Die EU will irreguläre Migration stärker eindämmen und verschärft das Asylrecht. Weshalb es falsch wäre, in der Migrationspolitik auf mehr Abschreckung zu setzen, erklärt Bram Frouws, Direktor unseres Partners Mixed Migration Centre.
Warum wächst in einigen europäischen Ländern der Eindruck, dass Europa nicht noch mehr Migranten aufnehmen kann?
Es gibt definitiv Herausforderungen mit Blick auf die Aufnahmekapazität, insbesondere was Wohnraum oder Arbeitsplätze betrifft. Und natürlich gibt es Länder wie Deutschland, die 2015/16 und zuletzt mit den Ukrainerin:nen bereits sehr viele Menschen aufgenommen haben. Generell ist die Zahl der Asylanträge im vergangenen Jahr in ganz Europa stark angestiegen. Die Aufnahmekapazitäten sind also sicherlich voll ausgelastet.
Aber es ist eine Frage des politischen Willens, wohin man seine Ressourcen lenkt. Man könnte beschließen, mehr in die Aufnahmekapazitäten zu investieren. Wichtig ist, dass die Regierungen signalisieren, dass sie die Kontrolle haben – auch wenn es Herausforderungen gibt, auch wenn die Zahlen sehr hoch sind. Die Menschen mögen es nicht, wenn Dinge außer Kontrolle geraten. Sie wollen sehen, dass die Regierenden die Dinge im Griff haben.
Was halten Sie von der aktuellen Reform des EU-Asylrechts?
Es bestand eindeutig die Notwendigkeit, das System zu reformieren und zu überarbeiten. Daher ist es gut, dass sich die Länder auf die Entwicklung eines neuen Migrations- und Asylpakts geeinigt haben. Aber es gibt viele Bedenken und es ist unwahrscheinlich, dass der Pakt einige der Hauptprobleme wirklich lösen wird. Pushbacks werden wahrscheinlich weitergehen, die Inhaftierung von Migranten wird zunehmen, die Externalisierungspolitik wird wahrscheinlich weitergehen und das Recht der Menschen, Asyl zu beantragen, könnte untergraben werden. Aber wenn dieser Pakt angesichts der bevorstehenden Europawahlen im nächsten Jahr die wirklichen Probleme nicht angeht, wird er nur den eher migrationsfeindlichen Parteien in die Hände spielen, die mehr Sitze im Europäischen Parlament gewinnen könnten.
Wie hat sich die Debatte über Migration in den vergangenen Jahren verändert?
Eine sehr positive Entwicklung ist die wachsende Rolle der Städte, auch in der globalen Debatte, über die Steuerung von Migration. Städte sind tagtäglich mit der Realität der Migrant:innen und Geflüchteten in ihren Städten konfrontiert. Städte haben daher eine positive und eher pragmatische Sicht auf diese Herausforderungen. Durch die Unterstützung der Robert Bosch Stiftung und andere werden Städte auch stärker in den globalen Diskussionen über die Steuerung von Migration gehört. Das ist eine sehr positive Entwicklung. Eine weitere positive Entwicklung ist der Globale Migrationspakt. Die Tatsache, dass es einer so großen Mehrheit der Staaten weltweit gelungen ist, dieses umfassende und progressive Dokument auszuhandeln, ist sehr positiv. Hier gibt es einen Aufwärtstrend.
Gleichzeitig erleben wir Dinge, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren: dass Staaten mit allen Mitteln versuchen, Migration zu stoppen. Vor zehn Jahren gab es ein großes Bootsunglück mit über 300 Toten vor Lampedusa, und alle haben gesagt: Nie wieder. Dennoch passiert es immer wieder: So viele Migranten verlieren weiterhin bei der Überfahrt über das Mittelmeer oder auf anderen Migrationsrouten ihr Leben. Es gibt Grenzschützer in Saudi-Arabien, die mit Scharfschützen und Artilleriebeschuss gezielt äthiopische Migranten töten. So etwas Extremes haben wir bisher noch nicht erlebt. Insgesamt würde ich sagen: Die Situation verschlechtert sich, aber es ist wichtig, positiv zu bleiben.
Griechenland erweitert die Landesgrenzen zur Türkei mit einem betonierten Zaun und Polizeipatrouillen.
Die EU konzentriert sich darauf, die so genannten Fluchtursachen, sprich die Ursachen für irreguläre Migration und Vertreibung in Afrika, zu bekämpfen. Wie wirksam ist das bisher?
Nicht sehr effektiv. Ein Beispiel: Von den 5 Milliarden Euro, die die EU zur Verfügung gestellt hat, gingen 2,2 Milliarden an Niger, Mali und Burkina Faso. Wenn man sich anschaut, wie dieses Geld auf verschiedene strategische Ziele verteilt wurde, dann ist der größte Teil in den Bereich Sicherheit und Regierungsführung geflossen. Diese drei Länder haben seither mindestens einen Militärputsch erlebt. Noch auffälliger ist, dass mit dem Geld die Ursachen von Vertreibung und irregulärer Migration bekämpft werden sollten. Aber wenn man sich die Zahl der Vertriebenen in diesen Ländern anschaut, dann gab es vor Beginn dieser Investitionen 200.000 Flüchtlinge und Asylsuchende in der Sahelzone. Jetzt sind es 1,5 Millionen. Es gab 50.000 Binnenvertriebene, heute sind es 3,2 Millionen. Die Zahl der Asylsuchenden und Geflüchteten ist also trotz der 2,2 Milliarden Euro, die in die Bekämpfung der Fluchtursachen investiert wurden, massiv gestiegen.
