Lange Lieferketten, Preiskampf, unfaire Arbeitsbedingungen: Unser Ernährungssystem muss nachhaltiger werden. Doch wie geht das? Wir zeigen, auf welche Weise sich die Zivilgesellschaft dafür einsetzt, Ernährung neu zu denken.
Unsere Ernährungssysteme sind für 37 Prozent der jährlichen globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Diese setzen sich aus landwirtschaftlicher Erzeugung, Verarbeitung sowie dem Transport und der Lagerung von Lebensmitteln zusammen - und stellen damit einen der größten Treiber des Klimawandels dar. Um diesem Negativtrend entgegenzuwirken, denken alternative Initiativen das Ernährungssystem neu: Durch kurze Wertschöpfungsketten, einen ökologischen Anbau von Lebensmitteln und neue Modelle der Kooperation wollen sie das System nachhaltig verändern. Damit leisten sie einen Beitrag dazu, globale Treibhausgasemissionen durch lokale Ansätze und bessere politische Rahmenbedingungen zu minimieren.
Eine solche lokale Antwort auf die Herausforderungen des Ernährungssystems ist die Solidarische Landwirtschaft. In rund 500 „Solidarischen Landwirtschaften“ in Deutschland wird Ernährung saisonal und regional gedacht. „Unsere Vision ist eine gemeinschaftlich getragene, bedarfsgerecht bezahlte und ökologische regionale Landwirtschaft“, sagt Anika Füger vom Netzwerk Solidarische Landwirtschaft in Deutschland. Diese Idee kommt an: In den vergangenen zehn Jahren war das Wachstum bei den Solidarischen Landwirtschaften hierzulande exponentiell. Damit schafft das Modell ein deutliches Gegenbild zum Negativtrend in der konventionellen Landwirtschaft: Schon seit mehreren Jahrzehnten sterben in Deutschland immer mehr Höfe, allein in den letzten vier Jahren mussten 7800 von ihnen ihre Türen schließen. Die verbleibenden Betriebe bewirtschaften gleichzeitig immer mehr Fläche – das lässt die Diversität schrumpfen und befördert den Anbau in Monokulturen. Vor diesem Hintergrund setzt die Solidarische Landwirtschaft ein Zeichen: für mehr Vielfalt, Kooperation und Verantwortung.
Mit 74 ist Baden-Württemberg das Bundesland mit den meisten Solidarischen Landwirtschaften in Deutschland, gefolgt von Nordrhein-Westfalen und Bayern. Wie die einzelnen Gemeinschaften vor Ort genau aussehen, ist bunt und vielfältig: Mal pachtet eine Gruppe zum Beispiel Land, um es gemeinsam zu bewirtschaften und zu verwalten (Mitunternehmerschaft). Mal schließen sich Menschen mit lokalen Erzeuger:innen zusammen, um sowohl die Ernte als auch die Kosten für deren Anbau zu teilen (erzeugergeführte Solawis oder Kooperationssolawis). Wie viel Geld jedes Mitglied dafür bezahlt, wird solidarisch entschieden: „Wir wollen weg davon, dass wir einzelne Lebensmittel mit einem Preis versehen“, so Füger. Wichtig sei vielmehr, die Landwirtschaft ganzheitlich zu tragen und so faire Bedingungen für Landwirt:innen zu schaffen.
Wer Wert darauf legt, frisches Obst und Gemüse aus regionalem Anbau zu bekommen, muss auch mal verzichten: „Verbraucher:innen sind es durch das Angebot der Supermärkte gewohnt, dass 365 Tage im Jahr alle Gemüsesorten im Regal stehen – aber so funktioniert Landwirtschaft nicht“, weiß Andrea Klerman vom Netzwerk Solidarische Landwirtschaft. Gerade einmal 36 Prozent des jährlichen Bedarfs an Gemüse werde in Deutschland angebaut, erklärt sie weiter: „Das liegt auch daran, dass es für die Supermärkte billiger ist, Produkte zu importieren.“ Auf Landwirtschaft und Klima hat das verheerende Folgen: In Spanien zum Beispiel müssen Tomaten angesichts zunehmender Dürreperioden mit hohem Aufwand bewässert werden, damit sie hierzulande im Regal stehen können. Die Konsequenz: Der Anbau verbraucht hohe Mengen an Grundwasser und führt zu einer immer stärkeren Wüstenbildung in der Region. Damit Menschen sich souverän und gesund ernähren könnten, brauche es Wissen darüber, wie Angebot und Preise zustande kämen. „Solidarische Landwirtschaft bricht dieses undurchsichtige System auf, stellt den Kontakt zur Landwirtschaft her und vermittelt Wissen darüber, was regional wann angebaut wird“, erklärt Klerman.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch rund 3.000 „Food Cooperatives“ in Deutschland: Dahinter stecken Gruppen von Menschen, die sich zusammentun, um Lebensmittel direkt bei den Erzeugenden zu bestellen. So klammern sie den Einzelhandel mit seiner Preispolitik aus und machen allen Mitgliedern regionales, gesundes Essen zu einem günstigen Preis zugänglich. Auch in anderen europäischen Ländern bilden Food Cooperatives eine Alternative zum konventionellen Ernährungssystem: In Polen beispielsweise, wo rund 10 Prozent der Angestellten in der Landwirtschaft tätig sind, ist die Abhängigkeit vom Agrarsektor besonders groß. „Mit den Food Cooperatives bringen wir Konsument:innen und Produzent:innen zusammen und fördern die Wertschätzung für regionale Lebensmittel und Landwirtschaft“, fasst Ruta Spiewak zusammen. Sie ist Teil des Netzwerks „Fundacja Koopertywy Grochowskiej“, das die Idee der Kooperativen in Polen umsetzt und versucht, sie dort anschlussfähig zu gestalten.
