In ihrer preisgekrönten Reportage beleuchtet Gabriela Galvin die Auswirkungen der dänischen „Ghetto-Gesetze“ auf das Leben dreier Frauen. Uns erzählt sie die Geschichte hinter der Geschichte – und erklärt, warum inklusive Berichterstattung so wichtig ist.
Was hat Sie ursprünglich am Thema der nicht-westlichen Einwanderer in Dänemark interessiert – und wie sind Sie auf die Geschichten von Fatema, Marua und Farida gestoßen?
Als Ausländerin hatte ich einen sehr warmen und unkomplizierten Start in Dänemark. Es war unglaublich einfach für mich, mich dort niederzulassen, und ich fühlte mich willkommen – obwohl ich die Sprache nicht fließend sprach und keine vorherigen Verbindungen hatte. Aber als ich begann, mich mehr mit dänischer Politik und gesellschaftlichen Themen zu beschäftigen, stieß ich auf die „Ghetto-Gesetze“ – und war schockiert über den Kontrast.
Hier war ich, ein Neuankömmling aus einem wohlhabenden westlichen Land, der alle Vorteile des Zweifels genoss - während Menschen, die in Dänemark geboren und aufgewachsen sind, oft sogar Staatsbürger:innen, eine ganz andere Realität erleben, nur weil sie in als „Ghettos“ bezeichneten Stadtteilen leben. Diese Einstufung basiert auf dem Anteil von Bewohner:innen „nicht-westlicher Herkunft“ sowie Faktoren wie Einkommen, Bildung und Kriminalität.
"Dieser krasse Gegensatz zwischen meiner Erfahrung und ihrer Realität hat mein Interesse geweckt."
Ich habe während meiner Recherche mit vielen Menschen gesprochen – in Müttergruppen, Schulen, Kindergärten und Gemeindezentren. Nur wenige wollten namentlich genannt und porträtiert werden, aber die vielen Gespräche haben mir geholfen, ein tieferes Verständnis zu entwickeln. Letztlich habe ich mich auf Fatema, Marua und Farida konzentriert, da sie aus sogenannten Ghettos in verschiedenen Landesteilen kamen und bereit waren, ihre Erfahrungen öffentlich zu teilen.
Haben Sie eine persönliche Verbindung zu den Themen Migration, Identität oder Zugehörigkeit, die Ihre Herangehensweise an diese Geschichte geprägt haben?
Ich komme ursprünglich aus den USA und bin 2022 nach Dänemark gezogen. Wie viele Amerikaner hat meine Familie eine Migrationsgeschichte – meine Großeltern kamen Ende der 1960er Jahre aus Chile in die USA, und die Familie meines Partners stammt aus der Ukraine.
Als Journalistin berichte ich häufig an der Schnittstelle von Gesundheit, Gesellschaft und Politik. In der Vergangenheit habe ich Migration unter dem Aspekt der Gesundheitsversorgung betrachtet, insbesondere den Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne Papiere. Bei dieser Geschichte interessierten mich besonders die Auswirkungen der „Ghetto-Gesetze“ auf Familien und das Wohlergehen von Kindern – da trafen meine Erfahrungen im Gesundheitsjournalismus und mein Interesse an Migration ganz natürlich aufeinander.
Wie sind Sie erstmals auf Dänemarks „Ghetto-Gesetze“ gestoßen und was hat Ihr Interesse daran geweckt?
Zum ersten Mal hörte ich in einem Gespräch mit einem dänischen Freund davon. Ich hatte gerade einen Supermarkt entdeckt, der Produkte aus aller Welt führte – Dinge, die ich sonst nirgendwo in Dänemark finden konnte – und war begeistert. Mein Freund sagte daraufhin: „Ach, das ist in einem Ghetto – dem gefährlichen Teil der Stadt.“
"Ich war schockiert, dass der Begriff „Ghetto“ so beiläufig verwendet wurde, um ein scheinbar ganz normales Viertel zu beschreiben."
Dieses Erlebnis machte mich neugierig, und ich begann, tiefer zu recherchieren. Ich lernte mehr Menschen kennen, die in diesen Gegenden lebten, und bekam ein besseres Gespür dafür, wie das Konzept eines „dänischen Ghettos“ nicht nur soziale, sondern auch materielle Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat.
Wird ein Viertel als „Ghetto“ – oder seit der Umbenennung 2021 als „Parallelgesellschaft“ – eingestuft, kann das bedeuten, dass Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben werden, strengere Strafen für dort begangene Straftaten gelten und Eltern verpflichtet werden, ihre Kinder in die Kita zu schicken, damit diese „dänische Traditionen, Normen und Werte“ wie Demokratie und Weihnachten kennenlernen. Die meisten Dänen schicken ihre Kinder ohnehin etwa ab dem ersten Lebensjahr in die Kita – aber für diese Familien ist es verpflichtend. Außerdem gibt es eine Obergrenze von 30 % Prozent für Kinder aus diesen Vierteln in lokalen Kindergärten.
