Der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel und die Pandemie: Schwere Krisen dominieren die Migrationsdebatte und sorgen oft für nationalstaatliche Ad-hoc-Lösungen. Auf dem sogenannten Überprüfungsforum Internationale Migration (IMRF) Mitte Mai in New York diskutieren die UN-Mitgliedstaaten, wie weit sie bei der Umsetzung des Globalen Pakts für Migration gekommen sind. Kann der multilaterale Ansatz wiederbelebt werden? Hier erklären drei führende Expert:innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen, was unbedingt auf die Agenda gehört – und warum noch nicht alle Hoffnung verloren ist.
Es diskutieren:
Marta Foresti: Dies ist in vielerlei Hinsicht ein echter Skandal. Die Tatsache, dass ein reiches Land wie Großbritannien seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt und Asylbewerber:innen und andere Migrant:innen zur Bearbeitung ihres Antrags in ein ärmeres Land abschiebt, ist erschütternd. Das ist nicht nur moralisch zweifelhaft, sondern vermutlich auch illegal und höchst ineffizient: Untersuchungen haben gezeigt, dass die Triebkräfte der Migration, die Wünsche und Motivationen der Menschen, tief verwurzelt sind. Eine Verlagerung dieses Problems wird die Menschen nicht von Migration abhalten, aber ihre Reise weitaus gefährlicher machen.
Colin Rajah: Bilaterale Deals sind derzeit einer der schlimmsten Trends in der globalen Migrationspolitik. Nehmen Sie zum Beispiel das „Remain in Mexico“-Programm, wie wir es nennen, bei dem die USA Mexiko dafür bezahlen, dass Menschen, die Asyl beantragen, dies von Mexiko aus tun „können“. Diese Art der Externalisierung der Grenzen mag auf dem Papier wie ein gutes Geschäft erscheinen: Ein Land „erfüllt“ seine moralische Pflicht gegenüber Asylbewerber:innen, indem es Hilfe gewährt, während das andere Land Geld erhält und sein Bruttosozialprodukt steigern kann. Aus humanitärer Sicht ist dies jedoch der falsche Weg.
Jessica Bither: Das Abkommen zwischen Großbritannien und Ruanda ist Teil eines größeren Trends. Ein negativer Nebeneffekt des Abkommens zwischen der EU und der Türkei war zum Beispiel, dass es Menschen und Geflüchteten ein Preisschild gab. Im Rahmen solcher „Deals“ werden Flüchtlinge instrumentalisiert; etwa als der Präsident von Belarus im Herbst 2021 absichtlich Geflüchtete aus dem Nahen Osten nach Europa schickte.
Geflüchtete an der US-mexikanischen Grenze.
Marta: Der Globale Pakt wurde 2018 in Folge der sogenannten europäischen Flüchtlingskrise vereinbart. Und nun haben wir es mit der nächsten europäischen Krise zu tun, dem Krieg in der Ukraine – und mit der anhaltenden Klimakrise im Hintergrund. Die Realität der globalen Mobilität kann jedoch nicht im Krisenmodus bewältigt werden. Wir brauchen langfristige und nachhaltige Lösungen, und die erfordern wiederum internationale Zusammenarbeit. Leider reicht das bestehende multilaterale System nicht aus. Wir brauchen eine Reform.
Colin: Das Abkommen wurde speziell für Situationen wie diese geschlossen, um multilaterale Antworten zur Steuerung von Migrationsströmen und zum Schutz von Flüchtlingen zu ermöglichen. Und doch wird der Krieg in der Ukraine auf der Tagesordnung des Überprüfungsforums kaum erwähnt. Die wichtigsten Antworten auf diese Krise werden ad hoc von den einzelnen europäischen Regierungen formuliert. Wir scheinen den multilateralen Ansatz völlig aufgegeben zu haben.
Jessica: Auf dem Forum werden wir sehen, ob sich die Diskussionen bei der UN weitgehend um „technische“ migrationspolitische Instrumente drehen werden oder ob es auch einen politischen Impetus gibt. Der Globale Pakt für Migration ist für die Mitgliedstaaten rechtlich nicht bindend, sodass sich beim Überprüfungsforum die Frage stellt, ob es eine ehrliche und transparente Diskussion über die entscheidenden politischen Fragen und Optionen zwischen den verschiedenen Interessengruppen geben wird.
