Die digitale Wahlkampfindustrie

Die Zeiten des klassischen Wahlkampfs sind vorbei. Besonders in den USA verlagern sich die Kampagnen immer mehr in die sozialen Medien – mithilfe von maßgeschneiderten Werkzeugen. Ein Blick in den Werkzeugkasten der digitalen Wahlkampfindustrie – und auf ihre Folgen für die Demokratie. 

Martin Petersen | Juni 2020
Die gesamte Wahlkampf-Branche versucht, die Zauberformel zu finden, wie man die politische Präferenz eines Wählers ändern kann.
Samuel Corum/Getty Images

Die gesamte Wahlkampf-Branche versucht, die Zauberformel zu finden, mit der man die politische Präferenz der Wählenden ändern kann.

Nur Details unterscheiden die Anzeigen, die Donald J. Trump an einem Tag im April massenweise auf Facebook schaltet. Sie alle bestehen aus einem Bild mit darübergelegtem Text. Ein rot eingefärbtes Stück Mauer, wie es an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze stehen könnte, ist der Hingucker in der Bildmitte. Im Hintergrund eine Baustelle mit einer Reihe blauer Mobiltoiletten. Am oberen Bildrand thront in Fettschrift die Frage: „SHOULD WE DEPORT ILLEGALS?“, am unteren wird der Lesende aufgefordert: „HAVE YOUR SAY.“ So sieht eine von über 1.000 nahezu identischen Anzeigen der Kampagne aus. Bei einer anderen ist der Bildausschnitt kleiner, der Text etwas anders: „ANSWER NOW“ steht nun unten. 

Etwa 30.000 verschiedene Anzeigen, die sich teilweise nur in winzigen Details unterscheiden, hat das Trump-Team im Rahmen diverser Kampagnen allein im April 2020 auf Facebook verbreitet. Die meisten von ihnen erreichen nur wenige Hundert Zielpersonen, doch jeder, der danach sucht, findet sie in Facebooks Werbebibliothek, in der das Unternehmen seit 2018 alle politischen Werbeanzeigen öffentlich auflistet. Knapp 38 Millionen US-Dollar hat Donald J. Trumps Wahlkampfteam allein auf seiner Facebook-Seite in den vergangenen zwei Jahren für Wahlwerbung ausgegeben (Mai 2018 – Mai 2020). Das entspricht etwa der Summe, die ein Konzern wie Google in Deutschland pro Jahr für Onlinewerbung ausgibt. 

Hauptgrund für die Höhe dieser Summe ist, dass wichtige Helfende im Umfeld des US-Präsidenten davon überzeugt sind, dass die Wahl 2016 nicht zuletzt über die sozialen Medien gewonnen wurde. Mit Blick auf die Wahl 2020 macht die Trump-Kampagne ungebremst dort weiter, wo sie vier Jahre zuvor Fahrt aufgenommen hat. Ihre unzähligen, fast deckungsgleichen Anzeigen mit der roten Mauer belegen den massiven Einsatz eines Werkzeugs, das erneut den Unterschied machen kann: Microtargeting. 
 

Wichtige Personen im Umfeld des US-Präsidenten Donald Trump sind davon überzeugt, dass die Wahl 2016 nicht zuletzt über die sozialen Medien gewonnen wurde.
Jaap Arriens/NurPhoto/Getty Images

Wichtige Personen im Umfeld des US-Präsidenten Donald Trump sind davon überzeugt, dass die Wahl 2016 nicht zuletzt über die sozialen Medien gewonnen wurde.

Gary Wright ist Experte für digitale Werbekampagnen. Mit einem kleinen Team der in Berlin ansässigen Nichtregierungsorganisation Tactical Technology Collective erforscht er, welche politischen Akteur:innen welche Arten von Daten verwenden und wie ihre verschiedenen Methoden funktionieren. Wrights Team hat ermittelt, dass inzwischen nicht weniger als 300 Unternehmen am digitalen Wahlkampf in den USA beteiligt sind. 

„Die gesamte Branche versucht, die Zauberformel zu finden, wie man die politische Präferenz eines Wählers ändern kann“, sagt Wright. „Doch die überzeugten Anhänger einer anderen Partei werden zunächst gar nicht ins Visier genommen, weil es sich hierbei um keine effiziente Verwendung von Geld handelt“, erklärt er. Stattdessen setzen die Profis der Trump-Kampagne – zumindest momentan – auf andere Strategien. 

