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Wie vielfältig sind deutsche Parlamente?

Stolperstein Migrationsgeschichte: In deutschen Parlamenten sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte immer noch unterrepräsentiert. Das Forschungsprojekt „Repchance“ will herausfinden, wie man es besser machen kann – und zeigt dabei auch, wo die größten Fallstricke auf dem Weg in die Politik liegen.

Text
Sabine Fischer
Bilder
IMAGO/Jens Schicke; Martin Ebert; privat
Datum
23. Mai 2023

Für Menschen mit Migrationsgeschichte sind die Mauern in der Politik oft aus schwerem Beton gebaut, findet Ekin Deligöz, parlamentarische Staatssekretärin im Deutschen Bundestag. Im Kindesalter siedelte sie mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland über. Hier hat sie sich für eine Laufbahn in der Politik entschieden: Seit 1998 ist Deligöz Mitglied des Deutschen Bundestags – und stößt als Abgeordnete mit Migrationsgeschichte immer wieder an Grenzen: „Vorurteile und Diskriminierungstendenzen sind in meinem Arbeitsumfeld allgegenwärtig. Egal, welche Position ich annehme, ich starte immer bei null. Eine Frau mit Migrationshintergrund muss sich immer beweisen“, sagt sie.

Ekin Deligöz

Sie ist seit 1988 Mitglied von Bündnis 90/die Grünen und seit 1998 Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Hier war sie unter anderem stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/die Grünen. Aktuell ist Deligöz parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Sind Ekin Deligöz‘ Erfahrungen typisch für unser politisches System? Welche Faktoren helfen Menschen mit Migrationsgeschichte auf ihrem Weg in politische Ämter? Und wie steht es eigentlich um die Repräsentation dieser Bevölkerungsgruppen in deutschen Parlamenten? Diesen Fragen geht das Forschungsprojekt „Repchance“, gefördert von der Robert Bosch Stiftung, genauer auf den Grund. 

„Wir führen dafür unter anderem persönliche Interviews mit Abgeordneten, um herauszufinden, was für ihre Karriere förderlich war“, erklärt Andreas Wüst, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule München und Leiter des Forschungsprojekts. „So haben wir zum Beispiel gefragt, ob es bestimmte Förderprogramme gab, die dazu beigetragen haben, in Parlamente zu gelangen oder Karriere zu machen“, sagt er. „Unsere bisherigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass große, strukturell angelegte Angebote nicht so wichtig für politischen Erfolg sind. Netzwerke, die im Kleinen entstehen, scheinen förderlicher zu sein.“ Einen Einblick in die quantitativen Ergebnisse finden Sie auf mediendienst-integration.de.

Professor Dr. Andreas Wüst

Der Professor für Politikwissenschaften an der Hochschule München beschäftigt sich intensiv mit Fragen der Wahl- und Repräsentationsforschung. Vor seiner Zeit in München war Wüst Lehrbeauftragter am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Stuttgart. 

Generell scheint der Weg in die Politik für Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland steinig. Die ersten quantitativen Ergebnisse der Studie zeigen eine klaffende Repräsentationslücke – besonders auf Landesebene: Laut des Statistischen Bundesamts hatten 2021 rund 27 Prozent der deutschen Bevölkerung eine Einwanderungsgeschichte. Zur selben Zeit waren jedoch nur 7,2 Prozent der Abgeordneten auf Landesebene Bürger:innen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte. 

Ein entscheidender Faktor für dieses Ungleichgewicht sind Parteien. Wüst schreibt ihnen eine Art Gatekeeper-Funktion zu: „Parteien sind Selektoren. Über die Entscheidung über Landeslisten legen sie fest, wer gute Chancen hat, in ein Parlament einzuziehen und wer nicht“, sagt er. Wer letztlich auf einer solchen Liste landet, dafür gibt es vielschichtige Gründe. Teils müssen Parteien bestimmte Proporz-Vorgaben oder Quoten erfüllen, die migrantische Bewerber:innen nicht selten ins Aus katapultieren. Diese Problematik kennt auch Ekin Deligöz: 

„Je direkter die Wahl, desto weniger Chancen haben Menschen, die aus der Reihe fallen. Parteien müssen Möglichkeiten schaffen, um unterrepräsentierte Gruppen in die Öffentlichkeit zu bringen und sie sichtbar zu machen. Sonst haben diese keine Chance.“ 

Zitat vonEkin Deligöz, Abgeordnete im Deutschen Bundestag

Doch gerade hier scheint es bei den meisten Parteien Nachholbedarf zu geben. „Abgeordnete mit Migrationshintergrund berichteten darüber, dass die Offenheit ihrer Parteien noch zu wünschen übrig lässt. Viele von ihnen sehen nicht, dass sie dieselben Chancen erhalten wie Menschen ohne Migrationsgeschichte. Und sie stellen fest, dass es in Parteien Strukturen gibt, die es ihnen erschweren, erfolgreich zu sein“, so Wüst. 

„Das stimmt“, bestätigt Deligöz. „Wenn man Teil des Systems ist, erlebt man als migrantische Person immer wieder die Konfrontation mit Vorurteilen. Oft soll man vor allem ein bestimmtes Bild repräsentieren. Es entspricht nicht den allgemeinen Erwartungen, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte sich für andere Themen interessieren als für die, die ihnen sowieso zugeschrieben werden.“ 

Genau deshalb möchte sie es besser machen – und den Weg in die Politik für Menschen mit Migrationsgeschichte ebnen. In ihrem Kreisverband hat sie gerade erst eine junge Migrantin dabei unterstützt, einen Listenplatz zu bekommen. „Junge Bewerber:innen profitieren davon, dass wir Strukturen geschaffen haben, die ihnen jetzt helfen. Ich bin froh, dass ich hier Wegbereiterin bin“, sagt Deligöz. Auch Wüst sieht durchaus eine positive Entwicklung. 

„Die Repräsentation wird immer besser, das ist die gute Nachricht. Wir haben seit 1990 große Schritte gemacht.“

Zitat vonAndreas Wüst, Professor für Politikwissenschaften an der Hochschule München

Die Frage bleibt, wo konkrete Ansatzpunkte liegen, um die Lücke zu schließen. „Chancengleichheit innerhalb der Parteien zu gewährleisten, ist sehr wichtig. Doch auch die Zivilgesellschaft und Förderinstitutionen können z.B. durch Trainings oder andere Programme die Startbedingungen und Chancen verbessen“, so Wüst.
Außerdem spricht er gesellschaftliche Aufgaben an: Viele migrantische Personen seien zum Beispiel stärker von Hate Speech betroffen als Menschen ohne Migrationsgeschichte. „Das führt dazu, dass für sie oft eine größere Hürde vorhanden ist, um politisch aktiv zu werden. Als offene Gesellschaft müssen wir diese Probleme ansprechen und Hürden abbauen.“

Über das Projekt

Zur Projektseite

Im Projekt „Repchance“ untersucht die Hochschule München durch quantitative und qualitative Forschung, wie es um die Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte in deutschen Parlamenten bestellt ist und welche Faktoren politische Karrieren für Menschen mit Migrationshintergrund fördern – oder auch verhindern. Derzeit liegen erste Zwischenergebnisse vor. Finale Ergebnisse, auch international vergleichend, werden 2024 vorgelegt. Das Forschungsprojekt wird gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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