Digitale Angebote für Migrant:innen

Neue Links in die Gesellschaft

Wie finden neuzugewanderte Frauen ihren Platz in der deutschen Gesellschaft? Wo suchen sie nach Informationen und Beratung? Und welche Rolle spielen dabei digitale Kanäle? Diese Fragen untersucht das Projekt „Digital Active Women”. Das Besondere: Neuzugewanderte Frauen beraten Kommunen und Beratungsstellen, wie diese ihr digitales Angebot besser auf die Bedürfnisse von Migrant:innen zuschneiden können. Ein Zwischenbericht.

Text
Mia Raben
Bilder
Getty Images, Ruthe, privat
Datum
13. Juni 2022

Tamara Puerto ist mehrmals neu in Deutschland angekommen. Beim ersten Mal ging alles ganz einfach. Für ihr Studium kam sie 2017 aus Kolumbien nach Göttingen. 

„Ich hatte ein Stipendium vom Deutschen Akademischen Austauschdienst: Als Studentin wurde mir überall geholfen, mit der Wohnung, dem Visum, der Krankenkasse.“ 

Nach dem Abschluss verließ sie den Uni-Kosmos und lernte Deutschland noch einmal ganz neu kennen. 

„Als ich dann auf Job- und Wohnungssuche ging, begann eine sehr schwere Phase. Es gibt zu allen Themen viele kompliziert verfasste Informationen, die oft sehr allgemein gehalten sind. Ich habe nie eine passende Lösung für mich gefunden.“ 

Tamara Puerto

Die heute 33-Jährige kam im Jahr 2017 aus Kolumbien nach Deutschland. Puerto studiert Soziale Arbeit, arbeitet als Werkstudentin beim Verein Gemeinsam für Afrika e. V. und ist ehrenamtlich als Co-Forscherin für das Projekt "Digital Active Women" tätig.

Heute ist Tamara Puerto 33 Jahre alt und will dazu beitragen, dass anderen Frauen, die neu nach Deutschland kommen, diese Schwierigkeiten erspart bleiben. Deshalb arbeitet sie mit gut drei Dutzend anderen neuzugewanderten Frauen aus verschiedensten EU- und Drittstaaten ehrenamtlich am Citizen-Science-Projekt „Digital Active Women“ mit, das von "Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung" durchgeführt und von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird. Die sogenannten Co-Forscherinnen befragten in einer selbst entwickelten Online-Studie mehr als 600 zugewanderte Frauen zu ihren Erfahrungen mit bestehenden digitalen Informations- und Beratungsangeboten – und zu den Schwierigkeiten damit.

„Behörden müssen andere Perspektiven integrieren“

In den kommunalen Verwaltungen ist man sich bewusst, dass die Bedürfnisse von neuzugewanderten Menschen nicht immer optimal bedient werden.

„Die Verwaltung ist oft auf ihre eigenen Belange fokussiert. Ich kann mir vorstellen, dass sich manche Menschen nicht angesprochen fühlen. Wir sind uns der Probleme bewusst. Da muss sich was bewegen, hin zu einem Service-Denken. Es ist für die Behörden wichtig, andere Perspektiven zu integrieren. Unsere Verwaltung ist im Wandel.“ 
– Derya Yarici, Mitarbeiterin im Integrationsbüro Berlin-Charlottenburg

Derya Yarici

Die 38-Jährige ist Mitarbeiterin im Integrationsbüro Berlin-Charlottenburg und Berlinerin mit familiärem Migrationshintergrund.

Wie wichtig gerade die Zielgruppe der Migrantinnen ist, wissen die Wissenschaftler:innen des Projektkontors Minor schon aus anderen Projekten: Zugewanderte Frauen übernehmen häufig nicht nur für sich selbst Verantwortung im Integrationsprozess, sondern auch für eigene Kinder, Partner:innen und weitere Familienangehörige. Gleichzeitig aber sind sie im Vergleich zu Männern stärker marginalisiert, wenn es um Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheit geht. Im Projekt „Digital Active Women“ sind die neuzugewanderten Frauen die Expertinnen. Ihre eigenen Erfahrungen machen sie zu kompetenten Beraterinnen, wenn es darum geht, digitale Angebote für Zugewanderte zu verbessern – und letztlich das Ankommen im neuen Lebensumfeld zu erleichtern.

