Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung

„Barrierefreiheit ist der Schlüssel zu einer inklusiven Gesellschaft“

Hohe Akzeptanzwerte für Menschen mit Behinderung stehen im Widerspruch zu alltäglicher Diskriminierung. Im Interview spricht VdK-Präsidentin Verena Bentele über den „Not-in-my-backyard-Effekt“, neue Wege zur Förderung gesellschaftlicher Solidarität und wie Menschen mit Behinderung in Führungspositionen kommen können. 

Interview
Claudia Hagen
Bilder
Marlene Gawrisch, Susie Knoll
Datum
19. November 2025
82von 100 Punkten erreichte die Akzeptanz der Dimension „Behinderung“ im aktuellen Vielfaltsbarometer der Robert Bosch Stiftung.

Das Vielfaltsbarometer der Robert Bosch Stiftung zeigt: Die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderung ist seit Jahren konstant hoch. Trotzdem geht es bei jeder vierten Anfrage an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes um Benachteiligung wegen Behinderung. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch? 

Verena Bentele: Die insgesamt guten und stabilen Akzeptanzwerte in der Dimension Behinderung haben gewiss viel mit einem Paradigmenwechsel durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu tun. Das gesellschaftliche Bewusstsein für Menschen mit Behinderung ist gestiegen.

In der Praxis kann es jedoch ganz anders aussehen, wenn Menschen mit Behinderung ihre Rechte einfordern und gleichberechtigt am Leben teilhaben möchten – so, wie es für andere selbstverständlich ist. Erklären lässt sich die Diskrepanz auch mit dem „Not-in-my-backyard-Effekt“. Der beschreibt eine Haltung, bei der Menschen grundsätzlich bestimmte gesellschaftliche Maßnahmen oder Projekte befürworten, diese aber nicht in ihrer eigenen Nachbarschaft oder unmittelbaren Umgebung dulden wollen. Gesellschaftlich wird die Teilhabe von Menschen mit Behinderung und ihre Gleichbehandlung oft grundsätzlich unterstützt. Doch wenn es beispielsweise darum geht, Wohnangebote, Förder- oder Betreuungsangebote vor Ort für sie zu etablieren, stoßen sie auf Widerstand in der direkten Nachbarschaft. Viele wollen dann plötzlich keine Gäste mit Behinderung im Restaurant, keine Veränderung des Wohnumfelds, keine Kinder mit Behinderung in der Schulklasse der eigenen Kinder oder keine Unterstützung, damit jemand barrierefrei dabei sein kann.

Obwohl viele Menschen grundsätzlich akzeptieren, dass Menschen mit Behinderung gesellschaftliche Unterstützung benötigen, lehnen sie entsprechende Maßnahmen in ihrem Umfeld ab, weil sie persönliche oder soziale Nachteile befürchten. Dadurch bleiben im Alltag viele Barrieren bestehen und Diskriminierungen erhalten. Eine Akzeptanz auf der einen Ebene bewirkt nicht automatisch einen respektvollen Umgang und diskriminierungsfreie Bedingungen im Alltag.

 

Zur Person

Verena Bentele

Verena Bentele ist Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK. Seit 2021 ist sie zudem Vize-Präsidentin des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Von 2014 bis 2018 war sie Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Vor ihrer politischen Laufbahn war Verena Bentele erfolgreiche Leistungssportlerin im Langlauf und Biathlon und gewann unter anderem 12 mal Gold bei den Paralympics und 4 mal Gold bei den Weltmeisterschaften.

In öffentlichen Debatten werden oft Gruppen gegeneinander ausgespielt, die eigentlich alle Unterstützung brauchen – zum Beispiel arme Menschen gegen Menschen mit Behinderung. Wie lässt sich verhindern, dass daraus Konkurrenz entsteht? Und welche Ansätze fördern Solidarität? 

Verena Bentele: Ein gut finanzierter Sozialstaat bildet die Grundlage, damit Menschen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern alle gemeinsam von sozialer Gerechtigkeit profitieren. Es braucht ein Bewusstsein für gemeinsame Interessen. Faire Sozialpolitik nützt allen sozial benachteiligten Gruppen und der gesamten Gesellschaft. Armut, Behinderung, Pflegebedürftigkeit und andere soziale Risiken gehören zusammen in den Fokus; sie sind keine konkurrierenden Probleme. Solidarität zu fördern bedeutet, die Bedürfnisse aller als gemeinsame Aufgabe zu verstehen, statt Gruppen gegeneinander auszuspielen.

Schaut man sich im Vielfaltsbarometer die niedrigen und nochmal drastisch gesunkenen Akzeptanzwerte für die Dimension sozioökonomische Schwäche an, so sind diese ein erschreckendes Beispiel für ein Gegeneinander von benachteiligten Gruppen. Aus Sicht des VdK muss die Politik ihre Entscheidungen nachvollziehbar kommunizieren, um Vertrauen zu schaffen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Wenn Menschen sich mit ihren Sorgen ernst genommen fühlen, steigt die Bereitschaft zu Solidarität.

 

Menschen in einer Diskussionsrunde. Im Vordergrund eine Person im Rollstuhl, eine andere Person meldet sich per Hand.
Projekt

Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung

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Wir unterstützen Menschen mit Behinderung und ihre Organisationen in ihrer Arbeit für mehr Würde, Repräsentation und Selbstbestimmtheit in ihrem gesellschaftlichen und politischen Leben. 

