Ukraine unterstützen

Ukraine-Flüchtlinge: Engagiert im Exil

Mehr als acht Millionen Menschen mussten seit dem russischen Angriff aus der Ukraine fliehen. Diese Menschen fehlen dem Land – mit ihrem Wissen, ihrer Kraft und ihrem Engagement. Das Stipendienprogramm Vidnova unterstützt geflüchtete Ukrainer:innen, die sich für ihre Heimat einsetzen – auch aus der Ferne. Wir sprachen mit vier von ihnen.

Text
Nansen & Piccard
Bilder
MitOst, Agata Maziarz; privat
Datum
04. April 2023

Daryna Podolian, 31 

Daryna Podolian, 31 
Heimat: Tscherkassy (Zentralukraine)
Aktueller Wohnort: Oosterwolde, Niederlande
Beruf: NPO-Gründerin, Projektmanagerin und Podcasterin
Gastgeber-Institution: Protestantse Gemeente Donkerbroek-Haule

„Im Jahr 2015 gründete ich mit meinem damaligen Mann unsere Non-Profit-Organisation Cherkasy Urban Institute, die sich dafür einsetzt, dass Bürgerinnen und Bürger sich stärker an der Stadtentwicklung beteiligen. In Workshops zeigten wir den Menschen, wie die Stadtverwaltung genau funktioniert, wie sie Einfluss nehmen und ihre Interessen vertreten können. Unser Büro lag im Zentrum der Stadt. Die Organisation wuchs. Alles war gut. 

In den ersten Tagen nach dem russischen Angriff nutzten wir unsere Räume noch für spontane Erste-Hilfe-Kurse. Seitdem dreht sich alles nur um den Krieg. Mein Ex-Mann bringt heute Soldaten bei, wie man Drohnen benutzt. Wenig später floh ich mit unseren zwei Kindern über die rumänische Grenze. Die Ungewissheit machte mir große Angst. Gleichzeitig habe ich noch nie in meinem Leben so viel Hilfe und Freundlichkeit von Fremden erlebt. 

Zurzeit lebe ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Dorf – im Gästehaus eines Bauernhofs in Friesland. Mit den Gastgeber:innen verstehe ich mich gut, fühle mich aber isoliert. Dank Vidnova konnte ich nach Berlin reisen und mich mit anderen ukrainischen Aktivist:innen austauschen. Ich habe dadurch gemerkt, wie sehr ich den Austausch mit anderen brauche, die Verbindungen. Anfangs unterstützte ich niederländische Freiwillige dabei, ukrainischen Geflüchteten mit der Bürokratie und bei der Wohnungssuche zu helfen. Jetzt mache mit einer ukrainischen Psychotherapeutin einen Podcast, in dem wir mit Geflüchteten über ihre Erfahrungen und Gefühle reden, ihre Angst, den Stress, die Hoffnung – dieser Aspekt kommt bei vielen meiner Landsleute viel zu kurz.

Ich hoffe, dass ich bald nach Utrecht oder Groningen umziehen kann. Dann möchte ich ein Projekt auf die Beine stellen, das die ukrainische Kultur in Westeuropa sichtbarer macht. Wir wollen nicht ewig diejenigen sein, denen man helfen muss. Der Krieg zeigt doch deutlich, was wir sind: erstaunlich stark nämlich. Und ein Teil von Europa.“
 

„Ich finde es wichtig, auch über die positiven Entwicklungen zu sprechen“

Janush Panchenko, 31

Heimat: Kachowka, Oblast Cherson
Aktueller Wohnort: Beverungen (bei Göttingen)
Beruf: Sozialarbeiter, Roma-Aktivist und -Forscher
Gastgeber-Institution: Roma Zentrum für interkulturellen Dialog e.V. 

