Geeint in Vielfalt: Die UN75-Erklärung in die Tat umsetzen
Im September letzten Jahres beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen anlässlich der Feier ihres 75. Jahrestages eine wegweisende Erklärung. Sie bekräftigte die Verpflichtung, „Ressourcen zu mobilisieren“, „in einem bisher nicht dagewesenen Maß politischen Willen und Führungsstärke zu beweisen“ und so die „Zukunft, die wir wollen“ zu sichern. Die sogenannte UN75-Erklärung war ein inspirierender Beschluss. Aber wird dieser auch zu bedeutenden Veränderungen führen? Ein Essay über wertvolle Lehren und multilaterale Lösungen von Sandra Breka, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung, und Brian Finlay, Präsident und Geschäftsführer des Stimson Center.
Die Vergangenheit zeigt: Er könnte es durchaus. Vergangene UN-Jahrestage brachten auch in weniger einschneidenden Zeiten wesentliche Strukturreformen mit sich. So legten die Staats- und Regierungschef:innen am 60. Jahrestag beispielsweise den Grundstein der Kommission für Friedenskonsolidierung, die Länder beim Übergang vom Krieg zu Frieden unterstützen soll, werteten die Menschenrechtskommission zu einem erstarkten Menschenrechtsrat auf und verabschiedeten das Prinzip der Schutzverantwortung („responsibility to protect“), um die von bewaffneten Konflikten betroffenen Zivilbevölkerungen besser zu schützen.
Dass sie auf den Willen der Zivilgesellschaft eingeht, erhöht die Erfolgsaussichten der UN75-Erklärung zusätzlich. Im Vorfeld der Generalversammlung im vergangenen Jahr führte die UN eine weltweite Befragung durch, um mehr über die Hoffnungen und Ängste der Menschen zu erfahren. Von den mehr als 1,3 Millionen Teilnehmenden gaben 87 % an, dass globale Zusammenarbeit für die Bewältigung der heutigen Herausforderungen von entscheidender Bedeutung ist. Die UN unterstützte außerdem die Umsetzung von mehr als 3.000 Gesprächen in 120 Ländern über „die Zukunft, die wir wollen, die Vereinten Nationen, die wir brauchen“. Die Ergebnisse dieser Gespräche, die in „Klassenzimmern,Vorstandsetagen, Parlamenten und Gemeinden“ stattfanden, halfen, die Erklärung zu prägen.
Über die Person
Sandra Breka ist Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung. Vor ihrem Eintritt in die Stiftung im Jahre 2001 war sie beim Aspen Institute in Berlin sowie beim American Council on Germany in New York tätig. Nach ihrem Studium in Deutschland, Frankreich und den Vereinigten Staaten erhielt Sandra Breka ihren Master an der Columbia University in New York. Im Jahr 2008 war sie Yale World Fellow.
Gleichzeitig arbeiten nationale Regierungen an einer Wiederbelebung multilateraler Zusammenarbeit. So riefen im April 2019 der deutsche Außenminister Heiko Maas und sein französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian die Allianz für Multilateralismus aus, um die internationale Zusammenarbeit in Zeiten von zunehmendem Nationalismus zu stärken. Inzwischen unterstützen mehr als 50 Länder diese Allianz. Im vergangenen Februar erklärten die Staats- und Regierungschef:innen der G7, einschließlich US-Präsident Joe Biden, ihren Willen zur Zusammenarbeit, um 2021 zu einem „Wendepunkt für den Multilateralismus“ zu machen. Zu den Top-Prioritäten für internationale Kooperation zählen die Erholung nach der Pandemie und „building back better“.
Auch unterstützen Staaten die UN75-Erklärung selbst in besonderem Maße: Zwei Monate nach ihrer einstimmigen Verabschiedung veröffentlichten zehn Staats- und Regierungschef:innen auf Initiative Spaniens und Schwedens,eine gemeinsame Stellungnahme, in der sie ihre Unterstützung der Erklärung sowie deren Anspruchsniveau bekräftigen. Darin forderten sie zudem Reformen der drei Hauptorgane der Vereinten Nationen, um eine „agilere, effektivere und stärker rechenschaftspflichtige Organisation zu schaffen“, die „bessere Ergebnisse hervorbringt.“
All dies sind gute Vorzeichen für die Zukunft des Multilateralismus. Doch Worte in die Tat umzusetzen ist selten einfach, insbesondere, wenn so viele Akteur:innen mit gegensätzlichen Vorstellungen und Interessen beteiligt sind. Angesichts der in weiten Teilen der Welt starken nationalistischen und populistischen Kräfte ist die Herausforderung umso gewaltiger. Um sie zu meistern, lohnt sich ein Blick nach Europa.
Über die Person
Brian Finlay ist Präsident und Geschäftsführer des Stimson Centers. Zuvor war er als Vizepräsident, Bereichsleiter und Senior Fellow bei Stimson tätig. Vor seiner Tätigkeit bei Stimson, war Brian Finlay als geschäftsführender Direktor einer in Washington ansässigen Lobby-Organisation tätig, die sich auf Fragen der Terrorismusbekämpfung konzentrierte, als Wissenschaftler bei der Brookings Institution und als Programmbeauftragter bei der Century Foundation.
