Kommentar

Wenn stille Gruppen nicht mehr still sind…

Lange Zeit galten Menschen mit Migrationsgeschichte als stille, also wenig beteiligte Gruppe. Das ändert sich zunehmend und ist ein Gewinn für die Demokratie. Dennoch bestehen weiterhin Hürden. Ein Meinungsbeitrag von Ferdinand Mirbach, Senior Experte im Thema Einwanderungsgesellschaft der Robert Bosch Stiftung.
 

Text
Ferdinand Mirbach
Bilder
IMAGO/Panthermedia
Datum
19. Juli 2023

Die gute Nachricht vorneweg: Das mit der gesellschaftlichen Teilhabe ist eigentlich gar nicht so schwer! Im Grundsatz steht es jedem Menschen offen, sich in zivilgesellschaftliche und politische Prozesse einzubringen. Zivilgesellschaftliche Teilhabe entsteht beispielsweise durch bürgerschaftliches Engagement, wie die Mitwirkung in Vereinen oder freiwillige, unentgeltliche Arbeit. Politische Beteiligung beginnt bei der Unterzeichnung von Petitionen, der Teilnahme an Demonstrationen oder der Mitgliedschaft in einer Partei (Formen informeller Beteiligung) und reicht bis zur Teilnahme an Wahlen als Wähler:in oder Kandidat:in (Formen der formellen Beteiligung). Soweit die Theorie. 

Die Praxis – und das ist die nicht ganz so gute Nachricht – ist erheblich komplexer und voraussetzungsvoller! Besonders deutlich wird dies bei Menschen mit Migrationsgeschichte, die, ebenso wie beispielsweise Kinder und Jugendliche oder Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, in der Partizipationsforschung als „stille Gruppe“ gelten. Damit sind Menschen gemeint, die in Partizipationsprozessen kaum gehört oder unzureichend vertreten sind. Die Gründe für deren mangelnde Teilhabe sind vielfältig, lassen sich im Kern aber auf die folgende Aussage verkürzen: Teilhaben muss man dürfen, können und wollen!

Über die Person

Dr. Ferdinand Mirbach

Der Senior Expert im Thema Einwanderungsgesellschaft promovierte über die „Politische Teilhabe von Muslimen in Deutschland“ an der Universität Göttingen. In der Robert Bosch Stiftung liegt sein Fokus auf dem guten Zusammenleben in heterogenen Gesellschaften, der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte und der Bekämpfung von Diskriminierung.

Bürger:innen zweiter Klasse?!

In Deutschland ist die formelle politische Beteiligung an die deutsche Staatsangehörigkeit gebunden. Wer also kein:e Staatsbürger:in ist, darf an der Königsdisziplin der Demokratie, dem Wählen und Gewählt-Werden, nicht teilhaben. 2022 betraf das in Deutschland etwa 11,6 Millionen Menschen. EU-Staatsangehörige, die ca. ein Drittel der in Deutschland lebenden Ausländer:innen ausmachen, verfügen immerhin über ein kommunales Wahlrecht; die annähernd acht Millionen sogenannten Drittstaatenangehörigen profitieren nicht von dieser bestehenden Regelung und bleiben auch von der formellen politischen Teilhabe an ihren Wohnorten ausgeschlossen. 

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder ein kommunales Wahlrecht auch für Drittstaatenangehörige als (Teil-)Lösung zur Erhöhung der Teilhabemöglichkeit von Ausländer:innen ins Spiel gebracht wird, wie es beispielsweise in Belgien, Finnland, Estland, Irland, der Slowakei und Portugal bereits der Fall ist. Eine weitere Option ist der erleichterte Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, um gleichberechtigte politische Rechte für alldiejenigen zu ermöglich, die aus ganz unterschiedlichen Gründen bislang nicht Deutsche werden konnten oder wollten. Die Bundesregierung hat mit ihrem Entwurf zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts hier bereits konkrete Schritte eingeleitet.

„Die einst so stille Gruppe der Menschen mit Migrationsgeschichte erschließt sich immer mehr Räume der Teilhabe. Für die Demokratie ist das eine gute Nachricht."

