Gastbeitrag

Rechenschaft, Gerechtigkeit und Frieden in der Ukraine

Das ukrainische Volk befindet sich im zwanzigsten Monat seines Widerstandes gegen die russische Invasion und Besetzung. Der auf vielen Ebenen angerichtete Schaden ist unermesslich. Wie können wir die Ukraine nicht nur in ihrem Widerstand, sondern auch bei der Vorbereitung auf den „Sieg des Friedens" unterstützen?  Ein Gastbeitrag von Andrew Gilmour.

Text
Andrew Gilmour
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Picture alliance/Oleksii Chumachenko
Datum
16. Oktober 2023
Lesezeit
3 Min.

Offensichtlich systematisch begangene Kriegsverbrechen und andere Folgen der Kämpfe haben zu zehntausenden Toten, Verletzten und Gefolterten geführt. 6,2 Millionen Ukrainer waren gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen. Infrastruktur und Häuser wurden zerstört, die Umwelt in Mitleidenschaft gezogen. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms und die Überflutung großer Landstriche ist ein Beispiel für das, was man als „Ökozid" bezeichnen könnte, der noch jahrelang ökologische, landwirtschaftliche und wirtschaftliche Folgen haben wird. 

Was in den meisten Berichten jedoch oft übersehen wird, sind die langfristigen Schäden in anderen Bereichen. Die Auswirkungen des Krieges – einschließlich Traumata, Vertreibung und Umweltzerstörung – werden wahrscheinlich noch jahrelang ihre Schatten auf das Land werfen. Wie können wir die Ukraine nicht nur in ihrem Widerstand, sondern auch bei der Vorbereitung auf den „Sieg des Friedens" unterstützen? 

Beweissammlung zu Kriegsverbrechen und Ökozid

Am 30. Oktober 2023 wird die Berghof Stiftung in Zusammenarbeit mit The Reckoning Project auf Einladung der Robert Bosch Stiftung in Berlin eine große Veranstaltung zu Kriegsverbrechen, Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit in der Ukraine durchführen. Eines der Themen wird die systematische Sammlung von Beweisen für Kriegsverbrechen sein – das erste Mal in der Geschichte, dass ein solcher Versuch noch während des Krieges unternommen wird, eine Aktivität, bei der das Reckoning Project bemerkenswerte Arbeit geleistet hat.

Atomare und ökologische Schäden werden ein weiteres Thema des Tages sein, im Zusammenhang mit den wachsenden Forderungen, „Ökozid" als internationale Straftat anzuerkennen. Die Stärkung des internationalen Rahmens für den Schutz der Umwelt in bewaffneten Konflikten und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für vorsätzliche Umweltzerstörung sind notwendige Schritte zur Sicherung eines nachhaltigen Friedens. 

Über Andrew Gilmour, Direktor der Berghof Foundation

Andrew Gilmour ist Direktor der Berghof Foundation. Diese internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Berlin unterstützt die Dialog- und Friedensbemühungen in verschiedenen Konfliktregionen, darunter Afghanistan, Äthiopien und Jemen. Bevor er zu Berghof kam, war Andrew Gilmour 30 Jahre bei den Vereinten Nationen tätig, zuletzt als stellvertretender Generalsekretär für Menschenrechte. Zuvor hatte er leitende UN-Positionen in zahlreichen Konfliktgebieten inne, darunter Irak, Südsudan, Naher Osten, Balkan, Afghanistan und Westafrika.

Aufarbeitung erlittener Traumata

Gleiches gilt für die Förderung des sozialen Zusammenhalts. Gemeinschaften sind zerbrochen, Familien auseinandergerissen und Menschen durch die erlebte Gewalt und Unsicherheit traumatisiert. Die Invasion hat zwar zu einer beeindruckenden Solidarität und Einheit unter den Ukrainer:innen geführt und die Herausbildung einer ukrainischen staatsbürgerlichen Identität beschleunigt, aber wie immer in Kriegen treten unter der Oberfläche soziale Verwerfungen zutage, die auf unterschiedliche Kriegserfahrungen zurückzuführen sind. 

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Ein wesentlicher Bestandteil des Wiederaufbaus einer Nation, die ein solches kollektives Trauma erlitten hat, ist es, Einigkeit und Vertrauen in der Gesellschaft herzustellen. Dies kann durch lokale Initiativen, die Förderung des Dialogs zwischen verschiedenen Gruppen und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen erreicht werden. Aber auch die politische Führung auf nationaler Ebene muss einbezogen werden.

Erfahrungen aus Nachkriegskontexten zeigen, dass Übergangszeiten ein fruchtbarer Boden für intensive politische Auseinandersetzungen und Polarisierungen sind, insbesondere wenn Millionen von Flüchtlingen aus dem Ausland zurückkehren. Unter diesen Umständen muss die politische Führung entschlossen handeln, um die Weichen für die Zukunft des Landes zu stellen, insbesondere im Hinblick auf institutionelle, bildungspolitische und wirtschaftliche Reformen. 

Darüber hinaus ist die Aufarbeitung von Gewalt und Gräueltaten während des Krieges – einschließlich der häufigen russischen Angriffe auf zivile Ziele und weit verbreiteten Folter – für Heilung und Versöhnung unerlässlich. Wie die Veranstaltung am 30. Oktober zeigen wird, haben digitale Technologien neue Möglichkeiten eröffnet, Kriegsverbrechen zu dokumentieren und Beweise zu sammeln. Von Satellitenbildern bis hin zur Beobachtung sozialer Medien können diese Instrumente dazu beitragen, Zeugenaussagen zu untermauern, ein umfassenderes Verständnis von Ereignissen zu ermöglichen und belastbare Fälle von Rechenschaftspflicht zu schaffen.

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Um die Wunden des Krieges zu heilen, müssen nicht nur Einzelpersonen für begangene Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Zu den außergerichtlichen Mitteln der Übergangsjustiz gehören die Wahrheitsfindung, die Bewahrung der historischen Erinnerung an den Krieg, Wiedergutmachung, psychosoziale Unterstützung für Überlebende und die Förderung von Dialoginitiativen. 

Durch die gemeinsame Bewältigung dieser Herausforderungen – von der Rechenschaft über den sozialen Zusammenhalt bis hin zur Umweltzerstörung – kann die internationale Gemeinschaft der Ukraine dabei helfen, „den Frieden zu gewinnen" und dafür zu sorgen, dass der Weg zum Wiederaufbau des Landes nachhaltig, harmonisch und möglichst einvernehmlich verläuft. Nach den massiven und weitreichenden Anstrengungen, die dem ukrainischen Volk abverlangt werden, um seine besetzten Gebiete zurückzuerobern, fällt es schwer, zu dem Schluss zu kommen, dass es etwas anderes verdient hat.

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