Im Jemen herrscht seit vielen Jahren Krieg. Das Sana’a Center for Strategic Studies kämpft trotz der gefährlichen Bedingungen für inklusiven Frieden und versucht Frauen und Jugendliche eine Stimme zu geben. Doch bei Projekten vor Ort geht es in erster Linie darum, niemanden durch die Teilnahme zu gefährden.
Feryal Al-Naseem war 21 Jahre alt, als der Krieg 2015 in ihre Heimatstadt Aden im Süden des Jemen kam. Sie arbeitete damals für eine Initiative, die Kultur-Events organisierte: Buch-Clubs, Konzerte, Themenabende. Eigentlich ist sie Bauingenieurin. „Ich wollte mich für die Gesellschaft einsetzen, jungen Leuten ein Vorbild sein und andere Perspektiven aufzeigen als den Konflikt.“
Al-Naseem wurde in den Konflikt hineingeboren. 1990 vereinten sich der Südjemen und der Nordjemen zur heutigen Republik. Doch die Einheit bestand nur auf dem Papier, in der Praxis stülpte der nordjemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh dem Süden seine Herrschaft über. Nur vier Jahre später kam es zum ersten Bürgerkrieg.
2014 besetzten Huthi-Gruppen mit Soldaten, die dem 2011 abgedankten Saleh treu blieben, die Hauptstadt Sana’a. Als sie auch ins südliche Aden einfielen, den neuen Regierungssitz, konnte die Südbewegung sie nach brutalen Kämpfen zwar zurückdrängen. „Aber der Krieg veränderte die Menschen“, sagt Al-Naseem.
In Aden, der einst kosmopolitischen Hafenstadt, wurden die radikalen Stimmen nach dem Krieg lauter. Bei den Predigten in den Moscheen verteufelte man Kulturangebote als „haram“, als verboten. Vor allem gegen die Mitarbeiterinnen wurde gehetzt.
„Wir Frauen begannen unsere Gesichter zu verhüllen, meine Familie ließ mich nicht mehr zur Arbeit gehen“
Schon bevor der Krieg Jemen in eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt stürzte, war das Leben der Frauen von einem strengen Patriarchat und struktureller Ungerechtigkeit geprägt. Mit dem Zusammenbruch öffentlicher Institutionen fielen die letzten Schutzmauern für Frauen, gleichzeitig klammerte sich die Gesellschaft immer stärker an Tradition und Religion.
Der Gründer der Kulturinitiative, für die Feryal Al-Naseem tätig war, wurde erst bedroht, dann umgebracht. „Wir Frauen begannen unsere Gesichter zu verhüllen, meine Familie ließ mich nicht mehr zur Arbeit gehen.“ Eineinhalb Jahre saß Al-Naseem widerwillig zu Hause. Dann bewarb sie sich als Assistentin für das Aden-Büro des Sana’a Center for Strategic Studies. Diesmal deckte ihre Mutter sie vor dem Vater und den Brüdern: Sie gab vor, ihre Tochter arbeite nun für eine humanitäre Hilfsorganisation.
Die Robert Bosch Stiftung unterstützt nachhaltigen Frieden durch langfristige Förderung in Konfliktregionen. Mit lokalen Partnern initiiert die Stiftung inklusive Friedensprozesse und die Umsetzung von Projekten vor Ort. Der Austausch zwischen Akademikern und Praktikern wird weltweit gefördert, um so lokale Friedensansätze in relevante Debatten einzubringen.
Neben ihrer Arbeit im Büro nahm Al-Naseem bald selbst an einem der Programme des Sana’a Centers teil. Das Yemen Peace Forum (YPF) ist eine Plattform, die junge Leute aus allen Regionen des Landes mit Akteur:innen aus der Zivilgesellschaft zusammenbringt, um aktuelle Themen zu diskutieren. Das Forum wird vom Sana’a Center gefördert und vom niederländischen Außenministerium finanziert. Dabei sollen Teilnehmer:innen mit Wissen und Selbstbewusstsein ausgerüstet werden, um selbst Einfluss auf ihre Communitys nehmen zu können. „Ich habe plötzlich festgestellt, dass meine Meinung zählt. Dass ich die Gestaltung meiner Zukunft nicht den anderen überlassen will.“
Bei den Treffen lernte sie Vertreter:innen marginalisierter Minderheiten kennen, Menschen mit Behinderung oder der im Volksmund als „Sklaven“ betitelten Ethnie der Muhamasheen, eine der am stärksten marginalisierten ethnischen Gruppen im Jemen. Einen „Safe Space“ nennt Al-Naseem die Plattform, die sie inzwischen als Koordinatorin betreut.