„Meine Heimatstadt Kachowka wurde in den ersten Tagen des Angriffskriegs von der russischen Armee besetzt. Soldaten haben wir damals aber kaum gesehen. Nach Kriegsbeginn sammelten mein Bruder und ich Geld, Arzneimittel und Essen für Menschen, die gar nichts mehr hatten. Die meisten waren Roma, aber wir haben natürlich auch Ukrainerinnen und Ukrainern geholfen. Eine alte Frau sagte zu uns: ‚Ihr seht aus wie Krim-Tataren.‘ Ich sagte: ‚Wir sind Roma!‘ Sie war total überrascht, dass wir auch ihr halfen. 

Im Mai letzten Jahres kamen dann die russischen Soldaten in das Roma-Jugendzentrum, das ich leitete, und fragten nach dem Chef. Da wusste ich, dass es Zeit war, zu gehen. Mit der Unterstützung von Vidnova arbeite ich jetzt an einem Forschungsprojekt dazu, wie sich die Wahrnehmung der Roma in der Ukraine durch den Krieg verändert. 
Früher haben wir häufig Fremdenhass und Diskriminierungen erlebt, die Medien berichteten ausschließlich negativ und verfestigten dadurch bestehende Stereotype. Das scheint sich zu ändern: Lässt der Krieg also die Vorurteile schrumpfen? Liegt es daran, dass viele Roma in der ukrainischen Armee kämpfen? Es ist auf jeden Fall spannend! Ich erlebe plötzlich eine neue Einigkeit innerhalb der ukrainischen Bevölkerung. 

Mein Forschungsprojekt habe ich noch in der Ukraine begonnen und führe es nun online fort. Mit den Untersuchungsergebnissen will ich die Diskussion in der Ukraine über unsere Gesellschaft und Identität befruchten. Ich finde es wichtig, dass wir auch über positive Entwicklungen sprechen. Der Krieg darf nicht alles überschatten. Wir müssen das, was wir gut machen, klar benennen – damit wir weiter in die eingeschlagene Richtung gehen.“ 

„Trotz des Krieges werden viele Inklusionsprojekte gestartet“

Olha Popadynets, 39

Heimat: Odesa
Aktueller Wohnort: Cornwall, Großbritannien 
Beruf: Beraterin für Diversität

„Als Beraterin für Diversität erlebe ich den Krieg als paradoxes Ereignis: Einerseits stoppten nach Kriegsbeginn alle meine Projekte in der Ukraine von einem Tag auf den anderen. Wer interessiert sich schon für Fragen der Gleichberechtigung und Vielfalt, wenn es ums nackte Überleben geht? Andererseits zeigt sich im Ausnahmezustand, wie wichtig Frauen in der ukrainischen Gesellschaft sind – dass sie viel mehr sind als Dekoration. Sie kämpfen als Soldatinnen, sie geben Befehle als Kommandantinnen oder transportieren Militärfahrzeuge aus Westeuropa an die Front. Deshalb bin ich optimistisch, was künftig die Geschlechtergerechtigkeit in der Ukraine angeht. 

Der Krieg deckt natürlich auch gnadenlos auf, welche Probleme wir noch in unserer Gesellschaft haben. Wir sind nicht darauf vorbereitet, ein Kind mit einem Bein in den Schulalltag zu integrieren. Wir scheitern daran, Kranke und Menschen mit Einschränkungen aus der Ukraine zu evakuieren. Zum Glück wurden trotz des Krieges viele neue Projekte für Geschlechtergleichstellung und Inklusion gestartet. Auch ich möchte mich hier engagieren.

