Organisationen, die wirksam gegen systemische Ungleichheit vorgehen wollen, brauchen einen intersektionalen Ansatz. In der Praxis ist dies allerdings oft eine Herausforderung. Rana Zincir Celal erklärt, warum Arbeit, die sozialen Wandel anstrebt, immer auch intersektional sein muss und stellt Leitprinzipien vor, die bei der Umsetzung helfen.
Sie haben gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung das Programm „Reducing Inequalities through Intersectional Practice“ entwickelt und koordiniert. Daraus sind nun neun Richtlinien entstanden. Welche sind das und wie sind sie entstanden?
2020 initiierte die Robert Bosch Stiftung das Förderprogramm „Reducing Inequalities through Intersectional Practice” mit der These, dass ein intersektionaler Ansatz unerlässlich ist, um systemische Ungleichheit effektiv zu bekämpfen. Im Rahmen des mittlerweile beendeten Programms unterstützte die Stiftung elf Partnerorganisationen auf der ganzen Welt dabei, die intersektionale Ausrichtung ihrer Arbeit zu vertiefen und zu erweitern. Sie alle bekämpfen verschiedene Ausprägungen von Ungleichheit mit unterschiedlichen Strategien. Zusätzlich wurden die Organisationen durch eine einjährige Lernreise unterstützt, bei der sie sich mit Fragen und Herausforderungen auseinandersetzten, die bei der Arbeit mit einem intersektionalen Ansatz auftreten.
Am Ende des Programms hatten die Partnerorganisationen zahlreiche Ressourcen im Rahmen ihrer eigenen Projekte entwickelt. Zudem diskutierten sie einige wesentliche, nicht verhandelbare Punkte, die für die Arbeit mit intersektionalen Praktiken maßgebend sind. Feminist:in und Aktivist:in Pramada Menon und die Illustratorin und Künstlerin Kruthika N.S. (@TheWorkplaceDoodler) haben im Anschluss aus den gemeinsam erarbeiteten Ergebnissen und den kollektiven Diskussionen eben diese Richtlinien entwickelt.
Die neun Prinzipien ermöglichen ein besseres Verständnis dafür, was Intersektionalität bedeutet, warum wir intersektional arbeiten müssen und wie intersektionale Praxis aussehen kann. Sie sollen dazu beitragen, Wege zur Umsetzung intersektionaler Ansätze in unserer Arbeit für den sozialen Wandel aufzuzeigen.
Was verstehen Sie unter Intersektionalität?
Der Begriff „Intersektionalität“ wurde von der Wissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw geprägt, um die besonderen Diskriminierungserfahrungen afroamerikanischer Frauen zu beschreiben, die sowohl aufgrund ihrer Hautfarbe als auch ihres Geschlechts marginalisiert werden. Der Begriff betont das Zusammenwirken verschiedener sozialer Identitäten, das zu unterschiedlichen Ungleichheitserfahrungen führt. Zu den relevanten Merkmalen gehören neben Geschlecht und Hautfarbe auch Klasse, Fähigkeiten, Religion, sexuelle Orientierung sowie Alter und Nationalität.
Das Konzept der Intersektionalität erkennt die Multidimensionalität von Ungleichheit und das Ineinandergreifen verschiedener Diskriminierungsformen an. Rolle, Funktion und Auswirkungen von Machtstrukturen auf Benachteiligung und Privilegierung werden analysiert. Eine intersektionale Perspektive kann genutzt werden, um auf bestehende Unterdrückungssysteme in der Gesellschaft aufmerksam zu machen und sie herauszufordern, zu durchbrechen und zu verändern. Intersektionalität birgt somit das Potenzial für mehr soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness.
„Die Prinzipien sollen inspirieren, antreiben, ermutigen und die vielen Möglichkeiten hervorheben, wie ein intersektionaler Ansatz bewusst und sinnvoll verfolgt werden kann.“
An wen richten sich diese Richtlinien? Wie lassen sie sich in die eigene Praxis einbinden?
Intersektionalität kann verstanden werden wie ein Prisma, durch das man die Welt betrachtet. Deshalb sind diese Grundsätze für eine Vielzahl von Kontexten, Themenbereichen und Ansätzen relevant. Besonders wichtig ist die intersektionale Perspektive für jede Form von Arbeit, die auf einen sozialen Wandel abzielt, vor allem im Umgang mit Ungleichheitserfahrungen. Die Richtlinien können also von Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen des öffentlichen Sektors eingesetzt werden, aber auch von Akteur:innen sozialer Bewegungen, Aktivist:innen und geldgebenden Institutionen. Auch privatwirtschaftliche Einrichtungen und akademische Institutionen können sie anwenden.
Sie dienen als Leitfaden, der grundlegende Aspekte einer intersektionalen Praxis aufzeigt. Sie sollen Akteur:innen bei ihrem individuellen Reflexionsprozess begleiten und ihnen helfen, Wege zur Weiterentwicklung zu finden. Intersektionale Praxis ist ein kontinuierlicher Lernprozess. Nur so können Ungleichheiten und die daraus resultierenden ungleichen Machtverhältnisse tatsächlich und nachhaltig abgebaut werden.
Wir begreifen diese Richtlinien als Ausgangspunkt für eine Entwicklung. Die Partnerorganisationen des Förderprogramms haben nützliche Instrumente und Ressourcen zur Anwendung intersektionaler Ansätze erarbeitet, u.a. im Kontext sozialer Bewegungen, in digitalen Sphären, auf kommunaler Ebene oder bei der Zuweisung von Fördergeldern. Wir möchten dazu einladen, diese Richtlinien als Anreiz zum Forschen und Lernen zu nutzen und dazu, um die Kenntnisse und das Engagement im Bereich der intersektionalen Praxis zu erweitern.
Wo gibt es weitere Informationen und wie können Organisationen Unterstützung erhalten, um ihre eigene Arbeit intersektional auszurichten?
Es gibt viele Wege, mehr über intersektionale Praxis zu erfahren. Die Absicht, diese Lernreise zu beginnen ist dabei ausschlaggebend. Wer sich von der Arbeit der Partnerorganisationen inspiriert fühlt und gerne weitere Informationen hätte, kann sich gerne direkt an diese oder an die Robert Bosch Stiftung wenden. Die Erkenntnisse aus dem Förderprogramm werden wir auch künftig mit einer breiteren Öffentlichkeit teilen.