Eines der Themen des Forums ist die Bildungskrise: Viele Lehrer:innen in Huthi-Gebieten haben seit Jahren kein Gehalt ausgezahlt bekommen und müssen andere Jobs annehmen. „Aktuell überlegen wir außerdem, wie wir mit der Militarisierung der Lehrpläne in den Huthi-Gebieten umgehen“, sagt Al-Naseem.
Dass die meisten Projekte im Netz stattfinden, liegt nicht nur an der eingeschränkten Bewegungsfreiheit der Zivilbevölkerung. „Wir können keine Flyer verteilen oder Plakate aufhängen. Das ist zu gefährlich.“ Im ganzen Land gehen die lokalen Milizen gegen die Zivilgesellschaft vor. Aden wird seit 2017 vom „Südübergangsrat“ (STC) kontrolliert, der die Unabhängigkeit Südjemens anstrebt, mit seinen Milizen aber auch die eigene Bevölkerung gängelt. Events und Treffen müssen deshalb im Ausland stattfinden oder auch mal in der etwas ruhigeren Provinz Hadramaut im Osten.
Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist tief in der jemenitischen Gesellschaft verankert. Im „geeinten“ Jemen der 90er-Jahre wurde per Gesetz festgeschrieben: Das Leben einer Frau hat die Hälfte des Wertes eines Männerlebens, Zwangsheirat und Kinderehen sind legal. Mit dem Krieg hat sich die Situation dramatisch verschlechtert: Frauen werden von allen Konfliktparteien in ihrer Freiheit beschnitten. So dürfen sie nur noch in männlicher Begleitung durchs Land reisen, sich nicht allein durch die Hauptstadt Sana’a bewegen. Gleichzeitig steigen häusliche Gewalt und die Zahl der Kinderehen.
Wie tief das Misstrauen in den Köpfen der eigenen Gesellschaft steckt, musste Al-Naseem erfahren, als sie über soziale Medien ihren Mann kennenlernte – und er für sie nach Aden zog. „Mein Mann stammt aus Sana’a“, erklärt sie. „Wegen seines nordischen Dialekts konnte er in Aden nicht einmal eine Wohnung mieten. Alle hielten ihn für einen Huthi.“ Gerade versuchen die beiden deshalb eine Aufenthaltsgenehmigung in Schweden zu bekommen.
Auch ihr Kollege Yazeed Aljeddawy hat ebenfalls Zuflucht in Schweden gesucht und lebt dort seit zweieinhalb Jahren. Er koordiniert die Forschungsprojekte des Sana’a Center und veröffentlicht Studien und Artikel. Zum Beispiel zu einem der drängenden Themen, der inklusiven Friedensarbeit: Bei der „Transitional Justice“ geht es um die Anerkennung und die Aufarbeitung der von allen Konfliktparteien begangenen Menschenrechtsverletzungen. Damit die vielen Opfer wieder Vertrauen finden können und sich am Friedensprozess beteiligen.
Aljeddawy selbst stammt aus dem Berggouvernement Ibb, die wie der Großteil des Nordens unter dem Regime der Huthi-Gruppen steht. Eigentlich hatte er kurz vor dem Krieg eine Universitätsstelle in Saudi-Arabien annehmen wollen, doch mit der Übernahme von Sana’a durch die Huthis wurde die Botschaft geschlossen. In tiefer Sorge um seine Familie und sein Land begann er von Aden und den benachbarten Gouvernements aus in Bildungsprogrammen für Jugendliche zu arbeiten – und bekam wieder Hoffnung. „Der Enthusiasmus, mit dem sie trotz allem ihre Zukunft planen, ist inspirierend.“
Das Sana’a Center for Strategic Studies wurde 2014 von jungen Jemenit:innen gegründet, die sich für Demokratie und einen zivilen Staat einsetzten. Der unabhängige Thinktank macht sich für den Wandel im Jemen und in der Region stark, führt Friedensdialoge und Programme zur Friedenskonsolidierung durch. Das Zentrum fördert die Wissensvermittlung, bietet eine Plattform für jemenitische Stimmen und beeinflusst die Politik. Es leitet das Yemen International Forum und führt Programme im Jemen durch, um Vertrauen zu schaffen, politische Maßnahmen zu stärken und inklusive Friedenslösungen zu finden.
