Bundestagsabgeordnete erscheinen vielen Bürger:innen als abgehobene Gruppe. Dass sie aber nahbar sind und empfänglich für die Ideen der Menschen in ihrem Wahlkreis, zeigt das Projekt „Hallo Bundestag“. Es bringt Bürger:innen und Politiker:innen bei Wahlkreistagen zusammen.
Politiker:innen sind für viele Bürger:innen die großen Unbekannten. In ihrer Wahrnehmung leben Bundestagsabgeordnete in der Politik-Bubble Berlin, die sie ab und zu wie ein großes Raumschiff verlassen, um ihre Sprechstunden im Wahlkreisbüro abzuhalten. Und selbst, dass es diese Sprechstunden gibt, wissen viele nicht.
Für etwa 180 zufällig aus kommunalen Melderegistern ausgeloste Menschen hat sich der Eindruck „Die da oben, wir hier unten“ grundlegend geändert. Sie haben in ihren Wahlkreisen Abgeordnete verschiedener Parteien getroffen und mit ihnen einen Tag lang über ihre Visionen für ein besseres Verhältnis zwischen Bevölkerung und Politik diskutiert. Wahlkreisübergreifend stand dabei als Thema im Mittelpunkt: Wie können wir, die Wählerinnen und Wähler, besser gehört werden und selbst zu Wort kommen?
Möglich wurde dieses Zusammentreffen durch das Projekt „Hallo Bundestag“ des zivilgesellschaftlichen Think-and-do-Tanks „Es geht LOS“. In sechs Wahlkreisen initiierte das Projektteam nach dem Vorbild lokaler und nationaler Bürgerräte mehrere Wahlkreistage und lotete dort die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung aus: in Schleswig-Flensburg, Hagen-Ennepe-Ruhr-Kreis I, Erfurt-Weimar-Weimarer-Land II, Roth in Franken und in den beiden Berliner Wahlkreisen Steglitz-Zehlendorf und Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost.
Für Bundestagsabgeordnete wie den Berliner CDU-Politiker Thomas Heilmann – Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf – sind Veranstaltungsformate wie die Wahlkreistage ein Aha-Erlebnis: „Würde man einen Aufruf für die Teilnahme starten, würden sich vor allem solche Bürgerinnen und Bürger melden, die ohnehin schon engagiert sind. Durch die zufällige Auswahl per Los aber habe ich es mit Vertreter:innen einer schweigenden Bevölkerungsmehrheit zu tun, von der ich sonst wenig höre und wenig weiß und von denen einige vermutlich Nichtwähler:innen sind.“ Bundestagsabgeordnete seien auf die Rückmeldungen ihrer Wähler:innen angewiesen; schließlich sollen sie ja auch im Bundestag über Gesetze abstimmen, die die Bevölkerung direkt beträfen.
„‚Hallo Bundestag‘ hat offenbar einen Nerv getroffen.“
Timo Schisanowski, SPD-Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Hagen-Ennepe-Ruhr-Kreis I, ergänzt: „Wir Politikerinnen und Politiker sind keine anonyme Masse. Und natürlich sind wir sehr daran interessiert, die Demokratie zu stärken.“ Er ist fest davon überzeugt, dass das mit einem Format wie den Wahlkreistagen gelingen kann: „Die Teilnehmer:innen haben ihre Freizeit geopfert, um mitmachen zu können. Das tut man nicht, wenn einem Demokratie und Gesellschaft nichts bedeuten. ‚Hallo Bundestag‘ hat also offenbar einen Nerv getroffen.“
Anders als bei den lokalen oder bundesweiten Bürgerräten, die es bereits gibt, kommt bei „Hallo Bundestag“ das sogenannte aufsuchende Losverfahren zum Einsatz – im wortwörtlichen Sinne. „Reagieren ausgeloste Bürger:innen nicht auf den Einladungsbrief und auch nicht auf einen zweiten Erinnerungsbrief, haken wir Projektmitarbeitenden persönlich nach und besuchen die Ausgelosten zu Hause“, erläutert Projektleiter Linus Strothmann das Verfahren. Die persönlichen Begegnungen, sagt er, seien meistens sehr interessant und angenehm. „Selbst die Menschen, die wir am Ende nicht überzeugen konnten, teilzunehmen, zeigten sich dennoch interessiert am Format und dem Thema“, berichtet Strothmann. Gründe für die Nichtteilnahme seien meist mangelnde Zeitressourcen aufgrund von Job und Familie gewesen.
