In den letzten Jahren haben Menschen aus ganz unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen und sind nach Deutschland geflohen – darunter viele Mütter mit ihren Kindern. Das Projekt EngagemenTräume in Kempten bietet geflüchteten Müttern unter anderem alltagstauglichen Sprachunterricht an. So werden sie schneller ein Teil des schulischen Umfelds ihrer Kinder. Ein eigenes Netzwerk entsteht ganz nebenbei.
Anna Tsiukalenko fragt in die Runde: „Wo würdet ihr lieber leben, in einer Großstadt oder einer kleinen Stadt?“ Die Augen der jungen Deutschlehrerin wandern von einer Frau zur nächsten. Es dauert einen Moment, dann traut sich die erste: „In der Kleinstadt, weil ich Ruhe und Natur mag. Auch für die Kinder ist es besser, glaube ich.“ Viele pflichten ihr bei. „Andere Leute mögen große Städte, weil sie arbeiten und Karriere machen wollen“, entgegnet Nadiia Chursina. Die Ukrainerin stammt aus dem knapp 800.000 Einwohner großen und stark umkämpften Saporischschja.
Zehn Frauen sind an diesem Mittwochmorgen im Werkraum der Grundschule Kempten an der Sutt. Weiße Wände, weiße Holzpaneele. An den Fenstern hängen Papierblumen in lila, grün und orange. Die Tische sind den Frauen etwas zu niedrig, doch die ebenfalls niedrigen Stühle gleichen dies etwas aus. Wer hier für gewöhnlich sitzt, ist nicht älter als zehn. Es ist gemütlich, harmonisch – und sicher. Etwas, das diese Frauen brauchen, denn sie alle haben Fluchterfahrungen.
Sie stammen aus Iran, Syrien, der Türkei und der Ukraine. Einmal die Woche treffen sie sich in der Grundschule zum Sprachcafé des Projekts EngagemenTräume, einer Kooperation der Bildungseinrichtung und dem Sozialdienst muslimischer Frauen Kempten, kurz SmF. Zur Zielgruppe des (post)migrantisch geprägten Vereins zählen zu einem wesentlichen Teil Menschen mit Fluchtgeschichte. Die Begegnungsangebote sind niederschwellig und reichen von Exkursionen über Mutter-Kind-Gruppen, Väterrunden, Klettern und Yoga bis hin zu philosophischen Gesprächskreisen. EngagemenTräume richtet sich speziell an Mütter. Die Mitarbeiterinnen des Vereins stehen diesen zur Seite, unterstützen bei den Hausaufgaben oder besuchen gemeinsam die Stadtbibliothek.
EngagemenTräume ist ein gemeinsames Projekt der Grundschule an der Sutt und dem Sozialdienst muslimischer Frauen Kempten e.V. und Teil des größeren Programms „Geflüchtete Mütter stärken“ der Robert Bosch Stiftung. Das Projekt möchte geflüchteten Müttern mehr Teilhabe an den Schulen ihrer Kinder ermöglichen. Bei einem Frauenfrühstück und einem Sprachunterricht an der Grundschule vertiefen sie ihre Deutschkenntnisse und tauschen Erfahrungen aus. Sie erhalten Informationen zum deutschen Bildungssystem und schulinternen Abläufen sowie aktive Unterstützung für die Hausaufgabenbetreuung ihrer Kinder. Das macht sie nicht nur zu kompetenten Stützen für ihre Kinder, sondern erhöht auch ihre Motivation, sich an der Bildungseinrichtung zu engagieren und in der neuen Heimat Fuß zu fassen.
Ihren Tag beginnen die Frauen um 8.30 Uhr mit einem gemeinsamen Frühstück, tauschen sich aus über ihren Alltag in der neuen Heimat. Im Anschluss gehen sie von der Kantine in den Werkraum, um bis zum Mittag Deutsch zu lernen. „Das Projekt bietet einen Raum, um miteinander zu sprechen. Ich weiß von so vielen, die niemanden zum Sprechen haben“, sagt Nadiia Chursina.
Der Unterricht der Ukrainerin Anna Tsiukalenko knüpft an Alltagsituationen an. Wie fragt man nach dem Weg? Wie erklärt man ihn jemandem? Wo kann man was kaufen? Fast alle der Frauen sprechen bereits ganz gut deutsch. Viele hatten schon einmal mit Sprachunterricht begonnen, aber dann nicht weiterverfolgen können, da sie sich um ihre jungen Kinder kümmern müssen.
