„Wir müssen die Silos aufbrechen“
Frauen sind weltweit von Diskriminierung betroffen, oftmals in mehrfacher Hinsicht. Das Women in Migration Network setzt sich speziell für die Rechte und Interessen von Frauen ein, die ihre Heimat verlassen und in ein neues Land aufbrechen. Sie befinden sich in einer besonders schutzbedürftigen Situation. Projektleiterin Paola Cyment will die verschiedenen Mehrfachdiskriminierungen von Migrantinnen mit einem intersektionalen Ansatz sichtbar machen, um ihnen Gehör zu verschaffen und zu mehr Gerechtigkeit zu verhelfen.
Das Women in Migration Network stellt die Menschenrechte von Frauen ins Zentrum der Migrations- und Entwicklungspolitik. Dafür will das Netzwerk speziell Mehrfachdiskriminierungen sichtbar machen, die auf Grundlage von Geschlecht, Ethnizität, Klasse, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Religion, Alter, Migrationsstatus, Behinderung und nationaler Herkunft erfolgen.
Paola Cyment ist seit vielen Jahren Feministin und setzt sich ebenso für Migrantinnen ein. Doch diese beiden Interessen fühlten sich für sie lange wie zwei verschiedene Welten an, sagt die Projektkoordinatorin des Women in Migration Networks. Das Netzwerk ist kooperierende Organisation im Förderprogramm „Reducing Inequalities Through Intersectional Justice“ der Robert Bosch Stiftung. „Viele Feministinnen arbeiten bisher nicht zum Thema Migration. Aber mit einer feministischen Perspektive können die Probleme von Migrantinnen viel besser angegangen werden“, erklärt sie.
Auch für Organisationen im Bereich Migration ist diese intersektionale Perspektive wichtig, denn die vielfältigen Herausforderungen, denen sich Migrantinnen stellen müssen, lassen sich nur gänzlich einordnen und angehen, wenn auch der Aspekt des Patriarchats und der ungleichen Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen betrachtet wird. Neben dem Geschlecht müssten jedoch noch weitere Faktoren wie die Herkunft bedacht werden, meint Cyment, denn „Migration ist nicht das gleiche für eine Frau aus der europäischen Mittelklasse mit einem Universitätsabschluss wie für eine Frau aus einer ländlichen Gegend in Guatemala“.
„Wir wollen, dass die Stimmen von Migrantinnen gehört werden.“
Das Women in Migration Network startete 2012 als Netzwerk verschiedener Organisationen, die sowohl feministische als auch klassen- und herkunftsspezifische Aspekte in den Fokus nehmen, um die Stimmen von Migrantinnen zu stärken. Denn die vielfältigen Benachteiligungen erschweren es Frauen, für die eigenen Rechte und bessere Lebensbedingungen einzutreten. Zudem werden politische Entscheidungen häufig in UN-Gremien verhandelt, wie Cyment betont, und auch da sei es schwierig für Migrantinnen teilzunehmen und wahrgenommen zu werden. „Wir wollen den Ansatz der Intersektionalität von Geschlecht und Migration stärker in die globalen Foren einbringen und dazu beitragen, dass die Stimmen von Migrantinnen gehört werden.“ Mit Erfolg: Das Netzwerk war schon in einigen UN-Gremien zu Migrationsthemen aktiv und hat politische Positionen mit beeinflusst.
Die Intersektion von Geschlecht und Migration systematisch angehen
In der Vergangenheit blieben die Bewegungen von Feministinnen ebenso wie Nicht-Regierungsorganisationen im Bereich Migration jeweils unter sich. Das soll sich nun mit der Teilnahme am Förderprogramm der Stiftung ändern: Hier werden Organisationen aus verschiedenen regionalen und thematischen Kontexten zusammengebracht. Sie alle legen ihren Fokus auf Intersektionalität – also der Anerkennung einer Mehrfachdiskriminierung, beispielsweise aufgrund von Geschlecht, Herkunft, sozialer Schicht oder Religion – und möchten die zugrundeliegenden Diskriminierungsmuster strukturell verändern.
Paola Cyment betont, dass das Thema Intersektionalität zwar nicht neu und vielen ihrer Mitstreiterinnen bekannt sei, „aber trotzdem war es bisher schwierig für uns, in feministische Diskussionsräume aufgenommen zu werden.“ Nach dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“ sucht das Women in Migration Network nun gezielt nach Kooperationen, um die Intersektion von Geschlecht und Migration systematisch anzugehen. „Denn wenn man über das Geschlecht nur abstrakt und nur am Rande spricht – wie eine Checkbox, die man abhaken muss – dann bildet es nicht die Lebensrealität der Frauen ab.“
„Feminismus ist wichtig, aber nicht ausreichend.“
Zudem gingen viele Perspektiven automatisch dadurch verloren, dass die feministische Debatte historisch gesehen vor allem durch die Stimmen von weißen Mittelklassefrauen aus reichen Ländern geprägt wurde. Cyment ist es daher wichtig, auch andere Formen der Unterdrückung wie Rassismus oder Kolonialismus wahrzunehmen. „Diese Intersektionen haben einen Einfluss auf die Realität der Frauen und die Wege, die diesen Migrantinnen offenstehen.“ So hätten viele Frauen aus Südamerika oder Asien beispielsweise keine Chance auf offizielle Arbeitsvisa in den USA oder Europa und landeten oft in Verhältnissen, in denen ihre prekäre Situation von einem Arbeitgeber ausgenutzt werde.
