Meinungsbeitrag
Was ich nicht weiß…: Mit besseren Daten gegen Ungleichheit
Die Pandemie hat heftige Debatten über viele Formen von Ungleichheit ausgelöst, sagt Kathrin Strobel, ehemalige Teamleiterin „Ungleichheit“ der Robert Bosch Stiftung. Wir brauchen bessere Daten, um Lösungen zu finden.
Die Konsequenzen der Covid-19-Pandemie haben das Thema der – in vielen Formen auftretenden – Ungleichheiten überall auf der Welt in den Fokus der Politik gerückt. Das liegt unter anderem daran, dass das Virus uns vor Augen geführt hat, wie wenig wir über Ungleichheiten und ihre grausamen Folgen wissen. So behauptete etwa ein Abgeordneter der Partei Alternative für Deutschland, dass Migrant:innen und Muslim:innen sich häufiger mit dem Virus ansteckten, weil sie sich angeblich generell nicht an Regeln hielten. Die anderen Bundestagsabgeordneten empörten sich über diese Schuldzuweisung, verfügten aber über keine belastbaren Daten, um der provokanten Unterstellung die Luft aus den Segeln zu nehmen.
Ein Zusammenhang zwischen niedrigem sozialen Status und Covid-19
Laut britischen und US-amerikanischen Studien korreliert ein niedrigerer sozialer Status mit der Wahrscheinlichkeit einer Covid-19-Ansteckung. Individuelle Lebensumstände, Jobs mit schwer einzuhaltendem Mindestabstand und schlechte Gesundheit seien dabei die entscheidenden Faktoren, nicht Ethnie oder Religion. Doch in Deutschland ist die Datenlage vergleichsweise dünn, sodass in Europas größter Volkswirtschaft kaum Klarheit über Risikofaktoren neben Alter und Vorerkrankungen herrscht. Migrant:innen und andere benachteiligte Gruppen können also nicht ausreichend geschützt werden, weder vor populistischen Beschuldigungen und Mythen noch vor Covid-19. Besorgniserregend ist dabei, dass der Mangel an guten Daten zu Ungleichheiten zu Problemen führt, die weit über Deutschland oder die Pandemie hinausweisen.
Das Hochrangige Politische Forum für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen tauschte sich im Juli 2021 zum Stand der Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) und damit auch zum Ziel 10 aus: „Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern“. Die ehrgeizigen und umfassenden Ziele berücksichtigen zwar soziale, politische und ökonomische Ungleichheiten, die verwendeten Indikatoren basieren aber meist auf ökonomischen Parametern in Form von Durchschnittswerten für ganze Länder. Diese Kennzahlen bilden die Komplexität von Ungleichheiten nicht ausreichend ab und sind nicht detailliert genug. Um ihr selbst gestecktes Ziel zu erreichen, „niemanden zurückzulassen“, „to leave no one behind“, benötigen die Vereinten Nationen zusätzliche Daten, aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht etc.
Datenlücken können gesellschaftliche Herausforderungen offenlegen
Unterziel SDG 10.2 umfasst zum Beispiel die „soziale, wirtschaftliche und politische Inklusion“ aller Menschen. Wie ist aber ein Fortschritt in diesem Punkt in all seiner Komplexität zu ermitteln, wenn nur der Indikator „Anteil der Bevölkerung, deren Einkommen weniger als 50 Prozent des Medians beträgt“, zur Verfügung steht - selbst wenn hier „nach Geschlecht, Alter und Menschen mit Behinderungen“ differenziert wird? Wie verhält es sich mit sozialen und politischen Kennzahlen? Oder mit anderen Gruppen? Sowohl bei deutschen Abgeordneten als auch bei hochrangigen UN-Vertreter:innen besteht die Gefahr, dass ohne sinnvolle Indikatoren, durch Datenlücken und die oft unzureichende Verwendung vorhandener Informationen gefährliche Mythen entstehen, gesellschaftliche Herausforderungen unerkannt bleiben und wirksame Maßnahmen behindert werden. Welche Gruppen sollten bei Covid-19-Impfungen priorisiert werden? An welchen Stellen verhindern Privilegien eine gleichberechtigte demokratische Teilhabe aller? Manchmal wissen wir es, aber oft könnten wir es noch deutlich besser wissen.
