Gastbeitrag von Ruprecht Polenz

Schafft ein, zwei, viele Bürgerräte

Ein Gastbeitrag von Ruprecht Polenz, langjähriges Mitglied des Deutschen Bundestages und Ex-Generalsekretär der CDU sowie Gründungs-Dekan des von uns initiierten Global Diplomacy Labs, zum Sinn und Wert von Bürgerräten für unsere Demokratie.

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Ruprecht Polenz
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Ruprecht Polenz
Datum
28. August 2023

Sie sind weder repräsentativ zusammengesetzt, noch repräsentieren sie Wählerinnen und Wähler. Trotzdem können ausgeloste Bürgerräte wichtige Impulse für die Politik geben. Um deutlich zu machen, dass sie nicht für DIE Bürger:innen in Deutschland sprechen, sondern nur für die 160 Menschen, die dem Rat angehören, sollten zu jedem Thema mindestens zwei eingerichtet werden.  Beide sollten sich gleichzeitig und völlig unabhängig voneinander mit demselben Thema beschäftigen. Die unterschiedlichen Ergebnisse wären kein Nachteil, im Gegenteil.

Meinungsumfragen zeigen, dass das Zutrauen in die Lösungskompetenz politischer Parteien schwindet und die Zustimmung zu unserer Demokratie abnimmt. Bürgerräte sollen Abhilfe schaffen. Nicht gebunden durch verkrustete Strukturen sollen sie Vorschläge erarbeiten - z.B. zum Klimaschutz. Nach den Vorstellungen von Letzte Generation könnte das so aussehen:

„Die Regierung soll öffentlich zusagen, die mit den im Gesellschaftsrat erarbeiteten Maßnahmen verbundenen Gesetzesvorhaben in das Parlament einzubringen. Außerdem soll sie die für die Maßnahmen und Gesetzesvorhaben nötige Überzeugungsarbeit im Parlament leisten und die Gesetze nach Verabschiedung in einer beispiellosen Geschwindigkeit und Entschlossenheit umsetzen. Das ist ein Prozess, der echte gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und das Vertrauen in unsere Demokratie stärkt.“

Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Vorschlag die repräsentative Demokratie ausgehebelt würde. Regierung und Parlament würden zu Ausführungsorganen von „Gesellschaftsräten“ degradiert, wie Letzte Generation diese ausgelosten Gremien bezeichnet. So weit geht der gemeinsame Antrag von SPD, Grünen, FDP und Die Linke nicht, den der Bundestag am 10. Mai 2023 gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen hat. Es wurde ein Bürgerrat eingesetzt zum Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“. Seine Beratungsergebnisse sollen dem Deutschen Bundestag als "Handlungsempfehlungen in Form eines Bürgergutachtens“ vorgelegt werden. Unter Federführung des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft sollen neun weitere Ausschüsse an den Beratungen beteiligt werden.

Die Begriffe „Bürgerrat“ und „Bürgergutachten“ suggerieren, dass hier ein Gremium für uns alle beraten hätte.

Zitat vonRuprecht Polenz
Zitat vonRuprecht Polenz

Damit erfährt das „Bürgergutachten“ deutlich mehr parlamentarische Aufmerksamkeit als die Umweltgutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen oder die Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, die lediglich der Bundesregierung vorgelegt werden. Die Begriffe „Bürgerrat“ und „Bürgergutachten“ suggerieren, dass hier ein Gremium für uns alle beraten hätte. Denn schließlich sehen wir uns alle als Bürgerinnen und Bürger. Aber dieser Anspruch wird weder durch das Auswahlverfahren der 160 Mitglieder eingelöst, noch durch die Organisation des Beratungsprozesses, der viel Raum für externe Einflussnahme bietet.

Auswahl und Beratungsprozess bieten keine Repräsentativität

Jeder Einwohner und jede Einwohnerin Deutschlands ab 16 Jahren soll die gleiche Chance erhalten, zur Teilnahme an der Bürgerlotterie eingeladen zu werden, so die Grundannahme. Als Mitwirkungschance dürften das allerdings nur die 20.000 von 83.000.000 angesehen haben, die tatsächlich eingeladen wurden. Ihr Partizipationsversprechen an alle 83 Millionen Deutsche können Bürgerräte nicht einlösen.

Als Kriterien für die Stichproben-Auswahl wiederum dienten nur das Bundesland, die Gemeindegröße des Wohnorts, Alter, Geschlecht, höchster Bildungsabschluss und die „Einstellung zu einer themenbezogenen Frage“, d.h. ob man sich vegetarisch oder vegan ernährt. Nicht gefragt wurde danach, ob man Diät lebt, überwiegend selbst kocht oder hauptsächlich in der Kantine isst. Auch andere, für das Ernährungsverhalten wahrscheinlich wichtigere Faktoren wie Höhe des verfügbaren Einkommens oder Größe des zu versorgenden Haushalts spielten - warum eigentlich? - keine Rolle. Am Ende wurden, nach vielen Gewichtungen und nachsteuernden Einwirkungen 160 Menschen ausgelost. Für irgendjemand anderen als sich selbst können sie nicht sprechen.

Personen unterschiedlichen Geschlechts und Herkunft in Sitzreihen, von der Seite betrachtet, stimmen mit hochgehaltenen Karten über etwas ab
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Im Antrag heißt es: „Bei der Konzeption der Durchführung ist darauf zu achten, dass die Teilnehmenden im Rahmen des Auftrags des Bürgerrates hinreichenden Einfluss auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung nehmen können“, so der Antrag. Es geht also nicht um autonome, sondern angeleitete Entscheidungen, die der Rat treffen soll. Entscheidender noch als die Frage, wie der Bürgerrat zusammengesetzt wird, ist deshalb, wer ihn „anleitet“ und was genau darunter zu verstehen ist. "Der Bürgerrat wird durch die Stabsstelle Bürgerräte der Bundestagsverwaltung unterstützt, die den mit der Durchführung beauftragten externen Dienstleister anleitet“, heißt es dazu beim Bundestag.

Der externe Dienstleister, der die Arbeit des Bürgerrats moderieren soll, wird also seinerseits dazu angeleitet. Außerdem sollen 16 Expert:innen helfen, die in einem wissenschaftlichen Beirat zusammengefasst werden. Sie sollen von den Fraktionen des Bundestages "möglichst im Konsens“ benannt werden. Außer zu den Ernährungs-Themen muss dieser Beirat auch zu der Frage wissenschaftlich auskunftsfähig sein, "welche Rolle der Staat im Hinblick auf Bildungsangebote in Schulen im Hinblick auf Ernährungsthemen spielen soll, ob er steuerliche Vorgaben machen oder bei der Preisbildung eingreifen soll.“

Fazit: Anders als es das Auswahlverfahren behauptet ("Deutschland im Kleinen“) sind Bürgerräte nicht demoskopisch repräsentativ. Ihre Arbeit wird extern angeleitet und ist nicht wirklich autonom. Sie entsprechen eher sehr aufwändig konstruierten Fokusgruppen. Als solche können sie, wie Think-Tanks auch, wertvolle Impulse für die Politik geben. Die Umsetzungsverantwortung aber verbleibt bei Parlament und Regierung.

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