Interview
Wohin steuert die Demokratie?

Demokratien stehen vor großen Herausforderungen – weltweit. Auf dem ersten globalen „Summit for Democracy“ wurden Wege aus der Abwärtsspirale diskutiert. Im Rückblick auf den Gipfel spricht Expertin Annika Silva-Leander über Herausforderungen, Potenziale und Grenzen.

Sabine Fischer | Februar 2022
Headerbild Summit for Democracy
IMAGO Media Punch

US-Präsident Jo Biden spricht auf dem ersten „Summit for Democracy“, während US-Außenminister Antony Blinken zuhört. 110 Länder nahmen digital an der Veranstaltung teil.

Der letzte Bericht von International IDEA „The Global State of Democracy Report 2021“ zeigt, dass Demokratien weltweit vor großen Herausforderungen stehen. Welche sind das? 

Einerseits beobachten wir, dass die Anzahl der Demokratien abnimmt: 2015 waren es 104, 2020 nur noch 98. Außerdem sinkt die Qualität der verbleibenden Demokratien. Die Anzahl der Länder, in denen das besonders stark passiert – wir nennen das „demokratisch rückläufig“ – hat sich im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Darunter sind auch Länder mit einer langen demokratischen Tradition wie die USA oder Indien. Zudem bewegen sich immer mehr Länder in eine autoritäre Richtung. In den letzten 40 Jahren war die Zahl der Länder, die sich in Richtung Demokratie bewegen, beständig höher als die Zahl derjenigen, die sich eher in Richtung Autoritarismus entwickeln. In den letzten fünf Jahren hat sich das gedreht – das ist der stärkste Negativtrend, den wir diesem Bereich seit Langem beobachten. 

Die Hälfte aller nicht-demokratischen Staaten hat sich auf ihrem Weg zur Demokratie zurückentwickelt.

Wie sehen die Trends bei den nicht-demokratischen Regimen aus? 

Fast die Hälfte aller nicht-demokratischen Regime hat sich ebenfalls zurückentwickelt. Dies zeigt sich insbesondere in sogenannten hybriden Staaten. Das sind Staaten, die zwar nicht demokratisch sind, aber nach außen hin – zum Beispiel durch Wahlen ohne politischen Wettbewerb und ohne Entscheidungsfreiheit – eine solche Fassade haben. Wegen der Pandemie war es für solche Staaten viel einfacher, demokratische Grundrechte wie die Bewegungs- oder Redefreiheit unverhältnismäßig einzuschränken. Ein Beispiel dafür ist Russland. Vor der Pandemie haben wir in manchen nicht-demokratischen Ländern einen Trend hin zur Demokratie beobachtet. Aber die Pandemie hat diesen in vielen Fällen verlangsamt oder komplett gestoppt. In Myanmar zum Beispiel gab es 2021 einen Militärputsch.

Wie schätzen Sie die Rolle des „Summit for Democracy“, seine Potenziale und Grenzen vor diesem Hintergrund ein? 

Wir befürworten diese nie dagewesene Initiative aus zwei Gründen: Zum einen ist der Zeitpunkt sehr passend, denn die globalen Negativtrends sind so tiefgreifend wie nie: Es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen, dass man sich um die Demokratie kümmern muss. Zum anderen ist die demokratische Welt sehr fragmentiert. Wir müssen besser zusammenarbeiten. Wir hoffen, dass der Gipfel regelmäßig stattfinden wird, sodass die Länder, die sich jetzt verpflichtet haben, das auch langfristig tun werden. Es ist wichtig, dass hieraus nicht nur ein hochrangiger Gipfel mit hehren Zielen wird, der aber zu wenig konkreten Ergebnissen führt. IDEA hat die mündlichen Statements, die 98 der 110 teilnehmenden Länder nach dem Gipfel abgegeben haben, analysiert: Leider beinhalten mehr als die Hälfte davon nur sehr allgemeine oder gar keine Verbindlichkeiten. 