Je besser man seine Wähler kennt und versteht, desto besser kann man Botschaften erstellen, die Reaktionen oder Aktionen der Wähler hervorrufen.

„Die politische digitale Kampagnenarbeit ist aus dem digitalen Marketing hervorgegangen“, sagt Wright. „Hier gilt das Prinzip: Je besser man seinen Wähler kennt und versteht, desto besser kann man Botschaften erstellen, die Reaktionen oder Aktionen der Wähler hervorrufen.“ Im Vordergrund stehe dabei, die eigenen Symphatisierende zu identifizieren und zu mobilisieren. 

Wie das am besten gelingt, zeigt das Beispiel mit dem roten Mauerstück. „Jede Werbung auf Facebook ist an sich schon ein Mechanismus zur Datenerfassung“, sagt der Social-Media-Experte. Während die Anzeige automatisiert in Tausenden von Varianten ausgespielt wird, analysiert ein Algorithmus, welcher Text, welche Farbe, welcher Bildausschnitt für welche Person am attraktivsten ist. Das trägt dazu bei, dass die Anzeige bei immer mehr Zielpersonen zum erwünschten Ergebnis führt – bei der Kampagne mit der roten Mauer ist es die Teilnahme an einer Umfrage, die auch die E-Mail-Adresse abfragt. Oft wird auch die Telefonnummer übermittelt. „Sobald Sie die Kontaktdaten erfasst haben“, sagt Wright, „können Sie weitergehen und mit automatisierten Telefonanrufen und direktem SMS-Kontakt beginnen.“ 

Das Sammeln von Kontaktdaten lohnt sich doppelt. Denn hat man eine E-Mail-Adresse auf diesem Weg, auf Wahlveranstaltungen oder über Newsletter erhalten, lässt sich die Mobilisierung mithilfe von Facebook und Google potenzieren. „Lookalike Audiences“ heißt das Werkzeug auf Facebook, auf Deutsch etwa: optische Zwillinge. Google hat ein vergleichbares Tool, „Similar Audiences“, das ebenso funktioniert.

Wirkliche Kraft entwickelt das digitale Wahlkampfmarketing, wenn es um Mehrheitsentscheidungen nach dem Prinzip „The winner takes it all“ geht. Das ließ sich beim Brexit-Referendum 2016 beobachten. Die Vote-Leave-Kampagne, die sich für den Austritt aus der EU stark machte, hat über 98 Prozent ihres Budgets für digitale Werbung ausgegeben, wie Kampagnenmanager Dominic Cummings in einem Beitrag für den Spectator offenlegte. Mit dem Geld von Vote Leave und anderer Pro-Brexit-Kampagnen wurden auch Dark Ads geschaltet.

Das Recherchezentrum Correctiv hat die Anzeigen analysiert, die Facebook nach langem Tauziehen mit dem britischen Unterhaus 2018 offenlegte. Sie zeigen, wie die politische Forderung nach einem Ausstieg aus der EU an verschiedene Zielgruppen angepasst wurde, und auch, dass darin gezielt Falschmeldungen verbreitet wurden, darunter die über einen bevorstehenden EU-Beitritt der Türkei. 

Die Vote-Leave-Kampagne, die sich für den Austritt aus der EU stark machte, hat über 98 Prozent ihres Budgets für digitale Werbung ausgegeben.
Henry Nicholls/Reuters

Die Vote-Leave-Kampagne, die sich für den Austritt aus der EU stark machte, hat über 98 Prozent ihres Budgets für digitale Werbung ausgegeben.

Jeanette Hofmann ist Professorin für Internetpolitik an der Freien Universität Berlin, unter anderem dort und am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung untersucht sie das Spannungsfeld zwischen Demokratie und Digitalisierung und hat sich intensiv mit Microtargeting beschäftigt. „Wahlkämpfe sind eigentlich darauf angelegt, dass man bestimmten Versprechungen oder Aussagen auch widersprechen können muss“, sagt sie. „Aber wenn eine kritische Begleitung von politischer Werbung nicht mehr möglich ist, weil sie gar nicht die Öffentlichkeit erblickt, dann haben wir ein Problem. Das ist schädlich, das beeinträchtigt den demokratischen Diskurs – gerade in Zeiten, wo es auf diesen ankommt, weil er unsere Wahlentscheidung vorbereitet.“

In unserem Wahlsystem ist davon auszugehen, dass der Einfluss durch Microtargeting nicht so groß ist.

