Reportage
Wissenschaft für das alltägliche Leben
Videospiele, die wissenschaftliche Forschung vorantreiben, Ausstellungen, die dabei helfen, die Realität zu verstehen: Jedes Jahr zeichnet „Falling Walls Engage“ Projekte aus, die neue Wege der Wissenschaftskommunikation gehen – und damit die Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft überwinden. Wir stellen drei der Siegerprojekte vor.
Wissenschaftskommunikation als Gemeinschaftsaufgabe: Mit Musik und Kunst will die Initiative "Difu Simo" das Stigma psychischer Erkrankungen in der Region Kilifi, Kenia, bekämpfen. Unterstützt wird sie dabei von den Dorfbewohner:innen vor Ort.
Sein halbes Leben hat Changawa, ein Mann aus der Region Kilifi in Kenia, in Ketten verbracht. Der Grund: Sein Verhalten erschien seinen Mitmenschen seltsam. Mal verschwand er nachts in den Wäldern, mal wurde er ohne Grund aggressiv oder litt unter Halluzinationen. Seine Familie war überzeugt, ihr Bruder und Onkel sei verflucht. In Wahrheit zeigte er Anzeichen von Schizophrenie.
Nur wenige Menschen in der Sub-Sahara begeben sich wegen psychischer Erkrankungen in medizinische Behandlung. Ein Grund dafür sind damit einhergehende Stigmatisierungen. „Die Menschen glauben, dass psychische Krankheiten durch Hexerei ausgelöst werden“, sagt Judy Baariu. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Initiative „Difu Simo“, die – inspiriert von Changawas Geschichte – ein Bewusstsein für psychische Erkrankungen schaffen möchte.
Über die Person
Judy Baariu ist ausgebildete Krankenschwester und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsprogramm des KERMII-Wellcome-Trust in der Region Kilifi in Kenia. Sie setzt sich für psychische Gesundheit und die Bekämpfung psychischer Erkrankungen in benachteiligten Regionen ein.
Mithilfe von Filmen, Kunst und Musik kämpft „Difu Simo“ gegen Stigmen und sensibilisiert die Bevölkerung in Kilifi. Dabei versuchen Baariu und ihr Team bewusst, die Allgemeinheit an Bord zu holen: „Am Anfang war es schwer, die Menschen vor Ort davon zu überzeugen, dass man solche Krankheiten behandeln kann und wir wissenschaftliche Belege dafür haben. Aber als wir ehemals psychisch kranke Menschen aus der Region gebeten haben, über ihre Erfahrungen zu sprechen, haben wir viel Unterstützung erhalten“, sagt Judy Baariu.
Neue Wege für die Wissenschaftskommunikation
„Difu Simo“ ist eines von zahlreichen Projekten, die verdeutlichen, wie entscheidend innovative Formen der Wissenschaftskommunikation Situationen verbessern können. Es gehört zu den 20 Gewinnerprojekten des diesjährigen „Falling Walls Engage“. Das Forum, das im Rahmen des jährlichen Falling Walls Science Summit stattfindet, zeichnet Projekte aus, die in ihren Vermittlungsansätzen neue Wege gehen: Wie können wir die Mauern zwischen Wissenschaft und Gesellschaft einreißen? Welche Netzwerke können wir entwickeln, um Menschen an Wissenschaft teilhaben zu lassen? Und wie können wir sicherstellen, dass den Menschen deutlich klar wird, dass Wissenschaft für ihr alltägliches Leben relevant ist?
Die Online-Ausstellungsreihe CONTAGION nähert sich künstlerisch den Wegen der Ansteckung und ihrer wissenschaftlichen Basis. Der indische Künstler Ranjit Kandalgaonkar zum Beispiel zeichnete die Ausbreitung der Pest in Bombai 1896.
Antworten auf diese Fragen findet auch ein weiteres Gewinnerprojekt: Gerade, als sich zu Beginn des letzten Jahres die Coronapandemie ausbreitete, brachten Jahnavi Phalkey und ihr Team von der Science Gallery Bengaluru (Indien) ihre erste Online-Ausstellungssaison auf den Weg. Der Titel: CONTAGION, Ansteckung. 16 interaktive Installationen und über 40 Programmpunkte, wie Workshops und Diskussionsrunden, erkundeten, wie Krankheiten, Verhaltensweisen und Emotionen übertragen werden. „Als wir uns für das Thema entschieden haben, war die Pandemie fürchterlich“, erinnert sich Jahnavi Phalkey. „Daher wollten wir zwei Dinge sicherstellen: Wir wollten angesichts der andauernden Nachrichtenlagen einen Rückzugsort schaffen. Und wir wollten Werkzeuge bereitstellen, die dabei helfen, zu verstehen, was um uns herum gerade passiert.“
Über die Person
Seit 2018 leitet Jahnavi Phalkey die Science Gallery Bengaluru (Indien). Zuvor war sie am King's College in London tätig. Ihre wissenschaftliche Karriere begann an der Universität Heidelberg, danach folgten Stationen am Georgia Tech-Lorraine in Frankreich und dem Imperial College London. Sie war zudem externe Kuratorin des Science Museum London.