Ich habe festgestellt, dass es echte Konsequenzen gibt: Eltern verlieren mitunter ihren Anspruch auf staatliche Leistungen für Neugeborene, was erhebliche finanzielle Folgen haben kann. Andere müssen quer durch die Stadt fahren, um eine Kita zu finden, die nicht schon „zu viele“ Kinder wie ihres aufgenommen hat.
"Für viele ist es das Stigma – das Gefühl, nicht wirklich zur dänischen Gesellschaft zu gehören – das am meisten schmerzt."
Ihr Artikel konzentriert sich auf die Erfahrungen von Kindern und Familien – welche langfristigen Auswirkungen haben diese Gesetze Ihrer Meinung nach auf die jüngste Generation?
Wenn Kinder ihr ganzes Leben lang hören, dass sie nicht „wirklich dänisch“ sind, dann nagt das mit der Zeit an ihnen. Manche können damit besser umgehen, für andere wird es zu einer tiefen seelischen Wunde.
Die meisten sogenannten Ghettos sind eigentlich sehr gemeinschaftlich geprägt und eng verbunden. Die Menschen sind stolz auf ihre Herkunft. Sie lehnen das Label wegen der negativen Assoziationen ab, aber sie lieben ihre Nachbarschaften – das gilt für Menschen mit dänischen ebenso wie mit anderen Wurzeln.
Wenn jedoch auf diese Viertel immer mehr Einschränkungen zukommen – etwa durch bauliche Umstrukturierungen, Kita-Regelungen oder strengere Strafen –, dann fangen die Menschen mit mehr Ressourcen an, nach Wegen zu suchen, um wegzuziehen.
Der Migration Journalism Award wurde 2023 vom European Press Prize und der Robert Bosch Stiftung ins Leben gerufen. Er zeichnet herausragende journalistische Arbeiten zum Thema Migration aus. Der Preis fördert Berichterstattung, die sowohl menschliche Geschichten als auch politische, wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen von Migration erfasst – und damit eine differenzierte öffentliche Debatte auf Basis von Empathie und Komplexität ermöglicht.
Ihr Artikel erschien im renommierten US-Magazin New Lines. Was war Ihr Ziel mit dieser Geschichte?
Ich wollte die Geschichte in einem internationalen Medium veröffentlichen, weil es in Dänemark und den dänischen Medien bereits viele Diskussionen zu diesen Gesetzen gibt. Ich dachte, ich könnte etwas Neues beitragen, indem ich das Thema in einen globalen Kontext stelle.
Zwar geht es in der Geschichte hauptsächlich um die konkreten Auswirkungen der Gesetze auf Familien in Dänemark, aber sie wirft eine breitere Frage auf: Wer darf Däne sein – und wer darf es werden? Wer entscheidet das? Diese Frage stellt sich nicht nur in Dänemark, sondern auch in anderen Ländern – etwa in Deutschland. Sie zeigt sich überall etwas anders, aber das Grundthema ist sehr universell.
Wie haben die dänischen Medien und die breite Öffentlichkeit auf Ihren Artikel reagiert? Und welches Feedback haben Sie aus den betroffenen Gemeinden erhalten?
Das persönliche Feedback war sehr positiv. Menschen aus den betroffenen Gemeinden sagten mir, sie fühlten sich fair und differenziert dargestellt – das hat mir viel bedeutet. Diese Communities sind nicht homogen, und es war mir sehr wichtig, das zu zeigen. Oft werden Menschen eindimensional dargestellt, aber ich wollte deutlich machen: Das sind Menschen mit Handlungsspielraum und vielfältigen Meinungen.
"Der Artikel hat auch hitzige Debatten ausgelöst – das fand ich gut. Es gab unterschiedliche Sichtweisen, ob man die Gesetze befürwortet oder nicht, und ich war froh, dass der Beitrag zu einer breiteren Diskussion über das Thema geführt hat."
Wenn Sie eine Sache an der Berichterstattung über Migration in europäischen Medien ändern könnten – was wäre das?
Das ist schwer zu beantworten, weil Migrationsgeschichten je nach Medium und Land sehr unterschiedlich erzählt werden. Aber was wir wirklich brauchen, sind stärkere Förderstrukturen für Journalist:innen mit Migrationshintergrund – damit sie eine größere Rolle bei der Gestaltung dieser Berichterstattung spielen können. Wir brauchen eine vielfältigere Medienlandschaft, nicht nur bei Migrationsthemen, sondern insgesamt.