Mehr Europa wagen
Das europäische Projekt und die transatlantische Partnerschaft stehen vor einer doppelten Belastungsprobe. Im Innern herausgefordert von erstarkten Rechtspopulisten, von außen konfrontiert mit einer US-Administration, die der Europäischen Union skeptisch bis offen ablehnend gegenübersteht, erscheint die Zukunft Europas und seine Verortung an der Seite der Vereinigten Staaten offen wie lange nicht mehr.
In der Diskussion über die Frage, ob Europas Mitte hält: Yascha Mounk, Senior Fellow am SNF Agora Institute, und Brookings Fellow Alina Polyakova.
Zu diesen aktuellen und für Europa existenziellen Themen luden der amerikanische Think Tank The Brookings Institution und die Robert Bosch Stiftung am 13. Juni 2019 zu einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen der „Brookings – Robert Bosch Foundation Transatlantic Initiative (BBTI)“ unter dem Titel „Europe's post-American Future?“ in Washington, DC, ein.
Unterschiedliche Wahrnehmungen der transatlantischen Beziehungen
Bevor zwei nacheinander stattfindende Panels die Fragen „Can Europe's Center hold?“ und „The trans-Atlantic Agenda in 2021 – is deeper cooperation possible?“ erörterten, hoben Christian Hänel, Bereichsleiter Völkerverständigung Amerika und Asien der Robert Bosch Stiftung, und Thomas Wright, Direktor des Center on the United States and Europe bei Brookings, die gute transatlantische Zusammenarbeit der beiden Partner hervor. Gleichzeitig gab Hänel anhand zweier Meinungsumfragen der Atlantik-Brücke und des Pew Research Center zu Bedenken, dass die Wahrnehmungen der transatlantischen Beziehungen auf beiden Seiten des Atlantiks aktuell sehr stark divergieren: Während knapp 85 Prozent der Deutschen ein negatives oder sehr negatives Bild der Partnerschaft haben, halten 70 Prozent der befragten Amerikaner die deutsch-amerikanischen Beziehungen nach wie vor für gut. Hänel gab der bewusst gewagten Hoffnung Ausdruck, die anschließende Diskussion möge auch ein Quäntchen Optimismus zutage fördern. Ein Wunsch, der schwer erfüllbar war.
Die Teilnehmer der Diskussion „Can Europe's Center hold?“ (v.l.n.r.): Moderator und Financial Times-Kolumnist Edward Luce, Brookings Visiting Fellow Célia Belin, Yascha Mounk, Senior Fellow am SNF Agora Institute, Brookings Fellow Alina Polyakova und Amanda Sloat, Robert Bosch Senior Fellow bei Brookings.
Die Wahlen zum Europarlament vor wenigen Wochen konnten die Frage des ersten, von Financial Times-Kolumnist Edward Luce geleiteten Panels, ob Europas Mitte hält, nicht abschließend beantworten. So betonte Yascha Mounk, Senior Fellow am SNF Agora Institute, dass die Rechtspopulisten in Italien, Frankreich, Großbritannien, Ungarn und Polen die meisten Stimmen erhielten. Brookings Fellow Alina Polyakova verwies darauf, dass dennoch zwei Drittel des Europaparlaments den liberalen Normen und Werten der europäischen Integration verschrieben seien. Zudem sei es positiv zu bewerten, dass die Rechtspopulisten es nicht schaffen, einen gemeinsamen Fraktionsblock zu bilden. Vielmehr sei zum ersten Mal in der Geschichte der EU eine echte Debatte zu EU-Themen quer über den Kontinent zu sehen, so Polyakova.
Sind Ungarn und Polen auf dem Weg in die Diktatur?
Doch auch ohne eine Blockbildung im EU-Parlament können die Rechtspopulisten in Brüssel, aber vor allem in ihren Heimatländern, das auf liberalen, integrativen Werten und Normen begründete europäische Projekt zumindest lähmen. Dies würde laut Mounk dazu führen, dass die EU in den nächsten Jahren ein „Zombie“-Dasein führen könnte. Gleichzeitig diagnostizierte Mounk, dass sich illiberal-regierte Staaten wie Ungarn und Polen auf dem Weg in die Diktatur befänden. Polyakova hielt diese Einschätzung für übertrieben und warnte davor, Liberalismus mit Demokratie gleichzusetzen. Der „Rollback“ von demokratischen Institutionen gebe zwar Anlass zur Sorge, stelle jedoch noch keine Krise der Demokratie dar: „Auch die illiberalen populistischen Parteien in Europa wurden demokratisch legitimiert und reagieren auf von der Bevölkerung wahrgenommene Missstände in ihren jeweiligen Ländern“, so Polyakova.