Soziale Medien statt Sozialamt 

„Wie suchen Sie Informationen zum Leben und Arbeiten in Deutschland?“, fragten die Co-Forscherinnen des Minor-Projekts Frauen ihrer jeweiligen Online-Communities. Das Ergebnis: 73,4 Prozent antworteten „über soziale Medien“, 66,7 Prozent „über persönliche Kontakte“. Nur jeweils weniger als 20 Prozent von ihnen nannten Jobcenter, Beratungsstellen oder Behörden als wichtige Informationsquellen. Soziale Medien und soziale Kontakte sind bei der Orientierung offensichtlich wichtiger als Institutionen.  
 

Auf einen Blick

Wo informieren sich Neuzugewanderte über das Leben in Deutschland?

Im Rahmen des Projekts „Digital Active Women“ wurden 511 neuzugewanderte Frauen im Jahr 2021 befragt, wie sie sich in Deutschland orientieren. Dabei wurde die Bedeutung von sozialen Medien mehr als deutlich. Alle Ergebnisse der Befragung sind in der Publikation "Neuzugewanderte Frauen besser informieren und beraten" nachzulesen.

Infografik, wie sich neuzugewanderte Frauen in Deutschland orientieren. Die häufigste Nennung: soziale Medien.
Vollbildmodus

Eine funktionierende Verbindung zwischen Migrantinnen und der deutschen Gesellschaft bilden die sogenannten Migrant:innenorganisationen. Zarona Ismailova arbeitet in deren Dachverband DaMigra und hat oft mit neuzugewanderten Frauen zu tun, die Probleme haben, sich zu Themen wie Bildung, Arbeit oder dem Wohnungsmarkt zu informieren. 

„Die Informationen sind häufig nicht über Suchmaschinen auffindbar, sondern nur über direkte Links, die man kennen muss. Außerdem sind sie oft in einer komplizierten Sprache formuliert. Und wenn man sie entziffert hat, stellt sich womöglich heraus, dass sie nicht mehr aktuell sind.“ 
– Zarona Ismailova, Dachverband der Migrantinnenorganisationen DaMigra

Zarona Ismailova

ist Projektleiterin bei Damigra, dem Dachverband der Migrantinnenorganisationen in Deutschland. Ismailova, 47 Jahre, kam 2014 aus Tadschikistan nach Deutschland.

Auch Co-Forscherin Tamara Puerto fühlte sich in ihrer Anfangsphase in Deutschland selten gut informiert:

„Nach meinem Studium nahm ich an einem Kurs teil, der mich für die Bewerbungsgespräche fit machen sollte. Erst viel später erfuhr ich, dass mir die Agentur für Arbeit diesen Kurs bezahlt hätte. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich Anspruch habe, und es gab auch niemanden von offizieller Stelle, der es mir gesagt hat. Es wäre gut, wenn die Informationen in einfacher Sprache verfasst und userfreundlicher gestaltet werden würden.“

Wie können Informationsangebote für Neuzugewanderte wirklich besser werden?

Das Projekt „Digital Active Women“ bietet Kommunen, Migrant:innenorganisationen und Beratungsstellen eine Art langfristiges digitales Coaching an. Bis Ende 2023 beraten die Frauen als Expertinnen ihrer eigenen Lebenssituation nun Behörden und Beratungsstellen, wie Neuzugewanderte über digitale Medien und Kanäle besser erreicht werden können. So kann das Angebot der jeweiligen Verwaltungseinheit oder Beratungsstelle genauer auf den Bedarf der Zielgruppe ausgerichtet werden. 

„Man muss sich immer fragen: Erreiche ich auch wirklich die Menschen, die ich erreichen will? In welchen Sprachen? Mit welcher Ansprache?“
– Derya Yarici, Mitarbeiterin im Integrationsbüro Berlin-Charlottenburg

In den am Integrationsprozess beteiligten Institutionen sind digitale Kompetenzen und Zugänge zu Zielgruppen ganz unterschiedlich stark ausgeprägt, wie sich in Austauschtreffen im Rahmen von „Digital Active Women“ deutlich zeigte. 