Zitat vonFerdinand Mirbach, Experte im Themenfeld Einwanderungsgesellschaft
Zitat vonFerdinand Mirbach, Experte im Themenfeld Einwanderungsgesellschaft

Neben diesen formalen Hürden für Teilhabe, also dem „Dürfen“, steht die Frage nach dem „Können“. Damit sind individuelle Ressourcen und Voraussetzungen gemeint. Zunächst einmal muss man sich Teilhabe leisten können – und zwar im direkten Wortsinn: sich beispielsweise ehrenamtlich zu engagieren, kostet mindestens Zeit, womöglich auch Geld. Politische Aktivität – sofern man dieser nachgehen darf – erfordert Wissen über politische Prozesse und setzt Demokratiekompetenzen voraus. Für Menschen mit Migrationsgeschichte, zumindest diejenigen mit einer bislang eher kurzen Aufenthaltsdauer, kommt die Frage der Sprachkompetenz hinzu – deren Fehlen stellt eine enorme Barriere für jede Form der sozialen und gesellschaftlichen Beteiligung dar. All diese Ressourcen und Fähigkeiten müssen, insofern noch nicht vorhanden, aufwändig erworben werden. Der Staat kann und muss hier unterstützend aktiv werden, sei es durch Integrationsangebote, Demokratieschulung oder die Förderung des Ehrenamts.

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Bleibt schließlich das Teilhaben-Wollen! Es gibt genügend in Deutschland lebende Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich politisch vollumfänglich beteiligen dürften und die Ressourcen haben, um es zu können – aber sie tun es dennoch nicht. Warum? Womöglich haben sie kein Interesse, weil sie nicht daran glauben, dass Politik in Deutschland auch für sie gemacht wird. Womöglich sind sie nicht überzeugt von ihrer eigenen Selbstwirksamkeit, davon, dass sie mit ihrer Stimme oder ihrem Engagement einen Unterschied machen. Womöglich fehlen ihnen Vorbilder aus den eigenen Communities, die ihnen zeigen, wie wichtig Repräsentation und Mitsprache sind. Womöglich ist ihr Wille nicht ausreichend stark, weil sich für sie immer wieder zeigt, dass wollen allein nicht reicht.

Es wäre diesen Menschen nicht zu verdenken, die oft genug auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Suche nach einer Wohnung die Erfahrung machen, dass das falsche Aussehen oder ein nicht-deutsch klingender Name jeden Teilhabewunsch sehr schnell zunichtemachen können. 

„Antidiskriminierungsmaßnahmen, positive Narrative und die Stärkung des Gemeinsinns tragen zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte bei."

Zitat vonFerdinand Mirbach, Senior Expert Robert Bosch Stiftung
Zitat vonFerdinand Mirbach, Senior Expert Robert Bosch Stiftung

Teilhabe und Engagement sind vorhanden

Hier nun eine weitere gute Nachricht: Selbst wenn es noch viel zu tun gibt, um eine gleichberechtigte Teilhabe aller in Deutschland sicherzustellen, so zeigt sich doch schon jetzt an vielen Stellen, wie engagiert sich Menschen mit Migrationsgeschichte einbringen und beteiligt sind! Viele von ihnen zeigen überragendes zivilgesellschaftliches Engagement; augenscheinlich wurde das in ihrer Unterstützung von Geflüchteten nach 2015 oder der Fluchtmigration infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, aber auch in anderen Bereichen. Sie wirken in Ausländer- bzw. Integrationsbeiräten mit – zugegebenermaßen meist noch in nur beratender und nicht (mit-)entscheidender Funktion – und gestalten somit das Zusammenleben vor Ort mit. Die deutschlandweit bis zu 14.000 Migrant:innenorganisationen sind inzwischen deutlich mehr als nur „Folklorevereine“: es sind immer mehr politische Akteure und Interessensverbände, die Probleme aufzeigen, politische Forderungen artikulieren und Lösungsvorschläge machen. Die Anzahl von politischen Mandatsträger:innen mit Migrationsgeschichte in Parlamenten von der lokalen Ebene bis hin zum Bundestag nimmt stetig zu und damit auch deren Repräsentation und Sichtbarkeit.

Die einst so stille Gruppe der Menschen mit Migrationsgeschichte erschließt sich also immer mehr Räume der Teilhabe, in der Zivilgesellschaft und der Politik, analog und digital. Für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist das eine gute Nachricht. Natürlich ist es zunächst herausfordernd und nicht immer konfliktfrei, eine Vielstimmigkeit zuzulassen und auszuhalten. Auch ist es nicht einfach, weitere Gruppen an den vielzitierten Tisch zu holen und im Sinne solidarischen Handelns den eigenen Einfluss zu teilen. Auf lange Sicht aber wird die Vielfalt an Perspektiven dazu beitragen, die Herausforderungen unserer Zeit besser zu meistern.  

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