Im Frühjahr 2023 fanden, wie geplant, die ersten Wahlkreistage statt, im Herbst folgen die nächsten, im Frühjahr 2024 geht es dann in die dritte und letzte Runde. Für jede Runde wurden und werden auch neue Menschen ausgelost. Das Projekt wird unter anderem von der Robert Bosch Stiftung und der ZEIT-Stiftung gefördert. „Hallo Bundestag“ wird wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Das Ziel ist, dem Bundestag das Format „Wahlkreistage“ als regelmäßige, institutionalisierte Veranstaltungsreihe zu empfehlen.
Juliane Baruck leitet das Projekt gemeinsam mit Linus Strothmann und ist ebenfalls Teil des „Es geht LOS“-Teams. Schon jetzt ist sie davon überzeugt, dass Wahlkreistage eine nachhaltige Wirkung entfalten können: Fast alle Teilnehmenden hatten sich anschließend dafür gemeldet, in ihrer Heimatregion einen Wahlkreisrat zu bilden. Sie wollen sich weiterhin in lockerer Folge treffen, um sich über politische Anliegen auszutauschen. Darunter sind ebenso etliche Jugendliche ab zwölf Jahren, denn auch sie kamen und kommen in den großen Lostopf. Juliane Baruck findet das nicht nur richtig, sondern außerdem sehr wichtig: „Jugendliche sind in Beteiligungsformaten generell unterrepräsentiert, weil sie noch nicht wählen dürfen. Dabei sind sie am längsten von den Entscheidungen der Politik betroffen.“
„Was mich an der Veranstaltung am meisten begeistert hat, war der große Respekt, den alle einander in der Diskussion gezollt haben.“
Einige Mitglieder des Projektteams übernehmen bei den Wahlkreistagen als Wahlkreispat:innen jeweils die Rolle der Moderierenden, die dem Treffen Struktur geben und jeden und jede dazu ermuntern, einen Gesprächsbeitrag zu leisten. Die Teilnehmenden schätzen das sehr: Sie fühlten sich auf diese Weise von den anderen als gleichberechtigte Gesprächspartner:innen wahrgenommen, sagen viele von ihnen.
Viele Beteiligte der Wahlkreisräte kamen Mitte Juli auf Einladung des Projektteams nach Berlin, um sich kennenzulernen und zu vernetzen, Oberstufenschüler:innen genauso wie hochbetagte Rentner:innen. Es ging außerdem darum, einander die Ergebnisse aller Gruppen zu präsentieren, die sich am ersten Wahlkreistag deutschlandweit getroffen hatten. Die Teilnehmenden hatten sie auf Postern aufbereitet. Claims wie „Politik & Schule verbinden“, „Frühe Demokratiebildung“ oder „Wählen ab 16“ stachen dabei ins Auge. Aber ebenso: „Ethische Fragen mehr in den Fokus“ – dem Ethikrat soll mehr Präsenz in der Öffentlichkeit eingeräumt werden.
Auch Petra Rothmeier aus Lauf in der Nähe von Nürnberg reiste nach Berlin. Die ehemalige Bäckereibesitzerin und vierfache Mutter ist 62 Jahre alt, resolut und bodenständig, neugierig und an den Meinungen anderer interessiert. „Ich bin immer schon ein politisch sehr interessierter Mensch gewesen. Aber mit meinen Freundinnen kann ich nicht gut über die Folgen der Inflation, die Energiekrise oder Migrationspolitik diskutieren. Das wird schnell persönlich“, sagt die Fränkin, die am Wahlkreistag in Roth teilnahm.
