Armin Laschet war 2015 Vorsitzender einer Expertenkommission der Robert Bosch Stiftung zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik. Was die Kommission erarbeitet hat, ist für ihn heute noch zentral.
Der Sommer und der Herbst 2015 waren eine dramatische Zeit. Besonders gut erinnere ich mich an den 4. September. An diesem Tag trat ich gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Wahlkampfveranstaltung in Essen auf. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung. Einige Geflüchtete hielten Schilder hoch, auf denen „Danke Deutschland“ stand. Gleichzeitig grölten Rechtsextreme immer wieder in Merkels Rede hinein.
Anschließend ging es mit Merkel im Hubschrauber weiter nach Köln, zu einer Feier zum 70. Geburtstag der CDU in Nordrhein-Westfalen. Uns erreichten die ersten Bilder des Flüchtlingstrecks, der sich von Budapest aus über die Autobahn auf den Weg nach Österreich gemacht hatte. Unmittelbar nach der Veranstaltung telefonierte die Bundeskanzlerin mit ihrem österreichischen Amtskollegen Werner Faymann. Und traf dann die Entscheidung, die Grenze nicht zu schließen und den in Ungarn festsitzenden Geflüchteten die Weiterreise nach Deutschland zu ermöglichen. Sie fürchtete andernfalls eine humanitäre Katastrophe. Wir haben in diesen ereignisreichen Stunden viel miteinander gesprochen. Auch heute noch halte ich ihren Schritt für richtig.
„Wir waren nicht naiv. Wir wussten, dass dies nur der Sprint war. Und dass sich daran die Marathonaufgabe der Integration anschließen würde.“
Ebenso angemessen fand und finde ich den Satz, den sie wenige Tage vor dem 4. September gesagt hatte: „Wir schaffen das!“ Was hätte sie anderes sagen sollen? Wenn du als Politiker daran zweifelst, eine zentrale Aufgabe zu bewältigen, musst du abtreten. Und wir haben es ja auch geschafft. Uns ist es gelungen, Hunderttausende Geflüchtete, die im Verlauf des gesamten Jahres 2015 zu uns gekommen sind, aufzunehmen und zu versorgen. Wir waren nicht naiv. Wir wussten, dass dies nur der Sprint war. Und dass sich daran die Marathonaufgabe der Integration anschließen würde.
Ich war damals Vorsitzender einer von der Robert Bosch Stiftung eingesetzten Expertenkommission zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik. In ihr kamen Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Behörden, Wirtschaft und Gesellschaft zusammen. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Flüchtlingskrise legten wir 99 Empfehlungen vor. Es ging unter anderem darum, wie die Kommunen bei dieser gewaltigen Aufgabe unterstützt werden können, nicht zuletzt finanziell. Die dezentrale Struktur der Bundesrepublik, unsere bewährte kommunale Selbstverwaltung, war entscheidend bei der Bewältigung der Krise. Die Beschäftigten in den Ämtern, die Bürgermeister und Oberbürgermeister, aber auch die Ehrenamtlichen vor Ort haben Außergewöhnliches geleistet.
Diese Schilderungen von Armin Laschet sind Teil einer Serie aus unseren Förderthema Einwanderungsgesellschaft. 2015 sagte Angela Merkel den berühmten Satz „Wir schaffen das!“, sie meinte damit die Aufnahme Hunderttausender Geflüchteter, die innerhalb weniger Monate nach Deutschland kamen. Wir haben Expert:innen und Partner:innen aus unseren Projekten gefragt: Was haben wir in Deutschland in Sachen Integration geschafft in den vergangenen 10 Jahren?
Zugleich erarbeitete die Kommission Vorschläge für einen schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt. Denn die Teilhabe am Berufsleben ist entscheidend für die gesellschaftliche Integration: Wie vermeiden wir Fehlanreize, wie bilden wir weiter – und wie sorgen wir dafür, dass diejenigen mit den passenden Fähigkeiten auch die passenden Stellen finden?
Das ist auch heute noch eine zentrale Frage. Doch über die konkreten Herausforderungen sprechen wir leider viel zu wenig. Die Polarisierung, die ich schon an jenem 4. September 2015 spürte, hat sich immer weiter verschärft. In der Folge wird das Thema Flucht fast ausschließlich unter dem Aspekt der Abwehr diskutiert. Natürlich müssen wir Zuwanderung steuern – schon damit unser Land nicht überfordert wird und wir uns gut um diejenigen kümmern können, die Hilfe nötig haben. Aber die Parteien der Mitte dürfen die Argumente des rechten Rands nicht übernehmen. Strategisch schwächt sie das nur.
Viele Wahlkämpfe haben gezeigt: Wer die Agenda der Populisten übernimmt, macht sie damit größer. Stattdessen gilt es, die eigene Haltung klar zu vertreten. Wir müssen ein weltoffenes Land bleiben. Wir sollten Zuwanderung nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance begreifen. Die eigentliche Aufgabe der nächsten zehn Jahre wird sein, Integration und Teilhabe so zu gestalten, dass alle profitieren.