Interview
„Wir unterschätzen die Macht der Jugend“
Wie gestalten junge Menschen eine gerechtere Welt? Die bekannte pan-afrikanische Feministin und Bloggerin Aya Chebbi spricht im Interview über Ungleichheit und die besondere Rolle der Jugend, Veränderung anzustoßen.
Was muss sich verändern, damit wir in einer gerechteren Welt leben?
Wir müssen grundlegend verstehen, dass sich verschiedene Ausprägungen von Ungleichheit überschneiden. Viele Menschen werden auf mehreren Ebenen gleichzeitig benachteiligt: Sie leben zum Beispiel unter schlechten ökonomischen Bedingungen, haben Fluchterfahrungen und sind dazu noch weiblich. Momentan behandeln wir jede dieser Herausforderungen einzeln – ein Grund, warum wir im Kampf um mehr Gleichheit nicht richtig vorankommen. Auf den Straßen sehen wir einerseits Jugendbewegungen, die für Jugendrechte kämpfen und andererseits Frauenbewegungen, die für Geschlechtergerechtigkeit protestieren. Im Grunde verfolgen beide aber dasselbe Ziel: Sie wollen die Ungleichheit verringern. Wenn wir verstehen, dass diese Probleme zusammengehören, muss auch die Art und Weise, wie wir damit in Policies und Programmen umgehen, intersektional sein.
Momentan engagieren sich viele junge Menschen aktiv im Kampf gegen Ungleichheit. Wie schätzen Sie die Rolle Jugend für die Gestaltung einer gerechteren Welt ein?
Wir unterschätzen die Macht der Jugend, weil wir Macht oft mit einem Minister:innen- oder Präsident:innentitel assoziieren. Aber in ihren Communities - on- oder offline - und in ihrer Arbeit haben junge Menschen sehr viel Macht. Ein Grund dafür ist, dass diese Generation, die teils auch meine Generation ist, sehr gut vernetzt ist. Wir kennen dabei keine Ländergrenzen oder Sprachbarrieren. Wir können überall und auf jede mögliche Art miteinander kommunizieren. Wenn man sich die letzten zehn Jahre anschaut, gab es eine riesige Bewegung der Jugendbewegungen: von Afrika, wo wir mindestens zehn Aufstände hatten, bis hin zu Projekten in Europa, den USA oder Hongkong. Wie würde die Welt heute aussehen ohne diese Mobilisierung und ohne die Menschen, die für ihre Rechte kämpfen und die Politik verändern?
Junge Menschen sind von Ungleichheit oft überproportional betroffen. Warum wird die Jugend so oft vernachlässigt?
Das hängt immer vom Kontext ab. Ich versuche es am Beispiel von Afrika zu erklären: Die Menschen, die auf diesem Kontinent an der Macht sind, stehen keineswegs repräsentativ für die Bevölkerung. Afrika ist der jüngste Kontinent der Welt und trotzdem werden junge Menschen benachteiligt und nicht wertgeschätzt. Sie nehmen die Machtinhaber als korrupte alte Männer wahr. Und ich glaube, die Führungsebene fühlt sich durch die junge Bevölkerung bedroht, denn die Generation der Millenials kämpft um ihre Stimme. Ich bin ein Teil davon. Die Revolution in Tunesien fand während meines Abschlussjahres statt. Damals lebten wir in einer Zensur, es war einengend. Auf die Straße zu gehen und zu protestieren, hat mich gestärkt und daher habe ich mich dafür entschieden, im Zweifelsfall für meine Freiheit zu sterben.
Was war für Sie der entscheidende Punkt, um auf die Straße zu gehen?