Seinen ersten Kontakt mit dem Sana’a Center knüpfte er während der Arbeit an einer Publikation für den Thinktank CARPO, die sich mit der Rolle der Jugend in der Friedenskonsolidierung im Jemen beschäftigte. In seinem ersten Beitrag für das Sana’a Center analysierte er die Auswirkungen des Krieges auf die Prioritäten und Bedürfnisse der jemenitischen Jugend. „Mich hat tief beeindruckt, wie die brillantesten jungen Köpfe im Jemen unermüdlich daran arbeiten, durch ihre Forschung das wahre Bild unseres Landes zu zeichnen. Ein Yemen, das junge Generationen lebenswert finden.“
Mit ihrer Arbeit wollen sie sich der Desinformation und der Propaganda durch die Konfliktparteien entgegensetzen. „In westlichen Medien wirkt es oft so, als ob Jemens Jugend den Krieg antreibe“, sagt Aljedawwy. Dabei müsse man wissen, dass zwei Drittel der Bevölkerung in ländlichen Regionen lebe, weit verstreut in oft winzigen Siedlungen. Dort fehle es an allem, an Wasser, Strom, Zugang zu Bildung. Besonders die Huthi-Gruppen machen sich die Isolation und die Armut zunutze, um mit Versprechungen ihre Soldaten zu rekrutieren: Jugendliche, oft Kinder.
„Der Großteil der Jugendlichen hat keinerlei Interesse am Krieg“, sagt Aljeddawy. Im Gegenteil: Er sei immer wieder erstaunt, wie sich junge Jemenit:innen für die Gesellschaft einsetzten. „Als die Lehrer:innen im ganzen Land streikten, sind die älteren Schüler:innen eingesprungen.“
Über die Studien und die Artikel, die das Sana’a Center unermüdlich auf Englisch und Arabisch in die Welt hinausschickt, gelingt es den Autor:innen, die Diversität ihres komplexen Landes abzubilden, lokale Stimmen zu verstärken, die Herausforderungen von Minderheiten zu analysieren und immer wieder Frauen und Jugendliche in den Mittelpunkt zu stellen. Bei Projekten vor Ort geht es jedoch erst einmal darum, niemanden durch die Teilnahme zu gefährden.
„Wir haben eine sehr weite Präsenz im Jemen“, sagt Aljedawwy. „Und wir ergreifen alle notwendigen Maßnahmen, um die Sicherheit aller zu gewährleisten.“ Er musste selbst erfahren, welche Gefahren es birgt, sich offen für inklusive Friedensarbeit einzusetzen. Seit Jahren kann er weder seine Eltern im Norden des Landes besuchen noch seine Frau und die zwei Kinder aus Aden zu sich nach Schweden holen.
Mit dem Sana’a Center nahm er vor zwei Jahren am Yemen International Forum teil. Auf der Konferenz in Stockholm tauschten sich erstmals Jemenit:innen aus Politik und dem zivilen Sektor tiefergehend über Perspektiven für eine friedliche Zukunft aus. Am letzten Tag wurde ihm abgeraten, nach Aden zurückzukehren.
Zudem wurde er 2019 von einem UN-Beamten gewarnt, sich in Huthi-Gebiete zu begeben. „Die Huthi beschuldigen beinahe jeden als westlichen Spion“, sagt Aljeddawy. Einige seiner Kolleg:innen aus anderen Organisationen wurden in der Vergangenheit entführt und gefoltert. In diesem Sommer überfielen Huthi-Gruppen das UN-Büro in Sana’a und nahmen Dutzende von Mitarbeitern verschiedener Hilfsorganisationen fest.
Trotzdem wird an dem lokalen Schwerpunkt festgehalten. Es ist Teil der Philosophie des Sana'a Center, dass integrative Friedensarbeit an der Basis beginnt: bei den lokalen Problemen - bei den Konflikten, die gelöst werden können. Feryal Al-Naseem fasst es so zusammen: „Jedes Projekt, das vor Ort umgesetzt werden kann, gibt mir Hoffnung.“