Digitale Ungleichheit gemeinsam überwinden

Das Jahr 2020 zeigt deutlich, dass digitale Ungleichheit ein globales Problem darstellt. Die Forderung von IT-Wissenschaftlerin Catherine Mulligan: Mut zu neuem Denken. 

Catherine Mulligan | Juni 2020
Katherine Mulligan
Privat

Zur Person

Dr. Catherine Mulligan ist Honorary Senior Research Associate für Informatik am University College London und Co-Direktorin des Forschungszentrums für Kryptowährung am Imperial College London. Sie war Mitglied des High-Level Panels für digitale Zusammenarbeit, das von UN-Generalsekretär António Guterres einberufen wurde. Die Gruppe an Fachkräften hat Empfehlungen erarbeitet, wie die digitale Zukunft zum Wohl aller und im Sinne der nachhaltigen Entwicklungsziele der UN gestaltet werden kann. 

Das Jahr 2020 markiert einen Wendepunkt, an dem die globale digitale Ungleichheit deutlich zum Vorschein kommt. Aufgrund von Covid-19 können Millionen von Kindern nicht zur Schule gehen, während andere digitalen Unterricht bekommen. Eine Kluft tut sich auch auf zwischen denen, die von zu Hause aus arbeiten können und anderen, für die das nicht möglich ist. Bislang galt digitale Exklusion häufig als Thema, das man auch später noch angehen kann. Doch die letzten paar Monate haben gezeigt, dass die digitale Ungleichheit in fast jedem Land der Welt ein sehr reales Problem darstellt.

Was bedeutet umfassende digitale Inklusion?

Als wir den Bericht über digitale Kooperation für das High-Level Panel der UN verfassten, ahnten wir nicht, welche Relevanz der Teil zur digitalen Inklusion bald bekommen sollte. Unsere Empfehlung, jeder Erwachsene solle Zugang zu digitalen Netzwerken sowie zu digital gestützten Finanz- und Gesundheitsleistungen haben, findet nun großen Anklang. Denn die Verwerfungslinien der digitalen Ungleichheit ziehen sich durch alle Länder, vom globalen Süden über Europa bis in die USA. Unser Bericht schlug vor, dass der private Sektor, Regierungen, NGOs und die Zivilgesellschaft zusammenarbeiten sollten, um für umfassende digitale Inklusion zu sorgen. Nun ist es wichtiger denn je, uns zu fragen: Was bedeutet umfassende digitale Inklusion?

Digitale Ungleichheit wurzelt in der Ungleichheit an sich – und in unseren vorgefassten Meinungen darüber, wie die Welt funktioniert. Wir akzeptieren es als Normalzustand, dass manche Menschen und Länder weniger bekommen, andere dagegen mehr. Dies setzt sich nun in der digitalen Welt fort und hindert Menschen und Nationen daran, digitale Technologien umfassend zu nutzen. 

Um die digitale Ungleichheit zu überwinden, müssen wir bestimmte Aspekte der Ungleichheit an sich überwinden; das lässt sich nicht voneinander trennen.

Wir Menschen neigen dazu, industrielle und gesellschaftliche Revolutionen auf den Lauf der Geschichte zurückzuführen – als seien wir dem ausgeliefert. Doch die digitale Revolution liegt in unseren Händen. Dazu müssen wir uns der Herausforderung stellen, nicht nur anders zu denken, sondern auch anders zu handeln. Um die digitale Ungleichheit zu überwinden, müssen wir bestimmte Aspekte der Ungleichheit an sich überwinden; das lässt sich nicht voneinander trennen. 

Datenmonopole in einer kleinen Anzahl von Unternehmen

Seit Anbruch des Informationszeitalters in den 1960er-Jahren bilden wir mit der digitalen Welt die bestehende physische Wirtschaftswelt nach; eine Wirtschaftswelt, die sich auf die Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeitskraft stützt, auf der unsere Gesellschaft seit Jahrhunderten beruht. 

So nimmt man beispielsweise an, dass wir die Ungleichheit in Bezug auf Datenspeicherung aus den verschiedensten Gründen akzeptieren müssten, was zur Entstehung von Datenmonopolen in einer kleinen Anzahl von Unternehmen und Nationen geführt hat. 

Die Abbildung der physischen Welt in der digitalen Welt hat nicht funktioniert – so ist eine überaus anfällige Wirtschaft entstanden, die stark von Zentralisierung und multinationalen Konzernen abhängt und zum Stillstand kommt, sobald einer ihrer Bestandteile versagt. Das wird oft als unvermeidlicher, natürlicher Prozess dargestellt, doch das entspricht nicht der Wahrheit. Die Grundlagen der physischen Wirtschaft – Land, Kapital und Arbeitskraft – haben im digitalen Raum nicht die gleiche Bedeutung, doch das findet keine Beachtung. 

Die Notwendigkeit eines neuen globalen Gesellschaftsvertrags

Für die digitale Welt ist ein neuer Gesellschaftsvertrag nötig – ein Vertrag, der angesichts der Tatsache, dass so viele unserer Daten zu wirtschaftlichen Zwecken genutzt werden, eine neue Sichtweise auf Arbeit verlangt. Gesetzgeber konzentrieren sich bislang auf kleinere, wenn auch wichtige Aspekte wie den Datenschutz, während die umfassenderen Auswirkungen der Digitalisierung unbeachtet bleiben. Deshalb stolpern wir immer weiter in eine immer größere digitale Ungleichheit – paradoxerweise gerade deshalb, weil wir das Richtige tun wollen. 

