Aktuelle Studie „REPCHANCE“

Vor hohen Mauern – warum der Zugang zur Politik für Menschen mit Migrations­hinter­grund noch immer schwierig ist

Auch wenn es in den vergangenen Jahrzehnten Fortschritte gab: Menschen mit Migrationshintergrund sind in deutschen Parlamenten unterrepräsentiert. Eine aktuelle Studie liefert dazu Daten – und erklärt die Gründe für die strukturellen Hürden. 

Autorin
Lisa Kuner
Bilder
Pia Bublies, privat, Hochschule München, Martin Ebert
Datum
25. September 2024
Lesezeit
7 Minuten

„Menschen mit Migrationshintergrund müssen in der Politik oftmals erst einen ‚Misstrauensvorschuss‘ abbauen“, meint Iftikhar Malik, Rechtsanwalt und für die SPD in der Hamburgischen Bürgerschaft. Malik ist in Deutschland geboren, seine Eltern kommen aus Pakistan. Mühsam müsse er immer wieder Vorbehalte ausräumen. Er wurde schon wiederholt mit Vorurteilen konfrontiert: Er sei frauenfeindlich oder habe demokratiefeindliche Einstellungen. „Das kostet viel Kraft, die ich lieber in die politische Arbeit stecken würde.“ 

Zur Person

Iftikhar Malik

wurde 1990 in Geesthacht in Schleswig-Holstein geboren. Schon während seiner Schulzeit trat er in die SPD ein, weil er das Gefühl hatte, dass Perspektiven wie seine in der Politik nicht repräsentiert sind. Er ist seit 2020 Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft, des Hamburger Parlamentes. Politisch arbeitet er insbesondere zu Gleichstellung, Antidiskriminierung und sozialen Themen. Sein politisches Mandat übt er in Teilzeit aus und arbeitet daneben als Rechtsanwalt.

Dass Malik nicht allein ist mit seinen Erfahrungen, zeigen Ergebnisse des von der Robert Bosch Stiftung geförderten Forschungsprojektes „REPCHANCE – Vielfalt in die Parlamente!“. Es hat die Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte in deutschen Parlamenten untersucht.

Grafik eines Parlamentsplenums
Studie

REPCHANCE

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Deutschland ist ein Einwanderungsland. Knapp 30 % der Bevölkerung haben inzwischen einen Migrationshintergrund. Doch diese Diversität spiegelt sich nur bedingt in den Parlamenten wider. Die Studie REPCHANCE liefert Zahlen und untersucht die strukturellen Hintergründe.

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Menschen mit Migrationshintergrund sind unterrepräsentiert

Ein zentrales Ergebnis der Studie: Menschen mit Migrationshintergrund sind in deutschen Parlamenten unterrepräsentiert. Während in der deutschen Bevölkerung mehr als jede:r Vierte (27,2 Prozent) einen Migrationshintergrund hat, sind es unter den Abgeordneten des Bundestages nur 11,4 Prozent. Noch größer ist die Lücke in den Landesparlamenten – dort machen Menschen mit Migrationsgeschichte nur 7,3 Prozent aus.

Illustration zeigt die Repräsentationslücke von Menschen mit Migrationshintergrund in deutschen Parlamenten

Die Forschenden haben auch nach den Gründen dafür gesucht. „Wir haben dafür unter anderem Abgeordnete gefragt, welche Umstände für ihre Karriere förderlich waren“, erklärt Andreas Wüst, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule München und Leiter des Forschungsprojektes. „So fragten wir zum Beispiel, ob ihnen bestimmte Förderprogramme beim Gang in Parlamente geholfen haben.“ Es sei erstaunlich, so der Forscher, dass größere, stark formalisierte Förderprogramme von vielen Befragten kaum genutzt und teils kritisch gesehen würden. Mentoring-Beziehungen, die auf persönlicher Ebene entstehen, sind der Befragung zufolge für eine erfolgreiche politische Laufbahn dagegen äußerst förderlich.

