Stadt und Land: Wie kann Integration funktionieren?

Wie sieht die Integrationsarbeit in deutschen Kommunen aus? Die Studie „Zwei Welten? Integrationspolitik in Stadt und Land“ untersucht kommunale Integrationspolitik in beinahe 100 Gemeinden. Zwei davon stellen wir beispielhaft vor: Den extrem dünn besiedelten Landkreis Ludwigslust-Parchim und die mit Zuwanderung erfahrene Stadt Kaufbeuren. Trotz vieler Unterschiede haben beide gemeinsame Wünsche: mehr Freiheiten für individuelle Lösungen und Integration als Pflichtaufgabe der Kommunen.

Alexandra Wolters | Juni 2020
Story Zwei Welten
Fotos: Landkreis Ludwigslust-Parchim / Harald Langer

Kommunen wählen individuelle Wege

Es zeigen sich viele Unterschiede in der Integrationspolitik in deutschen Kommunen, aber es lässt sich kein Gegensatzpaar „Stadt“ und „Land“ bilden. So lautet ein Befund der von der Robert Bosch Stiftung geförderten Studie „Zwei Welten? Integrationspolitik in Stadt und Land“ der Universität Hildesheim. Insgesamt wurden dafür 92 Kommunen in zwölf deutschen Bundesländern analysiert, darunter 23 kreisfreie Städte, 24 Landkreise und 45 kreisangehörige Kommunen. Die Studie zeigt: Die Zuwanderung der Jahre 2015/16 hat dafür gesorgt, dass sich viele Kommunen breiter und strategischer auf Migration eingestellt haben – und dabei individuelle Wege wählen.

Die beiden hier vorgestellten Beispiele, der Landkreis Ludwigslust-Parchim und die kreisfreie Stadt Kaufbeuren, verdeutlichen, dass die Voraussetzungen und Gegebenheiten vor Ort ein wichtiger Grund für Unterschiede in der Integrationspolitik sein können. So setzt der dünn besiedelte und zugleich flächenmäßig sehr große Landkreis Ludwigslust-Parchim auf regionale Angebote und Beratungsbesuche. Die mit Zuwanderung erfahrene Stadt Kaufbeuren fördert möglichst viel Miteinander zwischen allen Einwohner:innen im Stadtgebiet.

Landstraße aus Kopfsteinpflaster

Landkreis Ludwigslust-Parchim

Bundesland: Mecklenburg-Vorpommern
Kommunaltyp: Landkreis
Einwohner: 212.618 (Stand 12/18)
Anteil ausländischer Staatsbürger: 5,5% (Stand 12/18)
Fläche: 4752 qkm
Bevölkerungsdichte: 45 Einwohner je qkm 
Fahrzeit mit dem Auto quer durch den Landkreis: gut zwei Stunden

Ländlicher geht es in Deutschland nicht. Ludwigslust-Parchim ist einer der am dünnsten besiedelten Landkreise in Deutschland und extrem ländlich geprägt. Das heißt 145 Gemeinden, darunter viele Dörfer mit 100 bis 200 Einwohner:innen und ganz unterschiedlichen, teilweise extrem kleinteiligen Strukturen. Dazu fünf Kleinstädte, dazwischen jede Menge riesiger Felder, Wiesen und Seen. Ludwigslust-Parchim ist der zweitgrößte Landkreis in Deutschland mit einer Ost-West-Ausdehnung von 118 km und einer Nord-Süd-Ausdehnung von 75 km.

Eine der größten Herausforderungen ist die Mobilität im Landkreis. Die Wege zwischen den einzelnen Gemeinden und Städten sind weit. Es gibt zwar ein Bussystem, das die wichtigsten Achsen im Landkreis regelmäßig bedient, sowie ein System, das die Menschen per Rufbus zur nächsten Hauptachse im Linienverkehr bringt. Aber wenn der nächste Sprachkursanbieter 40 Kilometer entfernt liegt, ist das für die meisten Menschen zu weit. Aufgrund der weiten Wege und der großen Streuung ist es im Landkreis Ludwigslust-Parchim eine große Herausforderung, gut erreichbare Orte für Gruppen-Integrationsangebote zu finden, an denen dann auch ausreichend Teilnehmende zusammenkommen.

Der größte Teil der Integrationsarbeit wird über den Landkreis hauptamtlich gesteuert. „Viele Kommunen sind so kleinteilig, dass gar keine Struktur für eine hauptamtliche Integrationsarbeit aufgebaut werden kann“, erklärt Heidrun Dräger, Fachdienstleiterin für Gleichstellung, Generationen und Vielfalt im Landkreis Ludwigslust-Parchim. In den vergangenen Jahren wurde ein dezentrales Integrations- und Teilhabenetzwerk entwickelt. Ein wichtiger Bestandteil ist das Beratungsangebot. „Alle Menschen, die zu uns kommen, haben das Anrecht, zwei Jahre lang beraten zu werden. Das finanzieren wir aus unserem eigenen kreislichen Topf.“ Um die Migrant:innen, die verstreut über den Landkreis leben, erreichen zu können, gibt es in Ludwigslust-Parchim sieben Vollzeit-Berater, die in die Haushalte und Familien gehen. 