Das Mixed Migration Centre veröffentlicht jedes Jahr einen Bericht zu gemischten Wanderungsbewegungen mit wechselnder aktueller Themensetzung. Basierend auf einer Auswahl von Daten aus den rund 10.000 Interviews, die jährlich mit Flüchtlingen und Migrant:innen in aller Welt geführt werden, trägt der Bericht zu einem differenzierten Verständnis und einer kritischen Analyse des Themas bei.
Was könnte man besser machen?
Wir brauchen einen viel umfassenderen Ansatz, der verschiedene Politikbereiche wie Agrarsubventionen, Handels-, Visa-, Migrationspolitik und Rückkehrpolitik miteinander verbindet. Wir brauchen innovativere und umfassendere Arbeitsmigrationsprogramme, einschließlich zirkulärer oder temporärer Arbeitsmigration, um sichere und legale Migrationskanäle für eine große Zahl von Menschen zu schaffen.
Interessant ist, was die Vereinigten Staaten tun. Sie versuchen, legale Zugangswege in ihr Land durch so genannte „Safe Mobility Offices“ zu erleichtern. Die ersten Büros wurden in Kolumbien, Guatemala und Costa Rica eingerichtet. Die Menschen können dorthin gehen und werden einem von vier verschiedenen regulären Migrationskanälen in die USA zugewiesen: für temporäre Arbeit, aber auch für das Resettlement von Flüchtlingen, für humanitäre Visa oder Familienzusammenführung. Die Idee dabei ist, dass die Menschen keine lange und gefährliche Reise auf dem Landweg auf sich nehmen müssen, um dann spontan an der Südgrenze der USA anzukommen. Wahrscheinlich gibt es einige Schwachstellen, und wir müssen genau beobachten, was diese Büros für das Recht auf Asyl an der Grenze bedeuten. Dennoch ist es ein interessanter Versuch. Vielleicht sollten wir so etwas auch in Europa einführen.
Auch würde es helfen, die Resettlements auszuweiten. Ich sage nicht, dass Europa alle Geflüchteten der Welt aufnehmen soll, aber die Zahl kann deutlich höher sein. Mit den richtigen Investitionen ist es möglich, die Kapazitäten für die Aufnahme und Bearbeitung von Asylanträgen an den europäischen Außengrenzen zu erhöhen. Wenn wir etwas mehr von dem Geld, das Europa für Abschreckung und den Versuch, Migration zu stoppen, ausgibt, in eine faire und schnelle Bearbeitung von Asylanträgen an den europäischen Außengrenzen investieren, idealerweise mit einem fairen und gerechten System der Umsiedlung anerkannter Asylbewerber in der gesamten Europäischen Union, wird das einen großen Unterschied machen.
Welche Rolle spielen Rückführungen in diesem Prozess?
Das ist der entscheidende Punkt. Eine gute Migrationssteuerung kann nur funktionieren, wenn sie einhergeht mit einem fairen, aber auch schnellen und menschenwürdigen System der Rückführung von Menschen, die kein Bleiberecht haben. Die Tatsache, dass dieses ganze Rückführungssystem derzeit nicht funktioniert, schränkt die Bemühungen um ein besseres Migrationsmanagement ein. Weniger als ein Drittel der Menschen, die einen negativen Bescheid erhalten, kehren in ihre Heimatländer zurück, die meisten bleiben in Europa. Die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern in Fragen der Rückführung ist mangelhaft, und es fehlt an legalen Zugangswegen auf Seiten der Zielländer.
Ein Beispiel sind die Niederlande: Viele Menschen aus Marokko, Algerien oder Tunesien landen in Asylbewerberzentren. Die Wahrscheinlichkeit eines negativen Bescheids ist sehr hoch. Aber selbst dann bleiben sie dort, weil es keine Möglichkeit gibt, sie in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. Das schränkt den Platz für andere Geflüchtete ein. Und es untergräbt die öffentliche Wahrnehmung des Asyl- und Migrationsmanagements. Das muss auf europäischer Ebene viel besser organisiert werden. Für ein besseres Migrationsmanagement müssen wir viele verschiedene Elemente kombinieren. Solange man auf Abschreckung setzt und versucht, Migration mit allen Mitteln und möglichst weit weg von Europa zu stoppen, werden wir keinen Erfolg haben.
Weltweit migrieren immer mehr Menschen in andere Regionen oder Staaten - auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen, Arbeit, und immer häufiger auch wegen der Auswirkungen des Klimawandels. Lesen Sie in diesem Dossier, welche politischen Ansätze nötig sind, welche Herausforderungen auf uns zukommen und wie Migrant:innen selbst Teil der Lösung sein können.