Weil ich viel Ungleichheit aufgrund meines Geschlechts erfahren habe, war ich schon immer ziemlich rebellisch. Als die Revolution startete, war ich dennoch überrascht, wozu ich in der Lage war. In der erster Reihe zu stehen, den Kugelhagel zu überstehen, festgenommen zu werden: Ich habe mich nie für mutig genug für solche Dinge gehalten. Aber als ich zu protestieren begann, wurde ich Teil eines größeren Anliegens. Ich war eine von Tausenden, die auf der Straße für ihre Rechte kämpften. An diesem Punkt hat mein Aktivismus angefangen. Natürlich hatte ich anfangs Angst, doch zwei Dinge haben das verändert: Zum einen wurde ich zum ersten Mal verhaftet. Dabei wurde ich geschlagen und erniedrigt. Aus dieser Erfahrung bin ich entschlossener als zuvor herausgegangen – was sollte jetzt noch Schlimmeres kommen? Der zweite Auslöser war der Moment, in dem der damalige Präsident Zine el-Abidine Ben Ali zurücktrat. Ich hatte das Gefühl, dass es all das wert war. Ich glaube, in diesem Moment habe ich mich wirklich furchtlos gefühlt. Nichts schien mehr unmöglich. Ich hatte meine Freiheit gewonnen – und das gemeinsam mit vielen anderen Menschen.
Wie kann aus einem persönlichen Kampf ein gemeinsamer werden?
Man muss einen Raum dafür zur Verfügung stellen. Für uns war es die Straße – ein öffentlicher Raum, in dem jeder die Chance hat, gehört zu werden. Wenn wir heute zum Beispiel Jugendforen organisieren, buchen wir große Räume, in denen junge Menschen sich über ihre Themen unterhalten können. Denn manchmal, besonders in Ländern, in denen drei Menschen in einem Café schon verdächtigt werden, eine Revolution zu planen, fehlt genau dieser Raum. Er muss auch nicht unbedingt physisch sein: Das Digitale wurde für uns auch zu einem gemeinsamen Raum, weil wir anfingen, Gruppen zu bilden, uns zu organisieren und zu koordinieren. Hier kann man Gemeinschaften mit Menschen bilden, die man noch nie getroffen hat, mit denen man aber dieselben Werte teilt. Beide Räume sind mächtig.
Aya Chebbi
wurde als Stimme für Demokratie und politische Bloggerin bekannt, erstmals während der Revolution in Tunesien 2010/2011. Sie war die erste Sonderabgeordnete für Jugend in der Afrikanischen Union sowie die jüngste Diplomatin im Kabinett der Afrikanischen Union. Chebbi gewann unter anderem den "Gates Campaign Award"; die afrikanische Ausgabe des Magazins "Forbes" zählte sie zu den 50 mächtigsten Frauen in Afrika.
Was haben Sie über Machtstrukturen gelernt? Und was darüber, wie man sie verändern kann?
Nachdem ich mit NGOs und auf diplomatischer Ebene gearbeitet hatte, habe ich mich viel nützlicher für den Aktivismus gefühlt. Ich verstehe jetzt besser, wie Macht innerhalb des Systems funktioniert. Als Jugendbewegung sind wir gut darin, uns zu mobilisieren und Systeme zu erkennen – aber wir müssen auch innerhalb dieser Systeme gut sein. Die Art, wie ich Macht verstehe, hat sich dadurch verändert. Es reicht nicht, einfach nur eine Person auszutauschen. Um unsere Ziele zu erreichen, müssen wir die gesamte Institution verändern. Wir müssen also auf der Straße und am Verhandlungstisch sein. Sonst verpassen wir es, auch Teil der Gespräche zu sein. Manchmal schauen Entscheidungsträger:innen einfach aus dem Fenster auf die Protestierenden auf der Straße und fühlen gar nichts. Aber wenn man es ihnen innerhalb des Systems ungemütlich macht – und zwar nicht als Demonstrant:in, sondern als Person, die Konzepte vorlegt, Memos entwickelt und die Dynamik der Entscheidungsfindung verändert – dann erzeugt man richtigen Druck.
Wie können wir als Institution Jugendbewegungen, die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzen, unterstützen?
Indem man bestehende Initiativen unterstützt, die gut funktionieren. Wenn man sieht, dass etwas Wirkung erzeugt, sollte man dabei helfen, es auf die nächste Stufe zu heben. Denn bei vielen Jugendinitiativen sagen die Menschen zwar „Ich bin inspiriert, was für eine tolle Idee“, aber unterstützen sie nicht weiter. Der andere Aspekt liegt darin, diverse Stimmen zu stärken und ihnen wirklich eine Plattform zu bieten, um mit Entscheidungsträger:innen zu interagieren.