„Wir arbeiten mit Whatsapp-Gruppen und posten unsere Maßnahmen in den sozialen Medien an Orten, von denen wir wissen, dass unsere Zielgruppe dort unterwegs ist.“
– Zarona Ismailova, Dachverband der Migrantinnenorganisationen DaMigra

„Privat nutze ich soziale Medien kaum. Auch in unserem Projekt, das neuzugewanderte Frauen mithilfe von Coachings bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützt, haben wir mit Facebook und Instagram gerade erst angefangen.“
– Pantelis Lekakis-Kerkyraios, Arbeitsberatungsstelle „MUT_RAUM“ 

Auf einen Blick

Auf welchen Plattformen suchen neuzugewanderte Frauen nach Informationen?

Nur 40 Prozent der im Rahmen des Projekts „Digital Active Women“ befragten Frauen nutzen die offiziellen Webseiten von Behörden und Beratungsstellen, fast doppelt so viele verwenden Facebook. Alle Ergebnisse der Befragung sind in der Publikation "Neuzugewanderte Frauen besser informieren und beraten" nachzulesen.

Infografik, welche Kanäle die befragten Frauen nutzen. Platz Eins: Facebook
Vollbildmodus

Soziale Medien eignen sich gut dazu, komplizierte Dinge einfach zu erklären. Kinder und Jugendliche machen heute ab einem bestimmten Alter kaum noch Referate, ohne Erklärvideos zu nutzen. Warum arbeitet man nicht längst auch im Integrationsprozess mit diesen Medien? Laut der "Digital Active Women"-Umfrage nutzen mehr als 75 Prozent der Befragten Facebook und gut 40 Prozent die Plattform Youtube, um an Informationen zum Leben und Arbeiten in Deutschland zu gelangen. In persönlichen Gesprächen berichten viele Frauen, dass bei Facebook besonders die Gruppen von Gleichgesinnten attraktiv für sie sind.

„Eigentlich ist es ja logisch, dass eine Person, die neu nach Deutschland kommt, sich erst mal im Netz umguckt. Durch die DAW-Studie ist mir bewusst geworden, wie sinnvoll es sein kann, die physische Dimension durch eine digitale Strategie zu erweitern.“
– Pantelis Lekakis-Kerkyraios, Arbeitsberatungsstelle „MUT_RAUM“ 

Pantelis Lekakis-Kerkyraios

Er leitet das Projekt „MUT_RAUM“ bei der EmPATI gGmbH, einer gemeinnützigen Initiative, die seit mehr als zehn Jahren Projekte, Veranstaltungen und Studien im Bereich Integration durchführt und fördert. Der heute 36-Jährige ist 2004 aus Griechenland nach Berlin zugewandert.

Und genau das soll das Projekt „Digital Active Women“ leisten: den Anbietern von Integrationsdiensten Vorschläge machen, wie sie ihre digitalen Formate und Angebote verbessern können. Es geht darum, dort, wo Anbieter und Zielgruppe noch nicht zueinander finden, eine Brücke zu schlagen. Letztendlich sollen die Angebote ja zu den neuzugewanderten Frauen passen, um ihnen das Einleben in Deutschland zu erleichtern. Online und offline. Ohne das Engagement und die solidarische Grundhaltung der ehrenamtlichen Co-Forscherinnen wäre das nicht möglich. Die Motivation in der Gruppe ist hoch. Aus gutem Grund.

„Andere Frauen sollen es leichter haben als ich damals. Außerdem ist diese Arbeit für mich auch eine Chance. Meistens sind Migrant:innen ja Objekte der Forschung, und nicht aktiv handelnde Subjekte. Das möchte ich gern ändern.“
– Tamara Puerto, Co-Forscherin im Projekt „Digital Active Women“

Über das Projekt

Digital Active Women

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Neuzugewanderte Frauen haben einen hohen Informations- und Beratungsbedarf zu diversen Themen rund um gesellschaftliche Teilhabe. Hier setzt das Projekt „Digital Active Women: Wie Beratungs- und Informationsangebote besser ankommen“ an, das von Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung umgesetzt und vor der Robert Bosch Stiftung gefördert wird. Minor entwickelt mit Hilfe des Citizen-Science-Ansatzes gemeinsam mit neuzugewanderten Frauen verschiedener Communities konkrete Empfehlungen und Modelle für passgenaue digitale Beratungs- und Informationsangebote. Der Fokus liegt dabei auf Angeboten von Kommunen, Migrations- und Sozialberatungsstellen sowie Migrant:innenselbstorganisationen.

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