Wenn geflüchtete Jugendliche Abitur machen wollen, müssen sie bestimmte Herausforderungen meistern – vor allem die deutsche Sprache. An einer Versuchsschule in Bielefeld werden neue Integrationskonzepte erprobt und wissenschaftlich begleitet – ein Erfolgsmodell.
Auf die Frage, welche Kompetenzen geflüchtete Schüler:innen für das Abitur benötigen, hat Professor Martin Heinrich sofort eine Antwort: die deutsche Sprache! „Diejenigen, die noch keine ausreichenden Deutschkenntnisse mitbringen, müssen wir pädagogisch so fördern, dass sie den hohen Anforderungen des deutschen Abiturs gerecht werden.“ Doch Sprache, so Martin Heinrich, kann nur ein wichtiger Baustein sein. Er weiß, was es noch braucht: Empowerment.
Heinrich leitet eine wissenschaftliche Einrichtung, die zur Versuchsschule „Oberstufen-Kolleg“ in Bielefeld gehört. Beide, wissenschaftliche Einrichtung und Schule, sind an die Universität Bielefeld angebunden. Das Ziel hinter dieser besonderen Verbindung: neue pädagogische Konzepte praktisch umzusetzen und gleichzeitig zu erforschen. Dazu arbeitet Heinrich mit über 60 Lehrkräften und Forscher:innen zusammen. 2010 wurde die Schule für ihre Arbeit mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.
Prof. Dr. Martin Heinrich versteht Bildung als dynamisches Konstrukt, das immer wieder angepasst werden muss. Und ist damit erfolgreich.
Im Fördergebiet Bildung liegt unser Fokus auf zukunftsfähigen Kitas und Schulen in Deutschland. Mit unseren eigenen Projekten und mit Kooperationspartner:innen erproben wir Lösungen und heben Wissen, von denen das ganze Bildungssystem profitiert. Dafür arbeiten wir eng mit Akteur:innen aus Bildungseinrichtungen, Verwaltung, Forschung und Politik zusammen.
Die gestreckte Eingangsphase ist eines der Konzepte, die am Oberstufen-Kolleg Bielefeld erprobt werden. Das Angebot richtet sich an zugewanderte Jugendliche, die das Sprachniveau B1 erreicht haben. Die Besonderheit des Konzepts: Die Jahrgangsstufe 11 erstreckt sich über zwei Jahre. Im ersten Jahr wird vor allem Deutsch als Fach- und Bildungssprache gezielt gefördert: „Darunter fällt auch die spezifische Förderung von Schreibdidaktik und Unterricht in DaZ, also Deutsch als Zweitsprache“, so Martin Heinrich. Auch im zweiten Jahr der gestreckten Eingangsphase finden Kurse in DaZ statt, der Fokus verschiebt sich allerdings auf das obligatorische Kursprogramm der 11. Klasse.
Hinter dem Konzept steht auch die Idee: Sprachförderung allein reicht nicht aus. In der gestreckten Eingangsphase soll daher auch Platz sein für Empowerment: „Das bedeutet, dass die zugewanderten Schülerinnen und Schüler auch lernen sollen, sich mit ihren individuellen Geschichten und ihrer Kultur zu positionieren“, so Heinrich. „So etwa, wenn eine Schülerin auf einer gemeinsamen Exkursion spontan alle in das Zelebrieren des yezidischen Batizmi-Festes einbindet – sich alle Mitschülerinnen und Mitschüler darauf einlassen, zugleich das Ritual aber auch verändern, für sich individuell adaptieren und im Anschluss reflektieren.“
Er spricht damit etwas an, das im derzeitigen Bildungssystem kaum Platz findet. Unterschiedliche Biografien und Kenntnisstände können Lehrer:innen oft nur wenig berücksichtigen. Schüler:innen mit einer Zuwanderungsgeschichte im Schulalltag angemessen zu begegnen, kann herausfordernd sein. Die Lehrer:innen am Oberstufen-Kolleg Bielefeld entwickeln sich dabei mit jedem Schuljahr weiter.
Das Konzept zeigt, wie die gymnasiale Oberstufe in Deutschland inklusiver werden könnte.