2019 wurde der Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration (GCM) von den meisten UN-Mitgliedstaaten ratifiziert. Es ist das erste zwischenstaatliche Abkommen, das die internationale Migration auf „ganzheitliche und umfassende Weise“ angehen soll. Das Dokument ist nicht bindend und greift nicht in die souveränen Rechte der Mitgliedstaaten und die Entscheidung ein, wer in ihr Hoheitsgebiet einreisen oder sich dort aufhalten darf. Der Global Compact steht im Zusammenhang mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Konkret soll der GCM den Staaten eine Reihe von politischen Optionen bieten, anhand derer sie Maßnahmen zur Bewältigung der dringendsten Herausforderungen im Zusammenhang mit der internationalen Migration ergreifen können. Neben dem GCM gibt es auch einen Globalen Pakt für Flüchtlinge unter der Schirmherrschaft des UNHCR, der sich mit Fragen im Zusammenhang mit Zwangsvertreibung und Flucht befasst.
Jessica: Meiner Meinung nach zeigt sich am Fall Ukraine ein „Konstruktionsfehler“ im internationalen System: nämlich dass wir zwei UN-Pakte haben, einen für Geflüchtete und einen für Migrant:innen. Ursprünglich sollte es ein einziges Abkommen geben, das beide Themen abdeckt. Die Menschen, die aus der Ukraine fliehen, haben Fragen aufgeworfen, die nicht nur den Globalen Pakt für Flüchtlinge betreffen, sonder auch direkt den Globalen Pakt für Migration. Beispielsweise Fragen zum gesicherten Zugang zu Gesundheitsversorgung und zur Arbeitsmarktintegration oder zu den Prinzipien der Nichtdiskriminierung. Es gab Berichte, dass Drittstaatsangehörige, die aus der Ukraine fliehen mussten, an bestimmten Grenzen nicht durchgelassen wurden und von Grenzbeamten anders behandelt wurden als Ukrainer:innen.
Marta: Wir stecken in einem wenig hilfreichen Narrativ vom „hilfsbedürftigen Flüchtling“ und dem „Wirtschaftsmigranten“ fest. In Wirklichkeit sind die meisten Migrationsgeschichten zwischen diesen beiden Polen zu verorten. Deshalb müssen wir uns mit allen Formen der menschlichen Mobilität befassen – und sicherstellen, dass alle Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, geschützt und gefördert werden.
Hilfeangebote in Berlin für Geflüchtete aus der Ukraine.
Marta: Ja, ich glaube, wir haben erhebliche Fortschritte dabei gemacht zu verstehen, wie Migrant:innen ihre Fähigkeiten und Talente entwickeln und zu Wirtschaft und Gesellschaft beitragen können. Der Arbeitskräftemangel in vielen Ländern hat uns vor Augen geführt, dass der Beitrag von Migrant:innen unerlässlich ist. Es gibt zahlreiche Initiativen, die Arbeitsangebote und Talente zusammenbringen – zum Beispiel die „European Skills Agenda“ der EU. Dies sind jedoch nur erste Schritte, und die Einwanderungspolitik ist nach wie vor sehr restriktiv. Es mangelt an Kohärenz: Wir schaffen berufliche Optionen, aber keine legalen Wege, damit die Menschen tatsächlich umziehen und arbeiten können.
Colin: Das Hauptziel des Pakts war es, legale Wege für Migrant:innen zu schaffen. Leider haben wir dies noch nicht umfassend in Angriff genommen, sodass Menschen, die bessere Chancen für sich selbst suchen, immer noch enorme Risiken eingehen und sich in prekäre Situationen begeben müssen, um dies zu erreichen.
Jessica: Aber es wurden auch einige Fortschritte erzielt, etwa, einen Konsens über Alternativen zur Inhaftierung von Migrant:innen zu finden – also für die Praxis in einigen Staaten, Menschen zu inhaftieren, solange ihr Aufenthaltsstatus noch nicht geklärt ist. Alternativen dazu verbessern das Leben vor Ort wirklich. Ich sehe das Abkommen als eine Chance für die Zukunft: Denn was ist die Alternative zu einer sicheren, geordneten und regulären Migration? Unsichere, ungeregelte und irreguläre Migration.
„Wir brauchen ein neues Narrativ, ja, sogar ein neues Vokabular, um über Migration zu diskutieren: Wir müssen uns auf die Talente, Fähigkeiten und Hoffnungen aller Menschen konzentrieren.“
Jessica: Ein Thema, das in der bisherigen Diskussion sehr fehlt, ist die Rolle, die digitale Technologien nicht nur bei der Steuerung der menschlichen Mobilität, sondern auch in der Flüchtlingspolitik spielen. Ich glaube nicht, dass es eine Frage ist, ob digitale Technologien eine Rolle spielen werden, sondern welche Instrumente wir wählen und nach welchen Regeln und Grundsätzen wir sie einsetzen.
