„Die ostdeutsche Zivilgesellschaft braucht Vertrauen“
Der Fall der Mauer vor 30 Jahren bedeutete auch für die ostdeutsche Zivilgesellschaft einen Neustart. Der Soziologe Andreas Willisch vom Thünen Institut für Regionalentwicklung koordiniert seit 2012 das Programm „Neulandgewinner“ der Robert Bosch Stiftung. Er blickt auf die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland – und macht trotz einiger Probleme Hoffnung für die Zukunft.
Welche Bedeutung hatte der Fall der Mauer vor 30 Jahren für die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland?
Andreas Willisch: Jede Zivilgesellschaft ist im Dafür und Dagegen immer auch ein Spiegel der Gesellschaft, in der sie sich organisiert. Wenn diese Bezugsgesellschaft verschwindet, und das ist mit dem Fall der Mauer im Osten relativ rapide passiert, dann muss die Zivilgesellschaft sich erst wiederfinden. Sie muss sich in die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten einpassen, schauen was sie wie mitgestalten oder auch wogegen sie sein möchte. Anders, als oft gesagt wird, hat das bürgerschaftliche Engagement in Ostdeutschland nach der Wende aber nicht bei Null angefangen. Auch in der DDR gab es engagierte Menschen in Heimat-, Kultur- und Sportvereinen oder Freiwilligen Feuerwehren.
„Die Leute wollen die Dinge in ihre eigenen Hände nehmen.“
Wie hat sich das bürgerschaftliche Engagement in den ostdeutschen Bundesländern nach der Wende entwickelt?
Bereits einige Jahre nach dem Mauerfall konnte man feststellen, dass es eigentlich in allen Bereichen, sowohl in Städten als auch in Dörfern, Menschen gibt, die den gesellschaftlichen Transformationsprozess aktiv gestalten möchten. Menschen, die verloren gegangene Angebote zurückbringen, die Orte der Gemeinschaft erfinden, die das gute Leben vor Ort organisieren möchten. Zum Beispiel mit Vereinsaktionen, Kulturangeboten oder Nachbarschaftshilfe. Als wir vom Thünen Institut zusammen mit der Robert Bosch Stiftung das Programm Neulandgewinner erarbeitet und 2012 gestartet haben, waren bereits überraschend viele Menschen engagiert unterwegs. Aber meist als Einzelkämpfer oder in kleinen Gruppen.
Und wie sieht die Situation heute aus?
Es gibt durchaus ein sehr lebendiges bürgerschaftliches Engagement in den ostdeutschen Bundesländern mit starken Charakteren und mitreißenden Typen. Aber es hängt viel von einzelnen Leuten ab, da es noch kaum übergreifende Strukturen gibt. Das bestehende Engagement wirkt wie ein großer Flickenteppich, der zu wenig vernetzt ist. Die Leute wollen die Dinge in ihre eigenen Hände nehmen, aber sie sind in der Breite noch zu wenig sichtbar. Aber ich denke, mit Programmen wie Neulandgewinner sind wir auf dem richtigen Weg.
Zur Person
Andreas Willisch ist Soziologe und war, bevor er 2002 mit Rainer Land das Thünen-Institut für Regionalentwicklung übernahm, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seit 2016 steht er gemeinsam mit Ines Hagenloch der Thünen-Institut Genossenschaft vor. Er leitet wissenschaftliche Forschungsprojekte und koordiniert seit 2012 das Programm „Neulandgewinner“ der Robert Bosch Stiftung.
Wie sieht dieser Weg hin zu einer lebendigen, starken Zivilgesellschaft aus?
Eine aktive, demokratische und teilhabende Zivilgesellschaft – ob in Städten oder auf dem Land, ob in Ost oder West – beruht auf Vertrauensstrukturen. Wir vertrauen darauf, dass es Menschen gibt, die sich über ihren Beruf hinaus engagieren, die einen gesellschaftlichen Mehrwert produzieren. Daher muss eine Unterstützung der Zivilgesellschaft bedeuten, dass man diesen Leuten vertraut und dass man das Vertrauen in diese Personen weiter stärkt. Es führt überhaupt kein Weg daran vorbei zu sagen: Wir vertrauen euch! Wir vertrauen euch, dass ihr die Probleme vor Ort am besten kennt und seht. Dass ihr nicht nur auf eigene Rechnung agiert, sondern einen offenen gesellschaftlichen Ansatz wählt. Deshalb vertrauen wir euch Mittel an. Ihr werdet schon das richtige damit anfangen. Auch wenn sich mal eine Idee oder ein Projekt nicht als ganz passend erweist und geändert werden muss. Das zentrale Element für die Entwicklung und Unterstützung von Zivilgesellschaft ist das gegenseitige Vertrauen.
Und wie steht es um das Vertrauen in die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland?
Mit dem Vertrauen ist es ja so, dass es quasi über Nacht zerstört werden kann und es dagegen Jahre braucht, um es wieder neu zu begründen. In dieser Situation befand sich die ostdeutsche Zivilgesellschaft nach der Wende. Und viele Fehler der Vereinigungspolitik, auch in der Förderpolitik, haben kein Vertrauen in die Gesellschaft gebracht. In der Zivilgesellschaft im Osten gab, und gibt es zum Teil bis heute, wenige gewachsene Strukturen, denen die Menschen vertrauen wollen. Klassische Förderung funktioniert noch viel zu oft nach dem Motto: „Ihr bekommt von uns Geld, wenn ihr das macht, was wir uns ausgedacht haben.“ Dabei müssen die Menschen ihre Ideen in ein Korsett pressen, weil ihnen im Grunde misstraut wird. Diese Förderkultur hat sich tief eingebrannt in die Seele der Ostdeutschen. Mit dem Programm Neulandgewinner werben wir hingegen für das Prinzip Geld für Vertrauen. Und kommen damit sowohl bei den Teilnehmern gut an, als auch bei denen, die von außen auf uns und die Art und Weise, wie wir das Programm organisieren, schauen. Da haben wir inzwischen richtiggehend Fans unseres Vertrauens-Prinzips.
Beim Festival der Zivilgesellschaft kamen im vergangenen Jahr Neulandgewinner und weitere engagierte Menschen zusammen, um sich zu vernetzen und auszutauschen.
In welche Richtung könnte sich die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland entwickeln? Welche Hoffnungen haben Sie?
Angesichts der Probleme in der deutschen Gesellschaft 30 Jahre nach dem Mauerfall wie Rechtsterrorismus, Altersarmut, Landflucht oder der nachhaltige Umgang mit unserer Umwelt, sind wir mehr denn je darauf angewiesen, dass die Leute vor Ort die Dinge in einem Sinne versuchen zu regeln, dass auch die nächsten Generationen hier noch ein gutes Leben führen können. Das Programm Neulandgewinner bringt uns in die privilegierte Situation, von Menschen umgeben zu sein, die genau das wollen, die sagen: Wir kriegen das schon hin. Unsere Erfahrung zeigt, dass gerade im ländlichen Raum drei, fünf oder zehn Menschen reichen – und die rocken das ganze Dorf, den ganzen Stadtteil, die Kleinstadt. Die ziehen die anderen mit, wenn sie offen aufgestellt sind. Das würde ich all den anderen da draußen gerne sagen: Denkt nicht an die große Masse, die ihr erreichen müsst. Sondern sucht genau die Leute, die mit ihrer Power und ihren Ideen die Dinge voranbringen können. Wenn dann noch die neuen Vertrauensstrukturen gepflegt werden, dann entsteht auch nachhaltig eine starke, lebendige Zivilgesellschaft aus engagierten Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerken in Ostdeutschland.