Für eine bestimmte Partei mag sie sich nicht engagieren, denn sie fühle sich keiner politischen Richtung besonders zugehörig, betont sie. Stattdessen möchte sie sich mit möglichst vielen verschiedenen Menschen auf Augenhöhe austauschen und gemeinsam mit Politiker:innen überlegen, welche Weichen für Veränderungen gestellt werden können. „Was mich an der Veranstaltung am meisten begeistert hat, war der große Respekt, den alle einander in der Diskussion gezollt haben“, schwärmt sie.
Martin Lehman aus Erfurt wiederum gehört zu denen, die zunächst zögerten, für den Wahlkreistag zuzusagen – bis jemand vom Projektteam bei ihm klingelte. „Ich habe die Einladungsbriefe immer zur Seite gelegt. Erst als ich Besuch vom Projektteam bekam, wurde mir im Gespräch richtig klar: Es braucht Menschen, die sich engagieren, damit Demokratie wirklich gelebt wird“, sagt er. Der Einsatz von „Es geht LOS“ habe ihn sehr beeindruckt, ebenso, dass die Politiker:innen sich wirklich Zeit genommen hätten. In seinem Wahlkreis waren das Carsten Schneider (SPD), Antje Tillmann (CDU), Susanne Hennig-Wellsow (Linke) und Katrin Göring-Eckardt (Grüne).
„Ich habe Menschen getroffen, mit denen ich im Alltag sonst keine Berührungspunkte habe, und habe von deren Anliegen und Sorgen erfahren.“
Für den 32-jährigen Netzwerktechniker war es keine Frage, dass er nach dem Wahlkreistag weiter im Wahlkreisrat dabeibleibt. Er wolle auch deshalb weitermachen, begründet er, weil auf Social-Media-Kanälen, anders als im persönlichen Gespräch, kein konstruktiver Austausch möglich sei – schon gar nicht über polarisierende politische Themen wie Klimaschutz, Migration oder Ukrainekrieg. „Bei Facebook oder Instagram wird unglaublich viel und schnell gehatet, ohne jeden Respekt voreinander“, kritisiert Lehmann. „Man muss dort die anderen nicht ausreden lassen, kann sie ungestraft beschimpfen und sich anschließend wegducken, ohne Konsequenzen.“
Auch Sofie Lüdtke, 22 und aus Schleswig, ist überzeugt vom Konzept der Wahlkreistage. „Zuerst dachte ich: Mal schauen, wie viel wirklich dahintersteckt. Aber schnell war klar: Wir hören einander zu. Und auch der anwesende Politiker, Stefan Seidler vom Südschleswigschen Wählerverband, hat sich interessiert, humorvoll und engagiert gezeigt.“ Schleswig-Flensburg ist auch der Wahlkreis von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Habeck war wegen anderer Termine verhindert, will aber beim nächsten Wahlkreistag im Herbst dabei sein. Abgesehen von den Gesprächen mit den Politiker:innen hat Lüdtke jedoch vor allem eins gefallen: „Ich habe Menschen getroffen, mit denen ich im Alltag sonst keine Berührungspunkte habe, und habe von deren Anliegen und Sorgen erfahren.“
Austausch schafft Vertrauen! Das war auch beim ersten Zusammentreffen von „Hallo Bundestag“ im Juli in Berlin spürbar.
Laut dem ARD-Deutschlandtrend liegen den Bundesbürger:innen derzeit besonders ihr wachsendes Gefühl der Beunruhigung und des mangelnden Vertrauens in das Handeln von Politiker:innen auf der Seele. Das beschäftigt sie noch stärker als Inflation, Klimakrise und Migrationspolitik.
Entsprechend wählten die Wahlkreisrätinnen und -räte beim Treffen in Berlin auch die Themen für die kommenden Wahlkreistage: „Der Staat und das Individuum“ und „Gesellschaftliche Unsicherheiten“.
Projektleiter Linus Strothmann rechnet erneut mit viel Engagement und guten Diskussionsergebnissen. „Es lässt sich viel gegen Politikverdrossenheit und zugleich gegen den Einfluss des Rechtspopulismus tun“, sagt er, „wenn Bürger:innen die Chance bekommen, auf Augenhöhe mit Bundestagsabgeordneten über Themen zu diskutieren, die sie bewegen. Vor allem, wenn sie sich dabei als beratende Instanz wahrgenommen fühlen.“