Hanau statt Hamburg

Jede:r dritte Deutsche lebt heute in einer mittelgroßen Stadt, Tendenz steigend. Besonders im Umkreis überhitzter Metropolen zieht es immer mehr Menschen ins Umland. Zum diesjährigen World Cities Day haben wir nachgefragt: Was macht Mittelstädte eigentlich so attraktiv? Und vor welchen Herausforderungen stehen sie?   

Sabine Fischer | Oktober 2020
Luftbild_Neuruppin_1440x604
© REG/Petruschke/Juhr

Luftbild von Neuruppin: Die Stadt ist der Geburtsort des Dichters Theodor Fontane und wird daher auch Fontanestadt genannt.

Wohnungsknappheit, Massenbesichtigungen und steigende Immobilienpreise: Obwohl sich die Urbanisierung nach wie vor als globaler Megatrend fortsetzt, entpuppt sich das Leben in der Großstadt für viele Menschen als finanzieller Balanceakt. Die Lösung scheint naheliegend: außerhalb wohnen, innerhalb arbeiten. Doch in den Kommunen löst dieser Trend unerwartete Transformationsprozesse aus.

Eine Stunde von Berlin entfernt liegt der 32.000-Einwohner-Ort Neuruppin: weitläufige Straßen, eine lebendige Kulturszene, dazu ein nahe gelegener See. Für die Region ist die Stadt sowohl Erholungsort als auch regionales Versorgungszentrum. Doch die Nähe zur Metropole stellt die Stadtverwaltung in Neuruppin vor neue Herausforderungen. „Die Anfragen für Bauland und Wohnraum nehmen stetig zu. Das muss in unserer Zukunftsplanung berücksichtigt werden“, sagt Daniela Kuzu, verantwortlich für den Change-Management-Prozess der Stadt.

Ähnliche Szenarien finden sich in vielen mittelgroßen Städten in Deutschland. Jede:r dritte Bundesbürger:in lebt heute in einer Stadt mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern, die Tendenz ist steigend. Besonders im Umkreis urbaner Zentren gewinnen die sogenannten Mittelstädte an Bedeutung. „Sie sind das Bindeglied zwischen Großstadt und ländlichem Raum und haben eine Art Scharnierfunktion“, erklärt Fee Thissen von der RWTH Aachen University. Sie ist die leitende Koordinatorin des Doktorandenkollegs „Mittelstadt als Mitmachstadt – Qualitativer Wandel durch neue Kulturen des Stadtmachens“, das von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird und Zukunftsstrategien für deutsche Mittelstädte ausarbeitet.

Daniela Kuzu_500x538
Privat

Zur Person

Daniela Kuzu ist seit März 2019 Beigeordnete von Neuruppin und ist für den umfassenden Change Management-Prozess in der Stadtverwaltung verantwortlich. Nach ihrem Diplomstudium der Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Internationales Recht (Freie Universität Berlin) und ihrem Masterstudium im Konfliktmanagement (Lancaster University, England) arbeitete sie 13 Jahre für die Friedrich-Ebert-Stiftung unter anderem als Büroleiterin in Ghana und stellvertretende Büroleiterin in Istanbul.

Vor allem für junge Familien sind Mittelstädte attraktiv

„Für Mittelstädte kann es ein Wachstumsvorteil sein, wenn sie in der Nähe von Großstädten liegen, in denen der Wohnungsmarkt gesättigt ist. Diese Lage macht sie besonders attraktiv“, sagt Thissen. So könne man dort zum Beispiel im Grünen wohnen, habe mehr Freizeit- und Naherholungsangebote, könne aber gleichzeitig in die Großstadt pendeln und die Arbeitsmarktsituation dort nutzen. „Vor allem junge Familien reizen die Vorteile der Mittelstädte als Wohnstandort: Oftmals gibt es noch Bauland und die Immobilienpreise sind bezahlbar.“

Doch der Zuzug stellt die betroffenen Kommunen vor große Aufgaben. „Mittelstädte können den Wohnungsdruck oft nicht unmittelbar bewältigen“, sagt Fee Thissen. „Teilweise gibt es Hindernisse beim Schaffen von Bauland. Zudem kann es auch Unbehagen von Seiten der Menschen geben, die bereits in der Stadt und unmittelbaren Umgebung leben.“ Integrationsprozesse im urbanen und ländlichen Raum, wie zuletzt in der Studie „Zwei Welten? Integrationspolitik in Stadt und Land“ analysiert, sind ein zentraler Aspekt gesunden Wachstums. „Dazu kommt, dass die Infrastruktur partiell überlastet wird und die Städte, zum Beispiel bei der Bereitstellung von Kitaplätzen, nachrüsten müssen“, so Thissen. 