Dafür ordnete die Ausstellung die Geschehnisse in ihren Kontext ein: Um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst von der aktuellen Unsicherheit zu distanzieren, zog sie die Vergangenheit zu Rate. Sie zeigte auf, dass ähnliche Krisen von der Menschheit schon einmal überwunden wurden. Zudem fächerte CONTAGION die Übertragungswege verschiedener Dinge auf – von Viren über „ansteckendes“ Lachen bis hin zu Computerviren. „Wir wollten, dass die Besuchenden diese wissenschaftlichen Informationen als Denkanreize nutzen, um die Situation besser zu verstehen“, erklärt Jahnavi Phalkey.
Hierbei kommt auch CONTAGIONs innovative Form der Wissenschaftskommunikation zum Tragen: Das Publikum ist selbst dafür verantwortlich, wissenschaftliche Erkenntnisse für sich zu interpretieren. „Normalerweise denken wir als Wissenschaftler:innen, dass wir am besten einschätzen können, welche Erkenntnisse wir aus unserer Forschung teilen, weil sie für die Menschen wichtig sind“, sagt Jahnavi Phalkey. „CONTAGION hingegen gibt dem Publikum die Möglichkeit durch eigene Interpretationen selbst zu entdecken, was ihnen wirklich hilft.“
Die Wand zwischen Wissenschaft und Videospielen durchbrechen
Mit dem alltäglichen Leben der Menschen in Berührung zu kommen, ist auch für ein weiteres Gewinnerprojekt zentral: „Massively Multiplayer Online Science“ (MMOS) zeigt eindrucksvoll, welch enormen Einfluss Bürger:innen auf die Wissenschaft haben können – indem sie Videospiele spielen. „Ich war schon immer fasziniert von Citizen Science. Aber der Ansatz hat auch Stolperfallen“, sagt Attila Szantner, CEO von MMOS. Der Grund: Die Aufgaben, die Teilnehmende im Rahmen von Citizen-Science-Projekten erfüllen müssen, sind oftmals repetitiv und langweilen schnell. Um dieses Problem zu lösen, entwickelten Szantner und sein Team einen bahnbrechenden Ansatz: „Videospiele sind Meister darin, Menschen an sich zu binden. Also haben wir wissenschaftliche Aufgaben direkt in die Spiellogik von bekannten Mainstream-Spielen integriert“, erklärt er. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist eine nahtlose Spielerfahrung: Die Forschungsaufgaben werden Teil des Narrativs, der Optik und des Belohnungssystems der Spiele.
Über die Person
Als CEO und Mitbegründer von „Massively Multiplayer Online Science“ (MMOS) hat Attila Szantner mehrere preisgekrönte Kollaborationen zwischen großen Forschungseinrichtungen und Spiele-Entwicklern ins Leben gerufen. Dank der beiden Projekte „Discovery" und „Borderland Science" von EVE Online trägt er dazu bei, dass mehrere Millionen Spieler:innen sich an Citizen Science beteiligen.
Über drei Millionen Menschen beteiligen sich an den beiden größten Projekten von MMOS – oft, ohne es bewusst wahrzunehmen. In „Borderlands Science“, integriert in „Boderlands 3“, versteckt sich zum Beispiel die Wissenschaft in einem alten Spielautomaten. Er führt Spieler:innen zu einem Minispiel mit einer Matrix, die an Tetris erinnert. Hier sollen sie bestimmte Muster finden, um Belohnungen für ihre Spielfiguren zu erhalten. In Wahrheit tragen sie damit zu „The American Gut Project“ bei. Dieses Projekt entschlüsselt das menschliche Mikrobiom – jedes Mal, wenn ein:e Spieler:in in „Borderland Science“ ein Muster findet, werden in Wahrheit DNA-Sequenzen analysiert.
In Zusammenarbeit mit Konzernen hat MMOS Citizen Science inzwischen in einige große Mainstream-Spiele eingebaut. Das Ergebnis: Mehrere Millionen Gamer tragen zur wissenschaftlichen Forschung bei. „Wenn wir nur einen kleinen Teil der Milliarden Stunden, die wir weltweit jede Woche mit Videospielen verbringen, auf diese Weise nutzen können, ergeben sich quasi grenzenlose Möglichkeiten für die Forschung. Es ist eine einzigartige Möglichkeit, den Menschen Wissenschaft nahe zu bringen“, sagt Attila Szantner.