Jessica: Technologie wird bereits eingesetzt, um durch die Analyse großer Datensätze bestimmte Migrationsereignisse vorherzusagen. Wie sich dieses Wissen auf die Politikgestaltung auswirkt, hängt jedoch ganz davon ab, was die Regierungen daraus machen: Sie könnten drastische Maßnahmen ergreifen, um Menschen vom Überschreiten der Grenzen abzuhalten, zum Beispiel durch bewaffnete Drohnen. Aber man kann dasselbe Datenmodell auch nutzen, um Menschen auf der Flucht proaktiv zu helfen. Schon jetzt werden immer mehr biometrische Daten und auf Algorithmen basierte Entscheidungen bei der Grenzabfertigung und der Visapolitik genutzt und erprobt. Dies birgt viele potenzielle Probleme. Diskriminierung und Voreingenommenheit können ebenfalls automatisiert werden. Das ist definitiv etwas, mit dem wir uns auf der Konferenz befassen müssen.
Marta: Dies sind gute Punkte. Ich würde jedoch argumentieren, dass es auch notwendig ist, die Debatte von der aktuellen Krise und den Megatrends loszulösen – und für langfristige, nachhaltige und pragmatische Ansätze zu plädieren, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Menschen sich bewegen und dies auch weiterhin tun werden. Menschliche Mobilität ist ein wesentlicher Teil der menschlichen Erfahrung, die Menschen sind immer fortgezogen, um neue Möglichkeiten zu suchen. Wir brauchen ein neues Narrativ, ja, sogar ein neues Vokabular, um über Migration zu sprechen: Wir müssen uns auf die Talente, Fähigkeiten und Bestrebungen aller Menschen konzentrieren. Bei der Migration geht es nicht um „wir und sie“, sondern um unsere gemeinsame Zukunft.
„Richtig interessant wird es, wenn die nationalstaatliche Politik die globale Diskussion widerspiegelt. Und hier wird die wichtigste Arbeit von der Zivilgesellschaft geleistet.“
Colin: Im Global Compact on Migration wird viel über die Bedeutung des Engagements der gesamten Gesellschaft gesprochen. In Wirklichkeit handelt es sich aber um einen sehr sorgfältig kontrollierten Prozess. Die Organisationen der Zivilgesellschaft können nicht einmal entscheiden, wer auf dem Forum für sie sprechen soll. Das verstößt natürlich gegen den Grundsatz der Selbstorganisation und gibt uns das Gefühl, Teilnehmer:in zweiter oder dritter Klasse zu sein. Und es gibt große Unterschiede in der Finanzierung zwischen den Organisationen im Globalen Norden und denen im Globalen Süden – aber aus Letzterem kommen viele Migrant:innen. Es gibt Organisationen, die ohne eine Finanzierungsgarantie nicht einmal ein Hin-und-Rückflugticket für ihre Vertreter:innen kaufen und so kein Visum für die USA beantragen können.
Jessica: Für viele unserer Partner:innen ist eine sinnvolle Einbeziehung von Interessengruppen wichtig. Wir wollen sicherstellen, dass alle relevanten Stimmen einen Platz am Tisch haben, wie die der Bürgermeister:innen und Städte – ein Bereich, den wir zum Beispiel mit dem Mayors Migration Council unterstützen. Wir haben auch zu einem Reisefonds beigetragen, der es Mitgliedern der Zivilgesellschaft aus dem Globalen Süden ermöglicht, zum Forum zu reisen. Und wir wollen Themen auf den Tisch bringen, die vielleicht nicht politisch opportun, aber relevant sind.
Colin: Richtig interessant wird es, wenn die nationalstaatliche Politik die globale Diskussion widerspiegelt. Und hier wird die wichtigste Arbeit von der Zivilgesellschaft geleistet, um die Umsetzung voranzutreiben, die sich direkt auf das Leben der Migrant:innen auswirken kann. Wir wollen also echte Partner:innen bei der Umsetzung des Globalen Pakts für Migration sein.
Marta: Politisch gesehen war es sehr wichtig, dass wir den Globalen Pakt haben. Er ist keine perfekte Lösung, aber sehen wir uns mal an, wie lange es gedauert hat, bis die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN in Gang kamen. Globale Rahmenwerke brauchen Zeit, um Wirklichkeit zu werden.