Trotz Herausforderungen arbeiten Ruta Spiewak und andere Akteur:innen in Polen an einem nachhaltigen Wandel: Rund 30 Food Cooperatives gibt es aktuell im Land – die Zahl sei in den letzten 10 Jahren deutlich geschrumpft, sagt Spiewak: „Als Resultat aus dem Kommunismus haben wir heute eine schwache Zivilgesellschaft. Auch die Coronapandemie hat viele Food Coops zum Aufgeben gezwungen.“ Trotzdem hofft sie, die Idee in Polen stärker zu verankern: „Wir haben ein Netzwerk aus Landwirt:innen, das verlässlich mit uns zusammenarbeitet. Daraus entsteht ein gutes Best-Practice-Modell und wir hoffen, dass wir damit mehr Menschen erreichen können“, so Spiewak.
Food Cooperatives haben drei verschiedene Gesichter: Je nach ihrer Größe organisieren sich die Zusammenschlüsse entweder mit einem eigenen Lager (Lagerfoodcoops) oder als Kooperation mit eigenem Mitgliederladen. Oft sammeln die Initiativen die Bestellungen ihrer Mitglieder auch direkt und liefern die gewünschten Lebensmittel dann zu den Teilnehmenden nach Hause (Bestellfoodcoops).
Die Landwirtschaft dürfe nicht abhängig vom globalen Preismarkt sein, findet Ruta Spiewak. Damit sich Höfe nachhaltig tragen, müssen sie zu fairen Bedingungen produzieren können: „Landwirt:innen haben es oft schwer, sich über Wasser zu halten und sind abhängig von der globalen Preisentwicklung.“ Das sieht auch Andrea Klerman so: „Kaum ein Betrieb in Deutschland wäre in der Lage, ohne Subventionen wirtschaftlich zu produzieren“, sagt sie. Dank hoher Lohnstandards und Arbeitsrecht könnten die Betriebe mit dem globalen Preiskampf nicht mithalten. „Dazu kommt, dass die Landwirtschaft ein langfristiges Geschäft ist, das nicht mal eben auf die Nachfrage des Marktes reagieren kann“, so Klerman. Die Lösung: Mit dem Kontakt zwischen Verbraucher:innen und Landwirt:innen, den alternative Initiativen böten, komme nicht nur die Wirtschaftlichkeit, sondern auch die Wertschätzung zurück.
Für Wertschätzung und Fairness entlang der gesamten Wertschöpfungskette setzen sich in 60 deutschen Städten Ernährungsräte ein – als Schnittstelle zwischen Politik, Zivilgesellschaft und Erzeuger:innen: „Wir wollen mehr Vernetzung und demokratische Momente schaffen, damit Menschen in Sachen Ernährung selbstbestimmter werden“, erklärt Judith Busch, Vorständin des Ernährungsrats in Oldenburg. Dafür schaffen die Initiativen auf lokaler Ebene nachhaltige Strukturen – denn oft seien diejenigen, die sich vor Ort für das Thema einsetzen, kaum miteinander verknüpft, so Busch. „Wir holen erstmal alle ins Boot und schauen dann, wo wir konkret ansetzen, um das lokale Ernährungssystem nachhaltiger zu gestalten.“ Eine zentrale Rolle spielt hierbei auch die Politik. „Ernährung ist ein regionales Handlungsfeld, wird oft aber nicht als solches wahrgenommen“, sagt Busch. „Wir schaffen ein Bewusstsein dafür, wie viel Kommunen tun können, um Ernährung nachhaltiger zu machen – zum Beispiel bei der öffentlichen Verpflegung in Schulen oder Kindergärten.“ Mancherorts führt das bereits zu konkreten Ergebnissen: In Köln, wo 2016 neben Berlin der erste Ernährungsrat in Deutschland gegründet wurde, legt seit 2019 ein gemeinsam festgelegtes Strategiepapier fest, wie die Stadt ihr Ernährungssystem zukunftsfähig ausrichten kann. Dieser politische Erfolg ist eines von vielen Zeichen dafür, wie engagiert, kreativ und transformativ alternative Ansätze an der Zukunft unserer Ernährung mitwirken.