Annika Silva-Leander
Foto: privat

Zur Person

Annika Silva-Leander leitet den Bereich „Outreach and Analysis“ von International IDEA in Nordamerika. Durch ihre Forschung und Diskussionsbeiträge trägt sie zur internationalen Demokratie-Debatte bei. Die Robert Bosch Stiftung ermöglichte zusammen mit International IDEA die Organisation eines zivilgesellschaftlichen Forums im Vorfeld des Summits sowie die Entwicklung einer Monitoring-Plattform, um die nationalstaatlichen Absichtserklärungen nachzuverfolgen.

Ein Ziel des Gipfels bestand darin, dass sich Länder zu konkreten Schritten und Maßnahmen verpflichten, um die Demokratie zu stärken. Eröffnen die Statements, die bisher abgegeben wurden, eine Perspektive, um einen Wandel herbeizuführen? 

Leider haben bisher nur wenige Länder schriftliche Statements abgegeben. Bis zum 22. Januar haben sich nur fünf Länder auf diesem Weg geäußert, die Deadline dafür war bereits am 7. Januar. Außerdem lassen die mündlichen Statements viele Wünsche offen. Um die Demokratie in ihren Ländern zu stärken, geben die meisten Regierungen der Korruption, der Stärkung von benachteiligten Gruppen und dem Kampf gegen Diskriminierung höchste Priorität. Das ist ermutigend, denn diese Punkte sind in vielen Ländern zentral. Am wenigsten schauen die Regierungen hingegen auf ihre Parlamente, den Zugang zum Rechtssystem und die Zivilgesellschaft, die in den letzten Jahren vielerorts geschwächt und eingeschränkt wurde. Es ist wichtig, dass über die Verpflichtung zur Korruptionsbekämpfung andere wichtige Punkte nicht vernachlässigt werden.  

Welche Rolle spielen zivilgesellschaftliche Akteur:innen Ihrer Ansicht nach vor, während und nach dem Gipfel? 

Der Gipfel fokussierte sich auf drei Hauptthemen: Menschenrechte, Korruption und der Kampf gegen den Autoritarismus. Es gibt aber viele andere Aspekte, die nicht direkt in eines dieser Themengebiete fallen, zum Beispiel die politische Teilhabe von Frauen. Meiner Ansicht nach hatten zivilgesellschaftliche Akteur:innen im Vorfeld einen großen Anteil daran, dass diese Themen zusätzlich in die Agenda des Gipfels eingespeist werden konnten. Punktuell konnten zivilgesellschaftliche Akteur:innen an den Diskussionsrunden teilnehmen. Für die Zukunft könnten sie aber noch umfassender eingebunden werden: Sie sollten beim zweiten Gipfel die Agenda mitgestalten. Außerdem sollten mehr Akteur:innen aus dem globalen Süden beteiligt werden. 

Es sollten mehr Vertreter:innen aus dem globalen Süden mit am Tisch sitzen.

US-Präsident Biden hat angekündigt, dass er Ende 2022 einen zweiten Gipfel ausrichten werde. Welche Erwartungen haben Sie an eine Fortsetzung? 

Es wäre wichtig, sich die Entwicklung der drei Hauptthemen des ersten Gipfels sowie der Vereinbarungen genau anzusehen, die beim ersten Gipfel getroffen wurden. Wir hoffen außerdem, dass noch weitere Aspekte wie die Frage nach freien Wahlen auf der Agenda stehen werden. Beim ersten Gipfel fehlte außerdem ein Blick auf das multilaterale System und auf die Frage, welche Rolle es im Kampf gegen negative Demokratietrends haben kann. Die UN ist ein globales System, in dem auch nicht-demokratische Länder vertreten sind. Diese Rahmenbedingungen erschweren es der UN, sich für Demokratie einzusetzen – wir brauchen aber vielfach transnationale Antworten auf Herausforderungen, zum Beispiel beim Einsatz von Überwachungstechnologien.