Fee Thissen_500x538
Privat

Zur Person

Fee Thissen arbeitet als Koordinatorin eines Doktorandenkollegs am Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung der RWTH Aachen University. Ihre Forschungsthemen sind insbesondere urbane Transformationsprozesse, die sie auch in ihrer Dissertation zum Wandel in Zürich West untersuchte. Darüber hinaus befasst sie sich an der RWTH Aachen University in Lehre und Forschung sowie in verschiedenen Praxiszusammenhängen mit den Schwerpunktthemen Redevelopment, Partizipation und Kommunikation. 

Diese Entwicklungen hat Daniela Kuzu auch in Brandenburg beobachtet: „Der erste Städtekranz – also alle umliegenden Orte, die über das Berliner S-Bahn-Netz noch erreichbar sind – leidet inzwischen unter massiven Wachstumsschmerzen“, sagt sie. Die Stadt Falkensee zum Beispiel habe ihre Bevölkerungszahl seit der Wende verdoppelt, sei aber mit der Anpassung ihrer Infrastruktur kaum hinterhergekommen. Zudem seien die Immobilienpreise in die Höhe geschnellt. Aus diesen Beobachtungen will Daniela Kuzu nun lernen. 

Denn auch in Neuruppin nimmt der Druck aus der Großstadt zu. Allein zwischen 2010 und 2017 hat sich die Zahl der Pendler:innen, die jeden Tag nach Berlin fahren, hier um 26 Prozent erhöht. „Der Verkehr in und um Neuruppin hat massiv zugenommen“, so Kuzu. Um eine tragfähige Zukunftsstrategie zu entwickeln, muss sich die Stadtverwaltung mit verschiedenen Szenarien auseinandersetzen. „Wir haben einen Luxus, den der erste Städtekranz in Brandenburg leider nicht hatte. Wir können uns jetzt überlegen, wie wir gesund wachsen können und wo unsere Prioritäten liegen sollen“, sagt Kuzu. So soll zum Beispiel die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr verbessert werden. 
 

Das Umland profitiert vom Lebens-, Wirtschafts- und Kulturraum der Großstadt

Auch Fee Thissen kennt positive Lösungsansätze für Mittelstädte, die unter Wachstumsschmerzen leiden: „Einige Großstädte vernetzen sich gezielt mit nahe gelegenen Kommunen im Umland, um bei Themen wie Wohnen, Nahversorgung, Arbeitsmarkt und Mobilität voneinander zu profitieren. Das Umland profitiert vom Lebens-, Wirtschafts- und Kulturraum der Großstadt, während diese den Wachstumsdruck abmildern kann.“

Städtewachstum_1200x503
BBSR Bonn 2019

Neben den großen Metropolregionen Rhein-Ruhr, München, Berlin/Brandenburg, Rhein-Main und Stuttgart zieht es immer mehr Menschen in Deutschland in Mittelstädte. Klicken Sie sich durch die interaktive Karte des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).

Dass bei weitem nicht alle deutschen Mittelstädte von diesem Wachstum betroffen sind, hat neben der Lage in oder außerhalb einer Metropolregion noch weitere Gründe: Attraktiv mache einen Ort unter anderem ein lebendiger Stadtkern mit einer gesicherten Nahversorgung oder auch die Kennzeichnung als Bildungsstandort, so Fee Thissen. Das von der Robert Bosch Stiftung geförderte Graduiertenkolleg an der RWTH Aachen University beleuchtet die Transformationen, mit denen diese Orte konfrontiert sind. „In vielen Mittelstädten stehen auch Strukturwandel, die Auseinandersetzung mit regenerativen Technologien sowie das Herausarbeiten des eigenen Images im Vordergrund“, so Fee Thissen. Die 10 Stipendiaten des Kollegs arbeiten vor Ort mit den teilnehmenden Kommunen und weiteren Akteur:innen zusammen und entwickeln Mitmachaktivitäten, um den Wandel in den Städten anzuschieben.

Das Kolleg fördert den Austausch zwischen den Mittelstädten

Dem Aspekt der „Mitmachstadt“ kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu. Zum einen verfolgt das Kolleg einen transformativen Ansatz und verbindet die Forschung mit konkreten Aktivitäten vor Ort. Zum anderen sind auch die teilnehmenden Städte aktiv zum Mitmachen angehalten: Sie sollen ihrerseits Akteur:innen animieren, ihre spezifischen Transformationsprozesse mit ihnen anzugehen. Nach einem Bewerbungsprozess sind nun 40 Mittelstädte Teil des Projekts. In den kommenden Jahren sollen sie sich nicht nur mit den Forschenden, sondern auch untereinander vernetzen. Der Austausch mit anderen Mittelstädten ist für viele ein zentraler Aspekt. Auch die Stadt Neuruppin nimmt an diesem Projekt teil: „Wir wünschen uns vom Kolleg vor allem Best Practice Beispiele“, sagt Daniela Kuzu.