Ich bin nach Großbritannien geflohen und habe dort anfangs als Putzfrau gearbeitet – und nebenher als Lektorin für Anti-Diskriminierungs-Fragen bei der Erstellung ukrainischer Schulbücher, auch wenn das Bildungsministerium mich zurzeit nicht bezahlen kann. Durch das Vidnova-Fellowship fühle ich mich als wertgeschätzte Expertin und nicht wie eine Geflüchtete. Aktuell untersuche ich, ob und wie Geschlechtergerechtigkeit am Arbeitsplatz im britischen Alltag umgesetzt wird. Es ist beeindruckend, wie das in männlich dominierten Berufen wie bei der Feuerwehr klappt. Wenn mein zwölfjähriger Sohn und ich in unsere Heimat zurückkehren, will ich dieses Wissen an ukrainische Unternehmen weitergeben.“

„Man überlegt nicht, ob man jemandem helfen soll, man tut es einfach“ 

Petro Rusanienko, 28

Heimat: Kurachowe, Oblast Donezk (Ostukraine)
Aktueller Wohnort: Berlin    
Beruf: Schauspieler, Filmemacher und Aktivist
Gastgeber-Institution: vitsche.org, Vereinigung junger Ukrainer*innen in Deutschland

„Im vergangenen Herbst war ich im deutschen Fernsehen zu sehen. Der Kurzfilm ‚Chacho‘ lief in der ARD, darin spiele ich Yanush, den Sohn einer konservativen Roma-Familie, der sich am Tag seiner Hochzeit eingestehen muss, dass er schwul ist. Es war eine schöne Erfahrung, dass das deutsche Fernsehen nun solche Themen aufgreift. Aber: Der Film entstand 2020, in einer anderen Welt. 

In der Nacht vor dem russischen Angriff war ich mit Freunden inKyiv im Kino. Danach sprachen wir zwar über die akuten Warnungen vor einer Invasion, aber als wir gegen Mitternacht auseinandergingen, waren wir uns sicher, dass nichts passieren würde. Vier Stunden später weckten mich die Sirenen. Als die russische Armee Richtung Kyivvordrang, fuhren meine Freunde und ich los. 
Die Mutter eines Freundes nahm mich auf, in einer kleinen Stadt in der Nähe der rumänischen Grenze. Dort blieb ich drei Monate. Wir schliefen zu fünft auf einem Sofa. Das war schrecklich. Ich konnte nicht arbeiten. Damals war ich zum Glück noch an einer Universität in Irland eingeschrieben. Das war meine Chance, eine Ausreisegenehmigung zu bekommen, und ich reiste nach Berlin. 

Dank meiner Vidnova-Gastgeber-Institution vitsche.org, in der sich junge Ukrainer:innen vernetzen, konnte ich ein Filmteam zusammenstellen, um ein Videoprojekt für sexuelle Aufklärung voranzutreiben. Die Videos sind mir so wichtig, weil seit dem Krieg ukrainische Nutzer:innen in den sozialen Medien vermehrt mit LGBTQ+-feindlichen Inhalten konfrontiert werden. 

Die Unterstützung, die man zurzeit in der ukrainischen Diaspora in Europa erlebt, hat mich überrascht und berührt. Man überlegt nicht, ob man jemandem helfen soll, man tut es einfach. Und ich habe hier in Berlin großartige Menschen kennengelernt. Aber das beste Gefühl ist, dass ich meine Arbeit aus der Ferne über Videos und digitale Kanäle fortsetzen kann – und für die Rechte von Roma und LGBTQ+-Menschen in meinem Heimatland kämpfen kann.“ 

Mehr über das Projekt

Vidnova – neue Perspektiven

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Vidnova Fellowship ist ein Stipendienprogramm für geflüchtete Aktivist:innen aus der Ukraine. Das mehrmonatige Stipendium soll die Fellows dabei unterstützen, die Zivilgesellschaft in der Ukraine auch aus der Ferne zu gestalten. Die Fellows erhalten monatlich bis zu 1.500 Euro und weitere Gelder, um eigene Projekte umzusetzen. Das Programm umfasst Coaching- und Schulungsangebote sowie regelmäßige Netzwerktreffen für die Stipendiat:innen. Das Vidnova Fellowship wurde von der Commit by MitOst gGmbH und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) initiiert. Gefördert wird es von der Stiftung EVZ, der Robert Bosch Stiftung, der Gerda Henkel Stiftung und der Stiftung Mercator.

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