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Das Motto des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung 2025 lautet „Stärkung der Führung von Menschen mit Behinderung für eine inklusive und nachhaltige Zukunft“. Was braucht es in Deutschland, damit Menschen mit Behinderung tatsächlich mehr Führungs- und Entscheidungspositionen übernehmen können? Und können Sie Beispiele nennen, wo das bereits gut gelingt? 

Verena Bentele: Das Motto betont die Bedeutung, Menschen mit Behinderungen nicht mehr nur als Objekt der Fürsorge zu sehen, sondern sie als gestaltende Akteurinnen und Akteure und Führungspersönlichkeiten in gesellschaftlichen Prozessen zu begreifen und zu stärken. Es ist ein Aufruf für echte Partizipation, dazu, sie auch an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen und Barrieren systematisch abzubauen. Wichtige Voraussetzungen sind barrierefreie Zugänge zu Bildung, Weiterbildung und beruflicher Qualifikation, damit Menschen mit Behinderung Führungsfähigkeiten entwickeln können. 

Es ist bekannt, dass Unternehmen, die Diversity- und Inklusionsprogramme etabliert haben, in Führungspositionen einen höheren Anteil an Beschäftigten mit Behinderung haben.

Allerdings haben einige deutsche Unternehmen aufgrund der politischen Entwicklungen in den USA in vorauseilendem Gehorsam Teile ihrer Diversitäts- und Inklusionsprogramme eingeschränkt, ganz eingestellt oder sich von der Frauenquote distanziert. Diese Entwicklungen betrachte ich mit Sorge. In Deutschland sind Menschen mit Behinderungen in Führungs- und Entscheidungspositionen noch unterrepräsentiert, trotz des vorhandenen Potenzials und der Bereitschaft, solche Rollen zu übernehmen.

Prominente Beispiele wie der ehemalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zeigen, dass Behinderung keine Hürde für höchste politische Ämter darstellt. Es gibt in Politik, Wirtschaft, Justiz oder in der Wissenschaft inzwischen einige Menschen, die mit einer Behinderung in herausgehobenen Positionen arbeiten. Diese Vorbilder sind entscheidende Motivatoren und zeigen, was alles möglich ist.

Auch im VdK ist Führung mit einer Behinderung möglich. Mit den richtigen Rahmenbedingungen, zum Beispiel mit einer barrierefreien Arbeitsumgebung, sind die Voraussetzungen dafür sehr gut. Menschen mit Behinderung engagieren sich aktiv in Verbänden, Selbstvertretungsorganisationen und Sozialpolitik und übernehmen selbstverständlich auch Leitungsfunktionen.

 

„Als besonders hilfreich habe ich erlebt, wenn ich Erfahrungen sammeln und meine Potentiale einerseits selbst kennenlernen, sie andererseits aber auch anderen zeigen konnte.“

Zitat vonVerena Bentele
Zitat vonVerena Bentele

Die Zivilgesellschaft spielt eine entscheidende Rolle bei der Inklusion. Welche konkreten Handlungsmöglichkeiten sehen Sie für Stiftungen, Initiativen, Unternehmen und für jede einzelne Person, um im Alltag echte Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu fördern? Welche Projekte oder Initiativen haben Sie persönlich als besonders wirksam erlebt?

Verena Bentele: Stiftungen können Projekte so fördern, dass sie grundsätzlich barrierefrei und inklusiv sind und dass Menschen mit Behinderung von Anfang an mitgedacht werden. Es gibt viele interessante Bildungs- und Kulturprojekte, die sich erst bei Anmeldung einer Person mit Behinderung mit der Frage konfrontiert sehen, ob die Teilnahme barrierefrei möglich ist. Dann geht es beispielsweise darum, ob der Ort baulich barrierefrei ist oder ob im Budget auch das Dolmetschen von Gebärdensprache eingeplant ist.

Für Verbände und Initiativen ist es wichtig, dass sie Barrierefreiheit in der eigenen Organisation schaffen, aber auch, dass sie die Öffentlichkeit zu Chancengleichheit und Inklusion informieren und sensibilisieren. Unternehmen sollten sich unbedingt ganz bewusst für die Einführung und Umsetzung verbindlicher Diversity- und Inklusionskonzepte entscheiden.

Aber auch jeder einzelne kann beitragen, indem sie oder er bewusst und diskriminierungsfrei mit Sprache und Verhalten umgeht. Jede und jeder kann im Alltag auch als nicht-behinderter Mensch für Barrierefreiheit im privaten und öffentlichen Raum einstehen.

Da Appelle an den guten Willen aber nicht ausreichen, braucht es letztlich gesetzliche Verpflichtungen. Der VdK setzt sich daher seit vielen Jahren dafür ein, dass auch private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen zur Herstellung von Barrierefreiheit verpflichtet werden, mindestens aber in einem ersten Schritt zu angemessenen Vorkehrungen im Einzelfall. Barrierefreiheit ist der Schlüssel zu einer inklusiven Gesellschaft. 

Als besonders hilfreich habe ich erlebt, wenn ich Erfahrungen sammeln und meine Potentiale einerseits selbst kennenlernen, sie andererseits aber auch anderen zeigen konnte. Im ersten Judoverein, in dem ich vor vielen Jahren als Achtjährige mit sehenden und blinden Kindern gemeinsam trainiert habe, gab es kein Inklusionskonzept. Es gab aber mutige und neugierige Menschen, die einfach losgelegt haben und so gemeinsam gelernt haben. Gemeinsam haben wir Würfe geübt und am Ende des Trainings die Matten weggeräumt. Gerade die Selbstverständlichkeit war in der Rückschau das Besondere dieser Trainingsgruppe.

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