Die Europäische Union hat sich als zuverlässige Verfechterin des Multilateralismus erwiesen. So veröffentlichten etwa die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, im Februar eine gemeinsame Mitteilung zur Stärkung des EU-Beitrags hin zu einem regelbasierten Multilateralismus. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Emmanuel Macron sowie die Präsident:innen des Europäischen Rates und der Kommission, Charles Michel und Ursula von der Leyen, forderten kürzlich gemeinsam mit UN-Generalsekretär António Guterres und dem senegalesischen Präsidenten Macky Sall eine inklusive Ausgestaltung des Multilateralismus.
Die Führung der Europäischen Union in diesem Bereich ist folgerichtig. Obgleich von mehreren Seiten häufig als träge, risikoscheu und unflexibel bemängelt, zeichnet sie sich dennoch durch die Gestaltung eines effektiven staatenübergreifenden Gefüges und das Bündeln von Ressourcen aus, um gemeinsame Herausforderungen zu meistern. Hinzu kommt, dass Europäer internationale Zusammenarbeit in besonders hohem Maß befürworten: Bei der UN-Umfrage sprachen sich mehr als 90 % der Europäer:innen für eine länderübergreifende Zusammenarbeit aus, die sie als „wesentlich“ oder „sehr wichtig“ einstuften – und lagen damit mehrere Prozentpunkte über dem weltweiten Durchschnitt.
Europa erstrahlt blau: Zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Vereinten Nationen leuchteten am 24. Oktober 2020, dem UN-Tag, viele berühmte Gebäude und Denkmäler Europas, Brücken, Flughäfen und Museen blau. Die Initiative ist ein symbolischer Versuch, Bürger:innen weltweit zu vereinen, eine nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte zu unterstützen.
Inspiriert von den Erfahrungen Europas hinsichtlich aktivem Multilateralismus haben unsere Organisationen, die Robert Bosch Stiftung und das Stimson Center, gemeinsam mit anderen Partner:innen zuletzt führende politische Entscheidungsträger:innen und Expert:innen aus Europa und der ganzen Welt zusammengebracht, um zu debattieren, wie der Gehalt der UN75-Erklärung Wirklichkeit werden kann. Dabei wurden verschiedene Schlüsselthemen identifiziert.
Beispielsweise müssen Spitzenpolitiker:innen weltweit den Ursachen von Konflikten begegnen, um dadurch den Handlungsdruck auf den UN-Sicherheitsrat und das globale humanitäre System zu reduzieren. Dies schließt zum Beispiel die Erfüllung sozialer Grundbedürfnisse, ein Ende politischer Unterrepräsentation und die Stärkung nationaler und regionaler Regierungsinstitutionen ein.
Darüber hinaus müssen wir die Wissenschaftsleugnung und Herabwürdigung von Fachwissen bekämpfen, die Covid-19-Impf- sowie Klimaschutzbemühungen unterwandern. Durch internationale und nationale Öffentlichkeitsarbeit soll Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse wiederhergestellt und gegen Desinformation vorgegangen werden.
„Ebenso wichtig sind Reformen der rechtlichen und normativen Rahmenbedingungen, um die Herausforderungen der heutigen online wie offline Welt abzubilden.“
Ein drittes Schlüsselthema ist die Neuausrichtung der globalen und regionalen Finanzinstitutionen, um bestehende Lücken in Bezug auf digitale Teilhabe, Bildung und Geschlechtergerechtigkeit weltweit zu schließen. Im digitalen Zeitalter können Investitionen in Technologien dazu beitragen, die Teilhabe junger Menschen (insbesondere von Mädchen und jungen Frauen) an Entscheidungen zu erhöhen, die ihr Leben und ihre Kenntnis über Menschenrechte beeinflussen. Ebenso wichtig sind Reformen der rechtlichen und normativen Rahmenbedingungen, um die Herausforderungen der heutigen online wie offline Welt abzubilden.
Multilaterale Lösungen sind oftmals mühsam zu formulieren, abzustimmen und umzusetzen. Das mag sie ineffizient und unwirtschaftlich erscheinen lassen – manche Akteur:innen nehmen deshalb an, im Alleingang besser voranzukommen. Dennoch hat Europa immer wieder bewiesen, dass die Lösungen, die aus multilateralen Prozessen heraus entstehen, meist integrativer, wirksamer und beständiger sind. Europa verdankt diesen Prozessen die am längsten anhaltende Zeit des Friedens und der Stabilität.
Das allein sollte die EU veranlassen, wertvolle Rückschlüsse für die Erneuerung der UN in laufende Debatten einzubringen. Eine inklusive, anpassungsfähige und gestärkte UN, die von den Erfahrungen der EU profitiert, kann ein starkes Fundament für eine regelbasierte internationale Ordnung bilden, die weltweit für Frieden und Stabilität sorgt und gleichzeitig die gemeinsame Überwindung von Herausforderungen ermöglicht. Eine solche Institution verdient unser unermüdliches Engagement und Mitwirken.
Dieses Essay erschien im Original auf der Website von Project Syndicate.