Darüber hinaus gibt es in einigen größeren Zentren auch Angebote vor Ort, beispielsweise Integrations- und Sprachkurse. „Die sind eine Riesenherausforderung für uns, weil diese Kurse nur ab einer bestimmten Teilnehmendenzahl starten. In unserem Landkreis ist es aber oft schwer, die nötige Anzahl an einem Standort zusammenzubringen“, erklärt Heidrun Dräger.

Da die meisten Migrant:innen kaum etwas über den Landkreis wissen, wenn sie hierher kommen, beginnt jede Integrationsarbeit mit einer umfangreichen Vorstellungsrunde. Wie groß ist der Landkreis, wo liegen die Städte, welche Angebote gibt es in den Gemeinden. „Migranten, die zu uns kommen, ziehen nicht in kleine Dörfer. Da brauchen wir uns nichts vormachen“, sagt Dräger. Die meisten entscheiden sich für die etwas größeren Zentren, die zumindest eine Kita und eine Schule haben. 

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal in Mecklenburg-Vorpommern ist das Sprachkurs-Träger-Netzwerk. „Wir haben eine Kooperationsvereinbarung mit vierzehn verschiedenen Trägern, die eigentlich alle Mitbewerber sind – und die wir versuchen zu koordinieren.“ Das Netzwerk wurde geschaffen, weil es im Landkreis zwar viele Arbeitgebende gibt, die ihren Angestellten mit Migrationshintergrund einen Sprachkurs finanzieren würden, das aber aufgrund eines mangelnden Angebots in erreichbarer Nähe nicht organisieren können. „Wir als Landkreis haben angeboten, die Bedürfnisse und Möglichkeiten zu clustern. Also herauszufinden, welche Arbeitnehmer an welchen Standorten und zu welchen Zeiten an einem Sprachkurs teilnehmen können.“ So schafft es der Landkreis regelmäßig, genügend Teilnehmende zusammen zu bekommen, die dann vor Ort die deutsche Sprache lernen können. „Das funktioniert erstaunlich gut und nachhaltig, da sind wir wirklich stolz drauf.“

Zum einen wird der Landkreis weiter Bemühungen unterstützen, damit vor Ort in den Kommunen nachhaltige Strukturen entstehen. Wie zum Beispiel die Integrationsbeiräte, die aus den Gemeinden die Interessen von ausländischen Einwohner:innen nach außen vertreten, aber auch nach innen informieren und unterstützen. Von ihnen gibt es im Landkreis bereits fünf. „Falls wir die dezentrale Beratung in der jetzigen Form nicht mehr aufrecht erhalten können, weil das zu kleinteilig wird, wollen wir den Landkreis in Regionen aufteilen und dort über feste Anlaufstellen Beratungsangebote machen“, planen Dräger und ihr Team.

„Ja, darum kämpfen wir auch auf Landesebene. Denn wir brauchen individuelle Lösungen und Gestaltungsfreiheit.“ Heidrun Dräger würde es begrüßen, wenn der größte Teil der Integrationsarbeit von Bund und Land weiter in die Landkreise und Kommunen unter Voraussetzung der entsprechenden finanziellen Ausstattung gegeben werden würde.

Heidrun Dräger
Foto Froehlich, Parchim

Heidrun Dräger, Fachdienstleiterin für Gleichstellung: „Falls wir die dezentrale Beratung nicht mehr aufrecht erhalten können, weil das zu kleinteilig wird, wollen wir den Landkreis in Regionen aufteilen und über feste Anlaufstellen Beratungsangebote machen.“

Luftbild der Alstadt von Kaufbeuren
Harald Langer

Kaufbeuren

Bundesland: Bayern
Kommunaltyp: kreisfreie Stadt
Einwohner: 46.199 (Stand 12/19)
Anteil ausländischer Staatsbürger: 16,14% (Stand 12/19)
Fläche: 40,02 qkm
Bevölkerungsdichte: 1154 Einwohner je qkm
Fahrzeit mit dem Auto einmal durch Kaufbeuren: etwa 20 Minuten

Die kreisfreie Stadt hat bereits viel Zuwanderung erlebt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Sudetendeutsche hierher, dann Gastarbeitende und in den 1990ern Spätaussiedler:innen aus der ehemaligen UdSSR. Auch vor fünf Jahren nahm Kaufbeuren viele Migrant:innen auf. Heute leben in der Stadt zwischen Augsburg und München gut 46.000 Menschen aus mehr als 100 Nationen. Der Ausländeranteil liegt bei etwa 16 Prozent. „Wenn man die mehr als 5.000 Spätaussiedler, die inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft haben, aber über einen Migrationshintergrund verfügen, hinzuzählt, liegen wir bei knapp 30 Prozent“, sagt Alfred Riermeier. Auf diese Zahl weist der Leiter des Kinder- und Jugendreferats der Stadt Kaufbeuren gerne hin, wenn er für bestimmte Projekte werben möchte. Auch wegen der Zuwanderung stieg die Bevölkerungszahl in Kaufbeuren in den vergangenen Jahren stetig an. Das bedeutet, dass Strukturen und Angebot der Stadt wachsen müssen.