Bei Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht, wie sie in der EU die Regel sind, spielen die Tricks des digitalen Marketings eine deutlich geringere Rolle. Massive Mobilisierungskampagnen wie im US-Präsidentschaftswahlkampf lassen sich hier bisher nicht beobachten. Dark Ads mit gezielten Falschinformationen sollen durch Facebooks öffentliche Werbebibliothek und andere Maßnahmen der Vergangenheit angehören. „In unserem Wahlsystem“, sagt Hofmann, „ist davon auszugehen, dass der Einfluss durch Microtargeting nicht so groß ist.“

Was Politolog:innen in Europa an der Ansprache der Wähler:innen über soziale Medien stattdessen nachdenklich stimmt, ist die Wirkung von Algorithmen auf die Meinungsbildung.

„Dass diese zum Beispiel bei YouTube dazu führen, dass jemand, der rechtsradikale Inhalte anguckt, noch rechtsradikalere Inhalte angeboten bekommt, ist für die Entwicklung der Demokratie absolut schädlich,“ sagt Hofmann. Aus demokratietheoretischer Sicht gehe es immer darum, so die Politologin, eine anspruchsvolle Öffentlichkeit zu schaffen, die sich ihre Meinung bildet und dann wiederum auch einen Einfluss auf das politische Entscheiden hat. 

Dass auch in den Social-Media-Konzernen die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen ihres Angebots zunehmend ein Thema sind, belegen inoffizielle und offizielle Verlautbarungen. Facebooks CEO Mark Zuckerberg wünschte sich etwa im Februar 2020 in einem Gastbeitrag für die Financial Times mehr Regulierung durch die Politik, auch wenn das „kurzfristigen Schaden für die Geschäftstätigkeit“ des Unternehmens bedeutete. Zugleich verteidigt die Facebook-Unternehmensführung die Grundlagen ihres Geschäftsmodells, zielgerichtete Werbung und die dazugehörigen Instrumente. Das Verbreiten von Falschmeldungen im politischen Kontext ordnen Zuckerberg und seine Co-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg als Beitrag zur freien gesellschaftlichen Debatte ein.

Ich würde mir wünschen, dass wir auf europäischer Ebene Geld in die Hand nehmen und alternative Angebote schaffen, die unter Einbezug der Nutzer:innen wachsen.

Für Jeanette Hofmann stellt sich die Frage, warum die Europäer das Feld der sozialen Medien nicht selbst bestellen. „Ich würde mir wünschen, dass wir auf europäischer Ebene Geld in die Hand nehmen und alternative Angebote schaffen“, sagt die Forscherin, „und zwar Angebote, die nicht Top-down die Bürger beglücken, sondern die unter Einbezug der Nutzer:innen wachsen.“ 

In jedem Fall, plädiert Hofmann, sollten die bestehenden sozialen Netzwerke in den Dialog mit Politik und Gesellschaft treten. Der Ort dafür könnte eine noch zu gründende Agentur sein, in der Plattformbetreiber, Nutzer:innen sowie die Politik offen diskutieren und Lösungsansätze ausarbeiten, um die sozialen Medien und ihre Prinzipien im Sinne der demokratischen Gesellschaft zu verbessern. 
 

Bereits jetzt ist klar: Die kommende US-Wahl wird noch einmal viel stärker durch digitale Werbung beeinflusst als alle Wahlen zuvor.
Zuma Press/action press

Bereits jetzt ist klar: Die kommende US-Wahl wird noch einmal viel stärker durch digitale Werbung beeinflusst als alle Wahlen zuvor.

Im laufenden US-Wahlkampf wird währenddessen in den sozialen Medien weiter massiv aufgerüstet. Schon jetzt ist klar, dass die kommende Wahl noch einmal viel stärker durch digitale Werbung beeinflusst wird als alle Wahlen zuvor. „Aufgrund der Coronakrise gibt es jetzt einen gewaltigen Schub in Richtung digitale Medien“, stellt Gary Wright fest. Daneben, sagt er, sei auch eine zunehmende Bereitschaft aller Seiten zu beobachten, bei dieser Wahl so weit wie möglich zu gehen, alle Register zu ziehen, um die richtigen Leute dazu zu bringen, aktiv zu werden, zu spenden und wählen zu gehen. 

In der Facebook-Werbebibliothek lässt sich ablesen, dass zumindest die Trump-Kampagne bereits in diesem Modus angekommen ist.