Einig waren sich die Diskussionsteilnehmer zumindest in einer Lehre aus den Wahlen: „Die Geschichte dieser Europawahl ist die Geschichte der Fragmentierung“, sagte Brookings Visiting Fellow Célia Belin. Sie verwies darauf, dass die traditionellen Mitte-Rechts und Mitte-Links-Parteien bei der Wahl gemeinsam weniger als die Hälfte aller Stimmen erhielten. Gleichzeitig mache es die fortschreitende Fragmentierung immer schwerer, tragfähige Lösungen für gesamteuropäische Fragen zu finden, so Belin.
Was ist die Ursache für den Auftrieb der Rechtspopulisten?
Umstritten unter den Experten war dagegen die Ursache für den Auftrieb der Rechtspopulisten beziehungsweise die Schwäche der Parteien der Mitte. Während Mounk konstatierte, dass die Trennlinie der europäischen Politik sich von der Wirtschaft hin zur Kultur verschoben habe, hielt Belin entgegen, die Forderung nach wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit stelle für einen Großteil der europäischen Wähler auch weiterhin die entscheidende politische Motivation dar.
Die Teilnehmer der Diskussion „The trans-Atlantic Agenda in 2021- is deeper cooperation possible?“ (v.l.n.r.): Moderator Thomas Wright, Direktor des Center on the United States and Europe bei Brookings, Victoria Nuland, Nonresident Senior Fellow bei Brookings, Walter Russell Mead, Fellow am Hudson Institute, Constanze Stelzenmüller, Robert Bosch Senior Fellow bei Brookings, und Benjamin Haddad, Direktor der Future Europe Initiative beim Atlantic Council.
Mit Blick auf das transatlantische Verhältnis betonten die Experten übereinstimmend, dass US-Präsident Trump nicht der Auslöser des Aufstiegs des europäischen Rechtspopulismus war. Trump habe jedoch, so konstatierte Amanda Sloat, Robert Bosch Senior Fellow bei Brookings, durch seine Europapolitik, die den desintegrativen Kräften auf dem europäischen Kontinent zu Gute komme, die gesellschaftliche und politische Spaltung innerhalb Europas weiter befeuert. Noch mehr als die Tatsache, dass Trump Europas Rechtspopulisten Rückendeckung gebe, mache ihr jedoch Sorge, dass die Europäer immer „noch keinen Plan B haben“ wie mit den USA im Falle einer Wiederwahl Trumps 2020 umzugehen sei: „Falls Trump wiedergewählt wird, werden die Europäer gezwungen sein, einige sehr schwierige Entscheidungen bezüglich ihrer eigenen strategischen Möglichkeiten und Ausrichtung zu treffen“, sagte Sloat. Genau dies sei jedoch bereits heute überfällig und unabdingbar, waren sich die Teilnehmer des zweiten, von Thomas Wright moderierten Panels „The trans-Atlantic Agenda in 2021- is deeper cooperation possible?“ einig.
Die EU soll international Flagge zeigen
„Wir sind mit einer amerikanischen Regierung konfrontiert, die alles daransetzt, die internationale Ordnung zu zersetzen“, sagte Constanze Stelzenmüller, Robert Bosch Senior Fellow bei Brookings. „Das ist ein wirkliches Problem für Europa, denn die Institutionen dieser Ordnung sorgen für Frieden, Wohlstand und demokratischen Wandel nicht nur in Europa, sondern auch anderswo.“ Die Konsequenz aus der amerikanischen Abkehr vom Institutionalismus sei eindeutig, so die Experten. Die EU müsse bestehende Normen und Institutionen verteidigen, denn keine Region und keine politische Macht habe mehr von Multilateralismus und internationaler Zusammenarbeit profitiert, betonte Benjamin Haddad, Direktor der Future Europe Initiative beim Atlantic Council. Hierfür müssen die Europäer allerdings zuerst ihre lange unerledigten Hausaufgaben machen, betonte Walter Russell Mead, Fellow am konservativen Hudson Institute. „Das bedeutet unter anderem, dass sie viel intensiver darüber nachdenken müssen, was ihre Kerninteressen sind und diese dann auch konsequenter und aktiver verfolgen.“ So sei die EU mehr denn je gefordert international Flagge zu zeigen – trotz der zahlreichen ungelösten innereuropäischen Fragen, beispielsweise zum Umgang mit Einwanderung, und trotz des Drucks der US-Regierung bei Streitthemen wie Handel und Umweltschutz, sagte Victoria Nuland, Nonresident Senior Fellow bei Brookings. Zugleich seien „viele transatlantische Herausforderungen wie der richtige Umgang mit China und Russland gleich, aber wir adressieren sie nicht gemeinsam“, so Nuland. Ihre derzeit größte Sorge sei „nicht zu viel Europa, sondern zu wenig Europa“.