Frauen von den Philippinen und aus Bangladesch wanderten häufig in die Golfstaaten aus, wo sie ein sehr eingeschränktes Visum für eine Arbeit als Haushälterin bekämen. „Sie haben keine Rechte und sind völlig abhängig von ihren Arbeitgebenden, manche von ihnen werden sexuell missbraucht“ – und da ihr Aufenthaltsstatus von ihrem Arbeitsplatz abhängt, sind sie völlig hilflos. Daher warnt Cyment davor, sich nur auf die Wechselwirkungen von Geschlecht und Migration zu beschränken, denn „Feminismus allein ist nicht genug, er ist wichtig, aber nicht ausreichend“.
Weltweit stehen Frauen an vorderster Front, wenn es darum geht, die Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung zu bekämpfen. Das Lokiaka Women Community Development Centre in Nigeria arbeitet mit Unterstützung des Global Greengrants Fund mit einheimischen Frauen aus den Ogoni-Küstengemeinden, deren Lebensgrundlage durch eine Ölverschmutzung zerstört wurde. Zusammen setzen sie sich für die Kultivierung des Baum- und Mangrovenschutzes, die Wiederherstellung der Umwelt und ihrer Einkommensquellen ein.
Im Rahmen ihres Projektes wollen Cyment und ihre Mitstreiterinnen in einer Reihe von Dialogen mit Graswurzel-Gruppen aus der ganzen Welt sprechen, um noch mehr über die Wirkungen von intersektionaler Benachteiligung zu erfahren. „Wir müssen über unsere Themenbereiche hinweg zusammenarbeiten, um Resilienz aufzubauen.“ Zusammenzuarbeiten sei effektiver und werde schließlich schneller zu Veränderungen für alle führen. „Wir müssen die Silos aufbrechen.“
Die globale Erwärmung trifft Frauen oft härter als Männer
Paola Cyment beobachtet ein Silodenken sozialer Bewegungen auch in anderen gesellschaftlich relevanten Kontexten, wie beispielsweise der Technologie oder der Umwelt. „Auch der Klimawandel hat einen Einfluss auf Frauen und auf die Mobilität von Menschen.“ Deshalb will das Netzwerk auch mit anderen geförderten Projekten aus dem Förderprogramm zusammenarbeiten und so die intersektionale Arbeit vertiefen.
Hier bietet sich beispielsweise der Austausch an der Intersektion Frauen und Klimawandel an, denn der Global Greengrants Fund UK arbeitet daran zu zeigen, dass die globale Erwärmung Frauen oft härter trifft als Männer. Beispielsweise müssen Frauen in vielen Ländern weitere Wege zurücklegen, wenn Brunnen versiegen, und sie übernehmen häufig die mühsame Feldarbeit – alles Aufgaben, die mit der zunehmenden globalen Erwärmung anstrengender und auch weniger ergiebig werden.
Die Initiativen „Chayn“ und „End Cyber Abuse“ wollen ein Verständnis für das breite Spektrum technologiegestützter geschlechtsspezifischer Gewalt schaffen - von bildbasiertem sexuellem Missbrauch bis hin zu Cyberstalking. Diese Gewalt schadet unverhältnismäßig stark Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert werden. Dazu gehören Frauen ebenso wie ethnische Minderheiten, LGBTQ+ Gemeinschaften, Frauen aus marginalisierten Kasten und Religionen sowie junge Mädchen.
Auch die Schnittstelle zu neuen Technologien ist ein Bereich, der intersektionales Arbeiten erfordert, da Frauen die Möglichkeiten und Auswirkungen des technologischen Wandels oft anders erleben als Männer. Technologiebasierte geschlechtsspezifische Gewalt bekomme zu wenig Aufmerksamkeit, sagen beispielsweise die Gründerinnen der Organisationen Chayn und End Cyber Abuse, die ebenfalls von der Robert Bosch Stiftung gefördert werden. Gerade in Zusammenhang mit der Pandemie sei die digitale Gewalt gegen Frauen im Internet stark gewachsen. Ähnlich wie bei den Themen Migration oder Klimawandel seien auch hier Frauen oft stärker betroffen, würden aber weniger gehört und trügen damit weniger zum Meinungsbildungsprozess und damit zu Veränderungen in ihrem Sinne bei.
„Wenn wir hier alle zusammenarbeiten, wird uns das allen mehr Sichtbarkeit bringen“, sagt Cyment, „schließlich gibt es keine verschiedenen Realitäten – auch wenn es manchmal so wirkt – wir leben alle in der gleichen Realität.“