Eine Sonderauswertung unserer Studie Vielfaltsbarometer zeigt: Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte stehen Diversitätsmerkmalen wie ethnischer Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung unterschiedlich offen gegenüber. Diese Unterschiede sollten wir aber nicht als Spaltlinien verstehen – sondern als Impuls, das Fundament unseres Zusammenlebens zu verbessern, argumentiert unsere Migrationsexpertin Raphaela Schweiger.
Wir stehen an einem Wendepunkt im Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt – und die Daten aus dem Vielfaltsbarometer 2025 zeigen, wie schmal der Grat zwischen Offenheit und Verunsicherung geworden ist. Zwar bleibt Vielfalt – gemessen in Bezug auf die Dimensionen Lebensalter, Geschlecht, Behinderung, sexuelle Orientierung, sozioökonomische Schwäche, ethnische Herkunft und Religion – grundsätzlich akzeptiert. Doch die Zustimmung sinkt: 2019 lag die Vielfaltsakzeptanz bei 68 Punkten, heute bei 63. Auch die Neugier auf andere Lebenswelten schrumpft. Während 2019 noch 78 Prozent sagten, Begegnungen mit Menschen aus anderen Ländern seien bereichernd, sind es heute nur noch 54 Prozent.
Das ist kein Ausdruck fundamentaler Ablehnung. Vielmehr erleben viele Menschen ein gesellschaftliches Klima, das sie als gereizt, moralisiert und wenig offen für Dialog empfinden. Das zeigt eine neue Sonderauswertung des Vielfaltsbarometers mit Fokus auf Teilhabe und Zugehörigkeit in der Einwanderungsgesellschaft. 59 Prozent der Befragten haben den Eindruck, „wegen jeder Kleinigkeit als Rassist abgestempelt“ zu werden; rund die Hälfte fühlt, die eigene Meinung nicht mehr frei äußern zu können. Es sind Symptome einer Öffentlichkeit, in der Verunsicherung schnell zu Vorsicht – und aus Vorsicht Schweigen werden kann.
Deutschland ist ein Einwanderungsland und damit geprägt von ethnischer und religiöser Vielfalt. Die Akzeptanz von unterschiedlichen ethnischen Herkünften und Religionen hat in den letzten Jahren jedoch stark abgenommen, wie das Vielfaltsbarometer 2025 zeigt. Wie lassen sich unter diesen Voraussetzungen Teilhabe und Zugehörigkeit in der Einwanderungsgesellschaft für möglichst viele ermöglichen? Wie schauen die in Deutschland lebenden Menschen – solche ohne und solche mit Migrationshintergrund – auf unterschiedliche Aspekte von Vielfalt? Und was sind die Grundlagen für ein gutes Miteinander? Antworten auf diese Fragen liefert die Publikation Teilhabe und Zugehörigkeit in der Einwanderungsgesellschaft, eine Sonderauswertung unserer Studie „Vielfaltsbarometer 2025“.
Gerade deshalb ist es wichtig, die Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund nicht als Spaltlinien zu instrumentalisieren. Sie spiegeln vor allem unterschiedliche Lebenserfahrungen: welche Erfahrungen hat die eigene Familie gemacht, wie viel Kontakt habe ich zu Menschen anderer Kulturen und Religionen, wie divers sind Familien- und Freundeskreis, oder Arbeitsplatz? Die Daten einer Sonderauswertung unseres Vielfaltsbarometers zeigen: Menschen mit Migrationshintergrund sind offener für ethnische und religiöse Vielfalt; Menschen ohne Migrationsgeschichte stehen der Vielfaltsdimension sexuelle Orientierung offener gegenüber. Das sind keine Gegensätze, sondern Facetten eines Landes, das gelernt hat, mit Verschiedenheit zu leben – und gleichzeitig damit ringt, diese Verschiedenheit einzuordnen.
Was die Daten besonders deutlich zeigen, ist das Verständnis von Zugehörigkeit in Deutschland. Für die allermeisten hängt sie nicht vom Pass oder der Herkunft ab, sondern vom Verhalten im Alltag: Gesetze achten (91 Prozent), Deutsch sprechen (86 Prozent), arbeiten (78 Prozent), sich engagieren (53 Prozent). Deutschland hat damit längst ein offenes, staatsbürgerliches Verständnis von „Dazugehören“ entwickelt. Das ist ein enormes Potenzial für eine Einwanderungsgesellschaft – wenn wir es politisch und gesellschaftlich nutzen.
„Das Vielfaltsbarometer zeigt, dass die Mitte der Gesellschaft differenzierter denkt, als die hitzigen Debatten suggerieren.“
Gleichzeitig bleibt das Gefühl des Übersehenwerdens stark: 43 Prozent aller Befragten sagen, sie fühlten sich wie Bürger:innen zweiter Klasse. Viele erleben, dass ihre Bedürfnisse weniger zählen als die anderer Gruppen. Dazu kommen Sorgen über die wirtschaftliche Lage und der Eindruck, dass politische Prozesse zu langsam oder zu weit weg sind. Diese Mischung aus Unsicherheit, Kontrollverlust und geringer Repräsentation ist gefährlich.
Deshalb braucht Deutschland jetzt eine nationale Strategie für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie muss klar in den Blick nehmen, wie Teilhabe verbessert, Diskriminierung konsequenter bekämpft und Partizipation aller gestärkt wird. Sie muss Kommunen besser ausstatten – denn dort entscheidet sich, ob Vielfalt als Chance oder als Überforderung erlebt wird. Und sie braucht eine politische Kultur, die Konflikte nicht sofort moralisierend auflädt, sondern wieder Räume für Fragen, Zweifel und Lernen schafft.
Das Vielfaltsbarometer zeigt, dass die Mitte der Gesellschaft differenzierter denkt, als die hitzigen Debatten suggerieren. Die Menschen wollen weder Polarisierung noch Schönfärberei, sondern Orientierung: Regeln, die nachvollziehbar sind; Verfahren, die funktionieren; Institutionen, die gerecht handeln; und ein öffentlicher Diskurs, in dem unterschiedliche Perspektiven nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Kulturelle und religiöse Vielfalt ist nicht die Herausforderung – der Umgang damit ist es. Deutschland verfügt über ein breites gesellschaftliches Fundament für ein gelingendes Miteinander. Doch dieses Potenzial entfaltet sich nur, wenn klare Regeln, faire Teilhabe und starke Institutionen verlässlich gewährleistet sind. Der Zusammenhalt einer vielfältigen Gesellschaft entsteht dort, wo Orientierung, Vertrauen und Begegnung möglich sind. Wenn es gelingt, diese Bedingungen zu schaffen, kann Deutschland Vielfalt nicht nur aushalten, sondern aus ihr Stärke gewinnen.