Zur Person

Prof. Dr. Andreas M. Wüst

Der Professor für Politikwissenschaften an der Hochschule München beschäftigt sich intensiv mit Fragen der Wahl- und Repräsentationsforschung. Vor seiner Zeit in München hat Wüst an den Universitäten Mannheim, Heidelberg und Stuttgart gelehrt und geforscht.

„Für Menschen mit Migrationsgeschichte sind die Mauern in der Politik oft aus Beton“, findet Ekin Deligöz, parlamentarische Staatssekretärin im Deutschen Bundestag. Im Kindesalter siedelte sie mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland über. Sie hat sich für eine Laufbahn in der Politik entschieden: Seit 1998 sitzt Deligöz als Mitglied für die Grünen im Deutschen Bundestag – und stößt als Abgeordnete mit Migrationsgeschichte immer wieder an Grenzen: „Vorurteile und Diskriminierungstendenzen sind in meinem Arbeitsumfeld allgegenwärtig. Egal, welche Position ich annehme, ich starte bei null. Eine Frau mit Migrationshintergrund muss sich immer beweisen“, sagt sie.

Zur Person

Ekin Deligöz

ist seit 1988 Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und seit 1998 Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Hier war sie unter anderem stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie kinder-und jugendpolitische Sprecherin der Fraktion der Grünen. Aktuell ist Deligöz parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Parteien als Gatekeeper

Entscheidend für diese Situation sind die Parteien. Der Politikwissenschaftler Wüst schreibt ihnen eine Gatekeeper-Funktion zu: „Parteien sind Selektoren. Über ihre Landeslisten legen sie fest, wer gute Chancen hat, in ein Parlament einzuziehen und wer nicht“, sagt er. Es gibt viele Faktoren, wie man auf einer solchen Liste landet. Teils müssen Parteien bestimmte Proporz-Vorgaben (Regionen, Parteiflügel) oder Quoten (vor allem Frauen) erfüllen, die migrantische Bewerber:innen eher ins Aus katapultieren. 

Noch schwieriger ist eine Direktkandidatur, wie Ekin Deligöz anmerkt: „Je direkter die Wahl, desto weniger Chancen haben Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen.“ Sie fordert, dass es Pflicht der Parteien sein müsse, diese in die Öffentlichkeit zu bringen und sichtbar zu machen. „Sonst haben diese Menschen keine Chance.“

Illustration zeigt Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund in einzelnen Parteien

Wie gut Menschen mit Migrationshintergrund repräsentiert sind, hängt stark von der jeweiligen Partei ab. Parteien des linken Spektrums haben dreimal so häufig Abgeordnete mit Migrationshintergrund als Parteien des rechten Spektrums. „Abgeordnete mit Migrationshintergrund berichteten darüber, dass es in Parteien insbesondere im Hinblick auf eine politische Karriere noch Defizite gibt“, sagt Wüst. „Sie sehen, dass sie nicht dieselben Chancen haben wie ihre Mitstreiter:innen ohne Migrationsgeschichte. Und meinen, dass es in Parteien Strukturen gibt, die ihnen den Erfolg erschweren.“ Für eine politische Karriere ist der Zugang zu parteiinternen Netzwerken sehr wichtig. Der aber ist gerade für Menschen, die nicht aus der Mehrheitsgesellschaft kommen, besonders schwierig.

„Für viele ist ein politisches Mandat außerhalb des Vorstellungsraumes“

Dass Menschen mit Migrationshintergrund seltener in Parlamente kommen, hat auch andere Gründe. So fehlt ihnen häufig der Zugang zu informellem Wissen über politische Prozesse. In den Interviews mit 60 Abgeordneten erfuhr das Forschungsteam, dass viele zu Beginn ihrer politischen Karriere nur unzureichend darüber Bescheid wissen, wie politische Arbeit funktioniert und wie man innerhalb von Parteien zu einer Nominierung kommt. „Für Menschen mit Migrationshintergrund ist ein politisches Mandat auch oft außerhalb ihres Vorstellungsraumes“, fügt der Wissenschaftler hinzu.