Regierungen, multilaterale Organisationen, Forschungsinstitutionen und zivilgesellschaftliche Gruppen sind für das Verständnis von Ungleichheiten entscheidend. Die Weltbank, Oxfam und das Commitment to Equity Institute führten im vergangenen Jahr beispielsweise einen Indikator für das SDG 10 ein, der die Einkommensungleichheit vor und nach Steuern vergleicht und damit die Umverteilungseffekte fiskal- und sozialpolitischer Maßnahmen misst. Die von der Robert Bosch Stiftung geförderte „Leave No One Behind“-Partnerschaft von zwölf internationalen Organisationen der Zivilgesellschaft erhebt zur Umsetzung der SDG-Ziele disaggregierte Daten, etwa bei Sexarbeiter:innen oder Straßenhändler:innen, und holt Feedback zu mit den SDGs in Zusammenhang stehenden Regierungsprogrammen ein, zum Beispiel zu Geld- oder Nahrungsmittelhilfen. Die Daten zeigen keine homogenen Gruppen, sondern eignen sich für intersektionale Analysen, etwa zu Ethnie, HIV/Aids-Erkrankung oder beidem.
Neue Methoden der Datenerhebung können Bürger:innen und Communities stärken und sogar Echtzeiterkenntnisse liefern. Die „Leave No One Behind“-Partnerschaft erhebt von Bürger:innen oder in einer Community gemeinschaftlich zusammengetragene Daten und berücksichtigt die befragten Gruppen im gesamten Prozess der Datenerhebung, von der Definition der Anforderungen bis zur Interpretation der Ergebnisse. Menschen mit Behinderung haben in Bangladesch zum Beispiel Evaluationsbögen für Gesundheitsdienstleistungen entwickelt, füllen sie regelmäßig aus und arbeiten gemeinsam mit lokalen und nationalen Stellen daran, Schlussfolgerungen aus den Daten zu ziehen.
Daten, die „alle Populationen genau beschreiben“
Auch bereits vorhandene Daten müssen zugänglicher werden. Viele nationale Statistikämter zeigen bereits transparenter, welche Daten sie erfassen und stellen sie in einem geeigneten Format zur Verfügung. Das britische Office for National Statistics folgt etwa einer Inclusive Data Charter (Inklusiven Datencharta) und verpflichtet sich, mit den erhobenen Daten alle Bevölkerungsgruppen korrekt abzubilden und diese Daten der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Natürlich hängt die Zugänglichkeit der Daten auch von den Kompetenzen der potenziellen Nutzer:innen ab. Ironischerweise gibt es gerade zu diesen Fähigkeiten wenige Daten. Allerdings fühlten sich laut einer Studie von Qlik und Accenture aus dem Jahr 2019 74 Prozent der befragten Beschäftigten bei der Interpretation von Daten überfordert. Die Zivilgesellschaft hat ein großes Interesse daran, das zu ändern: Datenqualität und Datenkompetenz sind entscheidend, um Regierungen in die Pflicht zu nehmen.
Und natürlich Politiker:innen im Allgemeinen. Der AfD-Bundestagsabgeordnete hätte vielleicht geschwiegen, hätte er gewusst, dass Forscher:innen wenige Wochen nach seinen Äußerungen eine höhere Korrelation von Covid-19-Infizierten mit Zweitstimmen für seine Partei bei der Bundestagswahl 2017 feststellten als mit dem Anteil an Muslim:innen in den untersuchten Kölner Stadtteilen. Daten sind ein mächtiges Instrument in der öffentlichen Diskussion und bei der politischen Entscheidungsfindung. Wenn wir die Nachhaltigen Entwicklungsziele, die SDGs, ernsthaft umsetzen und die Gefahren der Ungleichheiten für den sozialen Zusammenhalt, die wirtschaftliche Entwicklung und den Frieden bekämpfen wollen, müssen wir mit detaillierteren, komplexeren Daten arbeiten. Beginnen wir also mit der Erhebung.
Kathrin Strobel ist ehemalige Teamleiterin „Ungleichheit“ bei der Robert Bosch Stiftung. Ziel der Stiftung ist es, das Bewusstsein für die Ursachen und Auswirkungen von Ungleichheit in Forschung und Praxis zu schärfen, um zum Abbau von Ungleichheit beizutragen und ein Leben in Würde und mit gleichen Rechten für alle zu ermöglichen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Frage, wie verschiedene Formen von Ungleichheit und Diskriminierung zusammenwirken und sich gegenseitig beeinflussen, sowie auf dem Verständnis und der Veränderung der zugrundeliegenden Systeme und Prozesse, die Ungleichheiten jeglicher Art definieren und formen.