Im Sprachcafé dürfen sie ihre Kinder dabeihaben. Projektleiterin Rania Mohamed tröstet, wenn eines quengelt und erklärt ganz nebenbei, was zu tun ist, wenn die Mütter einen Rücklaufzettel im Schulranzen des Nachwuchses finden, der unterschrieben werden muss – ein Gewinn für Schule, Kinder und Mütter.
Studien sprechen ganz nüchtern von Integrationshemmnissen geflüchteter Frauen. In der Realität zeigt sich seit Jahren, dass ein Mangel an Kinderbetreuung und das Fehlen sozialer Netzwerke dazu führen, dass Müttern mit Fluchtgeschichte seltener den Einstieg in den Arbeitsmarkt gelingt. Dem Trend möchte das Projekt EngagemenTräume etwas entgegensetzen.
Als die 12-Uhr-Glocke für die Mütter den Unterricht beendet, tritt Nadiia Chursina vor die Klasse. Aus mehreren Taschen packt sie Klangschalen und traditionelle ukrainische Instrumente aus. „Das ist eine Divya“, sagt sie. Sie hebt das Metallophon hoch und streicht mit dem Schlägel über die Metallplatten. Der Klang ähnelt einer satteren Version eines Glockenspiels, das lange nachschwingt. Dann nimmt sie eine flache Trommel in die Hand. „Das ist ein Strumok. Das bedeutet Quelle“, sagt sie. Sie dreht die mit vielen Eisenkügelchen gefüllte Trommel und es klingt wie das Rauschen von Wasser. Als sie die Klangschalen anstimmt, schließen einige Frauen die Augen. Der Ton wirkt beruhigend und entspannend. „Klang ist stark, er kann viel machen mit unseren Gefühlen“, erklärt sie.
Für Nadiia Chursina ist das kein Hobby, sondern war in der Ukraine Teil ihres Berufs. Als Yogalehrerin und Klangtherapeutin führte sie ein eigenes Studio. Auch das ließ sie zurück, als sie eine Woche nach Kriegsbeginn ihre Heimat mit ihrer achtjährigen Tochter verließ. „Ich hatte Angst, jeden Tag ertönten Sirenen.“ Mit ihrem Mann, der Tochter, einem befreundeten Paar mit Sohn und einer weiteren Freundin verließen sie Saporischschja. „Wir wussten erst gar nicht wohin“, erinnert sie sich. Bis eine Bekannte sie in ein leerstehendes Haus an der ungarischen Grenze einlud. Sie fuhren drei Tage lang, schliefen die erste Nacht in einer Schulsporthalle, die zweite bei einer fremden Frau, die ihnen ein Bett angeboten hatte. Im Haus der Bekannten sei es dann aber eiskalt gewesen. „Wir konnten dort nicht bleiben.“ Nach drei Tagen brachen die Frauen mit den Kindern auf nach Ungarn. Die Männer blieben zurück, sie durften das Land nicht verlassen.
„Wir fuhren über die Grenze und warteten circa fünf Tage ab. Wir dachten, das alles geht schnell vorbei.“
Dank eines Freundes kamen sie schließlich ins 1.000 Kilometer entfernte Allgäu, eine Gegend, von der sie bis dato nicht gehört hatten. Surreal kam ihr am Anfang alles vor. Und auch jetzt noch, da die Realität sie längst eingeholt hat, fühle es sich an wie ein Traum, aus dem sie bald erwache, erzählt Chursina.
In Kempten gehörten sie zu den ersten Geflüchteten. Ein Ortsansässiger bot ihnen eine Wohnung an, sie bekamen finanzielle Unterstützung. Die Kinder gingen gleich nach den Osterferien in die Schule. Und auch Nadiia Chursina fand einen Job als Schülerbetreuerin in der Städtischen Realschule, besuchte einen Deutschkurs.
Schon bald entstand der Kontakt zum SmF. In den Herbstferien lernte die Ukrainerin eine Mitarbeiterin des Vereins kennen. Die erzählte ihr von der Klettergruppe des SmF, der für sein Sportprojekt „Mia san fit!“ kürzlich den Bayerischen Integrationspreis erhalten hat. Das wäre genau das Richtige für ihre Tochter, dachte sie. Zum Klettern geht die Achtjährige nun mit dem Vater, der mittlerweile nachkommen konnte. Es sei ein richtiger Familienverein, nicht nur für die Frauen, resümiert Chursina.
Hemmungen abzubauen und einen Raum für aktive Teilhabe zu ermöglichen, ist das erklärte Ziel des Sozialdienstes. Wie gut das in kurzer Zeit dank Projekten wie EngagemenTräume gelingen kann, zeigen Nadiia Chursina und die anderen Frauen.