Kommentar unseres Experten
Ferdinand Mirbach
Integration & Demokratie

Warum unsere Parlamente mehr Politiker:innen mit Migrationshintergrund brauchen

Unser Senior Expert Ferdinand Mirbach zu den Ergebnissen der Studie REPCHANCE.

Deligöz und Malik möchten das ändern – und Menschen mit Migrationsgeschichte den Weg in die Politik erleichtern. In ihrem Kreisverband unterstützte Deligöz beispielsweise eine junge Migrantin dabei, einen Listenplatz zu bekommen. Malik bemüht sich mithilfe von Praktikumsplätzen, Menschen aus benachteiligten Verhältnissen mit dem Politikbetrieb vertraut zu machen. Seit er in der Hamburgischen Bürgerschaft sitzt, hat er schon rund 60 Praktikumsplätze vergeben. „Viele sagen mir, dass ich ihnen Türen geöffnet habe“, sagt er. „Es macht mich stolz, wenn diese jungen Menschen dann ihre Perspektiven in die Gremien einbringen und sich selbst um Ämter bemühen.“

In westdeutschen Flächenstaaten ist die Repräsentationslücke besonders groß

Fortschritte zeigen sich auch in der Bestandsaufnahme im Rahmen von REPCHANCE. Seit 1990 hat die Zahl der Abgeordneten mit Migrationshintergrund sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene stark zugenommen. Allerdings gibt es unterschiedliche Entwicklungsstände: Während der Anteil der Parlamentarier:innen mit Migrationshintergrund in den Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen sogar über dem Anteil der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund liegt, sind Menschen mit Migrationshintergrund gerade in den Landtagen der westdeutschen Flächenländer in den Landtagen deutlich schlechter repräsentiert als in der Gesamtbevölkerung. Die Repräsentationslücke von Menschen mit Migrationshintergrund ist hier also besonders groß.

Illustration zeigt die Repräsentationslücke vor allem in westdeutschen Flächenländern

Kürzere Mandatsdauer

Nach einer Wahl begegnen den Menschen in Parlamenten oftmals Muster von Instrumentalisierung und auch Diskriminierung. So würden sie oft mit Themen rund um Migration betraut – unabhängig davon, ob das tatsächlich ihre Fachexpertise ist. Auffällig ist auch, dass sie im Schnitt deutlich kürzer in Parlamenten sitzen: Aus dem Bundestag scheiden sie im Schnitt bereits nach 1,7 Mandaten aus, während Abgeordnete ohne Migrationshintergrund im Schnitt 2,7 Mandate absolvieren. Laut der Studie werden die Abgeordneten oft nicht erneut nominiert oder aufgestellt. Die Erhebungen von Andreas M. Wüst und seinem Team legen den Schluss nahe, dass Abgeordnete mit Migrationshintergrund in Parlamenten nicht selten Alibipositionen einnehmen sollen, damit die jeweilige Partei diverser erscheint (Tokenism) – und dementsprechend werden sie von ihren Parteien möglicherweise häufiger als andere Abgeordnete als austauschbar betrachtet.

Illustration zeigt signifikant kürzere Karrieren im Bundestag

Aus der Sicht von Parlamentarier Iftikhar Malik ist es wichtig, in Sachen Marginalisierung neue Strategien zu finden. „Mir hat es geholfen, zu verstehen, dass ich nicht allein bin und dass alle unterrepräsentierten Gruppen mit ähnlichen Problemen kämpfen“, sagt er und rät, sich Verbündete zu suchen. Denn langfristig, davon ist Malik überzeugt, sei mehr Diversität in den Parlamenten ein Gewinn für alle.

Tiefer ins Thema führt auch unsere Podiumsdiskussion mit Politiker:innen mit Migrationshintergrund, die von ihren persönlichen Erfahrungen berichten.
drei Personen verschiedenen Geschlechts und Hautfarbe betrachten sich im Spiegel
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