vielen Befragten kaum genutzt und teils kritisch gesehen würden. Mentoring-Beziehungen, die auf persönlicher Ebene entstehen, sind der Befragung zufolge für eine erfolgreiche politische Laufbahn dagegen äußerst förderlich.
„Für Menschen mit Migrationsgeschichte sind die Mauern in der Politik oft aus Beton“, findet Ekin Deligöz, parlamentarische Staatssekretärin im Deutschen Bundestag. Im Kindesalter siedelte sie mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland über. Sie hat sich für eine Laufbahn in der Politik entschieden: Seit 1998 sitzt Deligöz als Mitglied für die Grünen im Deutschen Bundestag – und stößt als Abgeordnete mit Migrationsgeschichte immer wieder an Grenzen: „Vorurteile und Diskriminierungstendenzen sind in meinem Arbeitsumfeld allgegenwärtig. Egal, welche Position ich annehme, ich starte bei null. Eine Frau mit Migrationshintergrund muss sich immer beweisen“, sagt sie.
Entscheidend für diese Situation sind die Parteien. Der Politikwissenschaftler Wüst schreibt ihnen eine Gatekeeper-Funktion zu: „Parteien sind Selektoren. Über ihre Landeslisten legen sie fest, wer gute Chancen hat, in ein Parlament einzuziehen und wer nicht“, sagt er. Es gibt viele Faktoren, wie man auf einer solchen Liste landet. Teils müssen Parteien bestimmte Proporz-Vorgaben (Regionen, Parteiflügel) oder Quoten (vor allem Frauen) erfüllen, die migrantische Bewerber:innen eher ins Aus katapultieren.
Noch schwieriger ist eine Direktkandidatur, wie Ekin Deligöz anmerkt: „Je direkter die Wahl, desto weniger Chancen haben Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen.“ Sie fordert, dass es Pflicht der Parteien sein müsse, diese in die Öffentlichkeit zu bringen und sichtbar zu machen. „Sonst haben diese Menschen keine Chance.“
Wie gut Menschen mit Migrationshintergrund repräsentiert sind, hängt stark von der jeweiligen Partei ab. Parteien des linken Spektrums haben dreimal so häufig Abgeordnete mit Migrationshintergrund als Parteien des rechten Spektrums. „Abgeordnete mit Migrationshintergrund berichteten darüber, dass es in Parteien insbesondere im Hinblick auf eine politische Karriere noch Defizite gibt“, sagt Wüst. „Sie sehen, dass sie nicht dieselben Chancen haben wie ihre Mitstreiter:innen ohne Migrationsgeschichte. Und meinen, dass es in Parteien Strukturen gibt, die ihnen den Erfolg erschweren.“ Für eine politische Karriere ist der Zugang zu parteiinternen Netzwerken sehr wichtig. Der aber ist gerade für Menschen, die nicht aus der Mehrheitsgesellschaft kommen, besonders schwierig.
Dass Menschen mit Migrationshintergrund seltener in Parlamente kommen, hat auch andere Gründe. So fehlt ihnen häufig der Zugang zu informellem Wissen über politische Prozesse. In den Interviews mit 60 Abgeordneten erfuhr das Forschungsteam, dass viele zu Beginn ihrer politischen Karriere nur unzureichend darüber Bescheid wissen, wie politische Arbeit funktioniert und wie man innerhalb von Parteien zu einer Nominierung kommt. „Für Menschen mit Migrationshintergrund ist ein politisches Mandat auch oft außerhalb ihres Vorstellungsraumes“, fügt der Wissenschaftler hinzu.
Deligöz und Malik möchten das ändern – und Menschen mit Migrationsgeschichte den Weg in die Politik erleichtern. In ihrem Kreisverband unterstützte Deligöz beispielsweise eine junge Migrantin dabei, einen Listenplatz zu bekommen. Malik bemüht sich mithilfe von Praktikumsplätzen, Menschen aus benachteiligten Verhältnissen mit dem Politikbetrieb vertraut zu machen. Seit er in der Hamburgischen Bürgerschaft sitzt, hat er schon rund 60 Praktikumsplätze vergeben. „Viele sagen mir, dass ich ihnen Türen geöffnet habe“, sagt er. „Es macht mich stolz, wenn diese jungen Menschen dann ihre Perspektiven in die Gremien einbringen und sich selbst um Ämter bemühen.“
Fortschritte zeigen sich auch in der Bestandsaufnahme im Rahmen von REPCHANCE. Seit 1990 hat die Zahl der Abgeordneten mit Migrationshintergrund sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene stark zugenommen. Allerdings gibt es unterschiedliche Entwicklungsstände: Während der Anteil der Parlamentarier:innen mit Migrationshintergrund in den Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen sogar über dem Anteil der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund liegt, sind Menschen mit Migrationshintergrund gerade in den Landtagen der westdeutschen Flächenländer in den Landtagen deutlich schlechter repräsentiert als in der Gesamtbevölkerung. Die Repräsentationslücke von Menschen mit Migrationshintergrund ist hier also besonders groß.
Nach einer Wahl begegnen den Menschen in Parlamenten oftmals Muster von Instrumentalisierung und auch Diskriminierung. So würden sie oft mit Themen rund um Migration betraut – unabhängig davon, ob das tatsächlich ihre Fachexpertise ist. Auffällig ist auch, dass sie im Schnitt deutlich kürzer in Parlamenten sitzen: Aus dem Bundestag scheiden sie im Schnitt bereits nach 1,7 Mandaten aus, während Abgeordnete ohne Migrationshintergrund im Schnitt 2,7 Mandate absolvieren. Laut der Studie werden die Abgeordneten oft nicht erneut nominiert oder aufgestellt. Die Erhebungen von Andreas M. Wüst und seinem Team legen den Schluss nahe, dass Abgeordnete mit Migrationshintergrund in Parlamenten nicht selten Alibipositionen einnehmen sollen, damit die jeweilige Partei diverser erscheint (Tokenism) – und dementsprechend werden sie von ihren Parteien möglicherweise häufiger als andere Abgeordnete als austauschbar betrachtet.
Aus der Sicht von Parlamentarier Iftikhar Malik ist es wichtig, in Sachen Marginalisierung neue Strategien zu finden. „Mir hat es geholfen, zu verstehen, dass ich nicht allein bin und dass alle unterrepräsentierten Gruppen mit ähnlichen Problemen kämpfen“, sagt er und rät, sich Verbündete zu suchen. Denn langfristig, davon ist Malik überzeugt, sei mehr Diversität in den Parlamenten ein Gewinn für alle.
Diversität ist das Buzzword unserer Zeit. Unternehmen, Behörden oder Vereine machen es sich zum Aushängeschild. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Wie schaffen wir echte Vielfalt? Und wo ist Diskriminierung nach wie vor vorhanden oder verstärkt sich gar – diesen Fragen wollen wir in diesem Dossier auf den Grund gehen.