Die Lehrkräfte am Oberstufen-Kolleg nehmen eine Doppelrolle ein, sie sind zugleich auch Forscher:innen – das heißt, sie arbeiten eng mit der wissenschaftlichen Einrichtung zusammen. Und zwar auch räumlich, erklärt Heinrich: „Wir haben unsere Büros in der Versuchsschule, um umfassend den Charakter und die Atmosphäre der Schule mitzubekommen.“ Durch ihre Einbindung in die wissenschaftliche Arbeit erforschten sich die beteiligten Lehrkräfte ein stückweit selbst, so Heinrich. Das präge die Weiterentwicklung der pädagogischen Konzepte zusätzlich.
Die gestreckte Eingangsphase ist ein sogenanntes Forschungs- und Entwicklungsprojekt. Konzepte und pädagogische Maßnahmen werden beständig überarbeitet, auch basierend auf Impulsen der zugewanderten Jugendlichen selbst. „Wenn die Rückmeldung kommt, dass etwas nicht passt, dann wird entsprechend adaptiert“, so Martin Heinrich. Diese Flexibilität für Forschung und Entwicklung im Bildungssystem sei notwendig, um pädagogische Konzepte nachhaltig zu entwickeln.
„Zumeist wird pädagogischen Konzepten diese Offenheit jedoch nicht zugestanden. Denn immer dann zu justieren, wenn die pädagogischen Praktiken es einfordern, bedeutet auch, keinen richtigen Evaluationsplan mit bestimmten Zeitvorgaben definieren zu können.“ Daraus ergibt sich eine Chronologie der Konzeptentwicklung mit dem Ergebnis, dass kaum ein Schuljahr dem vorangegangenen gleicht. „Bei der großen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler der gestreckten Eingangsphase tauchen immer wieder neue Phänomene auf, die wir in ihrer Komplexität behandeln müssen.“
Etwa wenn die Vorstellungskraft für die eigene Zukunft fehlt oder blockiert ist von Ängsten aufgrund der Flucht. Eine Philosophielehrerin hat deswegen mit den Schüler:innen Georg Simmels Text „Exkurs über den Fremden“ gelesen. Dieser Philosophieunterricht ging so substanziell an die eigene Identität, so Heinrich, dass sie den Verein „ZUsammenKUNFT“ gründeten, um ihre vielfältigen Reflexionen zu bündeln und an andere Schüler:innen mit Fluchterfahrungen weiterzugeben. „Das ist Empowerment durch Bildung, wie wir es im Abitur brauchen!“, sagt Heinrich.
Wie evaluiert man also ein solches Konzept? Ab wann ist es ein Erfolg? Ist die Zahl der Abiturient:innen ausschlaggebend? Oder ist es das stolze Lächeln auf der Abschlussfeier? Stand Februar 2024 haben 40 Schüler:innen des Kollegs ihr Abitur oder ihr Fachabitur abgeschlossen, aktuell lernen fast 50 zugewanderte Jugendliche für das (Fach-)Abitur.
Fragt man Martin Heinrich, wie er die gestreckte Eingangsphase bewertet, muss er nicht lange nachdenken. „Wie die Schülerinnen und Schüler ihre Beiträge verfassen, im Unterricht argumentieren, Videos drehen und Unterrichtsmaterialien für nachfolgende Klassen erstellen – all das dokumentiert aus meiner Sicht sehr eindrucksvoll, dass es sich um ein Erfolgsmodell handelt. Das Konzept zeigt, wie die gymnasiale Oberstufe in Deutschland inklusiver werden könnte.“
Es ist ein Beispiel für einen Kulturwandel, der Diversität im Bildungssystem verankert. Es zeigt, dass die Integration geflüchteter Jugendlicher gelingen kann – durch die gemeinsame Arbeit von Forscher:innen und Lehrkräften. Und durch neue Ideen, die nicht nur Lehrpläne, sondern auch individuelle Lebenswege berücksichtigen. Ali, ein Absolvent des Kollegs und heute BWL-Student, beschreibt das so: „Früher hatte ich echt nicht das Gefühl, dass ich zugehörig bin. Aber mittlerweile: Ich bin hier, also bin ich ein Teil der Gesellschaft.“
Diversität ist das Buzzword unserer Zeit. Unternehmen, Behörden oder Vereine machen es sich zum Aushängeschild. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Wie schaffen wir echte Vielfalt? Und wo ist Diskriminierung nach wie vor vorhanden oder verstärkt sich gar – diesen Fragen wollen wir in diesem Dossier auf den Grund gehen.