Wer viele Zugewanderte und Migrant:innen aus verschiedenen Nationen in seiner Stadt hat, hat in der Regel auch viel Integrationsarbeit. „Inzwischen haben wir einen großen Fundus an Erfahrungen in der Integrationsarbeit“, erklärt Alfred Riermeier. Dabei sei es Kaufbeuren schon bei den Spätaussiedler:innen nicht darum gegangen, sie möglichst reibungslos zu integrieren und einzupassen. „Sondern mit ihnen gemeinsam zu leben – und die Gesellschaft zu gestalten.“ Ende der 1990er Jahre schuf die Stadt die Geschäftsstelle für Integration. „Ab da sind wir intensiv strukturell und projektmäßig in die Integrationsarbeit eingestiegen.“

2007 hat die Stadt die Abteilung Kaufbeuren-aktiv gegründet, die sich um gesellschaftlich relevante Themen wie Gesundheit, Bildung und Engagementförderung kümmert. Hauptaufgabe dieses Koordinationszentrums mit fünf Vollzeitstellen ist es, entsprechende Ideen von Bürger:innen zu unterstützen und umzusetzen. Dazu übernimmt Kaufbeuren-aktiv die Koordinierung und Verwaltung von Projekten in den Bereichen Jugend, Bildung, Integration, Demokratie, Toleranz und Europa. „Über diesen ganzheitlichen Ansatz nehmen wir automatisch das Thema Integration mit“, erklärt Riermeier. „Wenn ich einen Sozialraum mit vielen Migranten habe, habe ich automatisch mit nahezu jedem Projekt auch ein Integrationsprojekt.“

Dennoch überlässt Kaufbeuren die Integration nicht dem Zufall. Im Gegenteil: „Wir haben viele kleine gut funktionierende, wertschöpfende Netzwerke, die wir als Stadt im Hintergrund koordinieren und so eine übergeordnete Struktur schaffen.“ So könne die Stadt auch flexibel auf sich ändernde Bedürfnisse reagieren.

„Unser großes Thema ist es, Begegnungen und Beziehungen zu schaffen. Und zwar für alle Bürgerinnen und Bürger Kaufbeurens“, erklärt Alfred Riermeier. Daher unternimmt die Stadt auch keine reinen Integrationsprojekte, sondern Projekte für alle Menschen vor Ort. Das können Bildungs-, Familien, Jugend- oder Freizeitprojekte sein, bei denen diejenigen zusammenkommen, die das entsprechende Thema interessiert. 

Natürlich gibt es in Kaufbeuren auch die klassischen Sprach- und Beratungskurse für Migrant:innen. Aber darüber hinaus setzt die Stadt auf Orte und Veranstaltungen, bei denen sich die Einwohner:innen begegnen und Beziehungen aufbauen. Wie zum Beispiel in einem Mehrgenerationenhaus, in Repair-Cafés, bei Familienstützpunkten und dem Festival der Vielfalt, bei dem die Stadt die Angebote einzelner Organisationen zu einer mehrtägigen Veranstaltung zusammenfasst. 

„Wir als Stadt möchten die bestehenden Strukturen mit „Kaufbeuren aktiv“ und seinen gesellschaftspolitischen Themen verstetigen.“ Damit könne man anstehende Themen wie Demokratiebildung und Zusammenhalt vorantreiben, so Riermeier. Dazu plant Kaufbeuren mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Projekt „M³ – mitdenken, mitgestalten, mitmachen“, in dem es darum geht, dass die Einwohner:innen zusammenkommen, sich austauschen und kennenlernen. So sollen zum Beispiel Laiendolmetscher ausgebildet werden und interkulturelle Workshops stattfinden.

„Dieser Vorschlag könnte von mir stammen“, meint Referatsleiter Riermeier. Er sieht es als Problem, dass die ganzen Aufgaben in den Kommunen immer nur als freiwillige Aufgaben gesehen werden. „So fällt die Integrationsarbeit, je nach Ausrichtung von Verwaltung und Politik, oft auch aus.“ Dabei sei es wichtig, nachhaltige, zu den Kommunen passende Angebote zu machen. Und schnell mit der Integrationsarbeit zu beginnen. „Wir sollten damit nicht warten, bis wir wissen, ob jemand bleiben darf.“

Alfred Riermeier
Stadt Kaufbeuren

Alfred Riermeier, Leiter des Kinder- und Jugendreferats der Stadt Kaufbeuren: „Unser großes Thema ist es, Begegnungen und Beziehungen zu schaffen. Und zwar für alle Bürgerinnen und Bürger Kaufbeurens.“