Technischer Zugang allein garantiert noch lange nicht, dass jemand über den Strom oder Bildung und Fähigkeiten verfügt, mit denen eine effektive Nutzung möglich ist.

Die digitale Ungleichheit ist komplex. Wer keinen Zugang hat, befindet sich in der Regel in einem Nexus der Exklusion. Technischer Zugang allein garantiert noch lange nicht, dass jemand über den Strom oder Bildung und Fähigkeiten verfügt, mit denen eine effektive Nutzung möglich ist. 

Die Gefahr der digitalen Kolonialisierung

Wird nicht das gesamte Spektrum der digitalen Ungleichheit berücksichtigt, verstärkt sich die Auswirkung der digitalen Exklusion weiter. So hat man vielleicht Zugang zur digitalen Welt, aber nur als teilnehmende Person, der den Monopolisten in anderen Ländern Daten liefert, ohne selbst wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile ausschöpfen zu können. Bei der Beurteilung der digitalen Ungleichheit ist das Gleichgewicht der digitalen Macht ein wichtiger Aspekt. Viele Narrative unterscheiden zwischen „fortschrittlichen“ und „hilfsbedürftigen“ Ländern. Das kann zu einer Art digitaler Kolonialisierung führen. Ein entscheidender Punkt, den Regierungen, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft sorgfältig berücksichtigen müssen: Wie sieht der globale Gesellschaftsvertrag für die digitale Welt aus? 

Wenn ich diesen Punkt anspreche, werden häufig Kryptowährungen als vermeintliche Beweise dafür angeführt, dass die durchschnittliche Einzelperson in der digitalen Welt nicht nur teilnehmende Person, sondern auch „Gewinner“ sein kann. Aber stimmt das wirklich? 

Bitcoin ist in der Finanzkrise im Jahr 2008 entstanden. Mit der ersten echten Peer-to-Peer-Währung skizzierte „Satoshi Nakamoto“, so das Pseudonym des Erfinders von Bitcoin, eine Möglichkeit, wie Banken beim Tausch von Werten zwischen Einzelpersonen überflüssig werden können. Die größte Leistung von Bitcoin ist das dahinterstehende Gedankenexperiment. Satoshi bildete nicht einfach das bestehende Finanzsystem mit einer zentralen Kontrolle durch Regierungen und große Unternehmen nach, sondern nutzte die umfassenden Möglichkeiten der digitalen Welt, um eine Währung von Menschen für Menschen zu schaffen. 

Technologie bewegt sich nicht im luftleeren Raum, sie muss durch ein komplexes Netz aus politischen und unternehmerischen Interessen navigieren.

Es war eine gewagte Idee, mit der manche Leute sehr reich geworden sind. Allerdings hat dies bislang nicht entscheidend dazu beigetragen, die Ungleichheit zu überwinden – sei es im digitalen Bereich oder anderswo. Kryptowährungen zeigen deutlich, wie engstirnig rund um digitale Technologien oft gedacht wird. Technologie bewegt sich nicht im luftleeren Raum, sie muss durch ein komplexes Netz aus politischen und unternehmerischen Interessen navigieren. Ein dezentralisierter Ansatz löst häufig Unbehagen aus – besonders unter denjenigen, die großes persönliches Interesse am Fortbestand unseres jetzigen Wirtschaftssystems haben. 

Die Vorteile einer digital gestützten Dezentralisierung

Vor diesem Problem stehen auch viele der Lösungen, die zur Überwindung der digitalen Ungleichheit vorgeschlagen werden: Es geht nicht um technische Fragen, sondern um politische. Die Vorstellung, dass Menschen aller Länder über digitale Technologien vollkommen gleichberechtigt Zugang zum Wirtschaftssystem bekommen, weckt oft genauso großes Unbehagen wie die Dezentralisierung. Dazu brauchen wir eine neue Sicht auf die Kräfte, die dem Eigentum an Daten und anderen digitalen Werten zugrunde liegen, sowie neue Normen für die Interaktion. Für manche Menschen wird das einen Machtverlust bedeuten, deshalb ist zur Umsetzung ein starker politischer Wille erforderlich. 

Eine digital gestützte Dezentralisierung kann nicht nur Geld neu definieren, sondern uns die Möglichkeit geben, eine andere Welt zu gestalten. Mit einer digital koordinierten, dezentralisierten Wirtschaft könnten wir ein Gleichgewicht zwischen lokalem Wirtschaftswachstum und Globalisierung schaffen, das für alle von Vorteil ist. Eine Wirtschaftsweise, in der der Einzelne mit den Daten, die er generiert, seinen Einfluss erhöht und die Wirtschaftsleistung seiner Nation – und nicht nur den Profit einzelner Datenmonopolisten.

Es wird Mut und gründliches Nachdenken erfordern, unsere bisher etablierten Vorstellungen von digitaler Ungleichheit zu überwinden. Es ist die große Herausforderung unserer Generation.