Erstmals haben geflüchtete Schüler:innen aus der Ukraine an einer deutschen Schule ihren ukrainischen Schulabschluss gemacht. Wie die Ukraine, aber auch Deutschland von diesem Pilotprojekt profitieren, wird bei den von der Robert Bosch Stiftung geförderten deutsch-ukrainischen Bildungsgesprächen deutlich.
Rund 30.000 Schüler:innen aus der Ukraine sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges in Bayern untergekommen. Viele von ihnen besuchen als erste Integrationsmaßnahme eine so genannte Willkommensklasse, im Freistaat Brückenklasse genannt. An der privaten Münchner SchlaU-Schule, die 2014 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde, haben jetzt in Kooperation mit dem ukrainischen Bildungsministerium zum ersten Mal 21 Schüler:innen ihren ukrainischen Schulabschluss in Deutschland gemacht. Das Besondere dabei: Sie haben zu zwanzig Prozent an Online-Kursen zweier Partnerschulen in der Westukraine teilgenommen, zu achtzig Prozent Unterricht von neun ebenfalls geflüchteten Lehrkräften aus der Ukraine bekommen.
Für die Schüler:innen ist es ein Meilenstein. Endlich haben sie einen Abschluss in der Tasche, mit dem sie in beiden Ländern ein Studium beginnen können. „Ich bin sehr glücklich, dass ich jetzt studieren kann, entweder online in der Ukraine oder hier an einem Studienkolleg in Vorbereitung auf die Uni“, sagt der 17-jährige Bhodan Hlahola. Er ist im März 2022 aus dem westukrainischen Mukatschewo nach Deutschland geflohen, „als die russischen Soldaten fünf Kilometer vor Kyiv standen“. Der Schrecken darüber ist ihm auch heute noch anzuhören. Jetzt steht er im prächtigen Festsaal des Münchner Künstlerhaus und nimmt im Beisein des bayerischen Kultusministers Michael Piazolo und des ukrainischen Konsuls Oleksander Stetsiuk sein Abschlusszertifikat entgegen.
Was Bhodan mit seiner Zukunft anfangen will, ist genauso vage wie bei vielen seiner Altersgenossen – vielleicht Sport studieren, Mathe oder doch etwas mit Sprachen. Vor drei Tagen hat er seine Deutsch-Prüfung auf A2-Niveau bestanden, wie er stolz erklärt. Damit hat Bhodan einen wesentlichen Schritt gemacht, um im deutschen Bildungssystem Erfolg zu haben. Und ist doch eher eine Ausnahme unter den ukrainischen Schülerin:nen: Lehrkräfte von anderen Schulen berichten, dass die meisten von ihnen weniger gut Deutsch als andere geflüchtete Schüler:innen sprechen. Viele sind angesichts der Hoffnung, bald wieder in die Ukraine zurückkehren zu können, kaum motiviert, die Sprache zu lernen; in den Willkommensklassen bleiben sie meist mit anderen aus ihrer Heimat zusammen.
Für den Schulleiter der SchlaU-Schule ist das Pilotprojekt mit dem ukrainischen Bildungsministerium eine Investition in die Zukunft der Ukraine, „eine Art frühzeitige Wiederaufbauhilfe“, wie Michael Stenger sagt. „Wir schaffen Perspektiven für Menschen, mit positiven Gedanken und Zukunftsträumen zurückzugehen.“ Stenger leitet die vom Verein Junge Flüchtlinge e.V. getragene Schule. Gegründet wurde sie 2000 mit dem Ziel, Geflüchteten einen qualifizierten deutschen Schulabschluss zu ermöglichen – immer begleitet von Sozialpädagog:innen, die einen Zugang und das Vertrauen der Schüler:innen haben. Das vergangene Schuljahr beschreibt Stenger als herausfordernd. Er berichtet von Kraft raubenden Gesprächen mit seinen ukrainischen Schüler:innen über Lernmoral und Pünktlichkeit, und von der Aufgabe, sie gemeinsam mit anderen Lehrkräften und einer ukrainischen Sozialpädagogin immer wieder aufzubauen: „Die täglichen Ereignisse im Krieg waren eine enorme Belastung. Mal waren fünf Schüler betroffen, mal keiner“. Sein Fazit ist dennoch durchweg positiv: „Wir haben alles richtig gemacht – aber wir haben das ganze Jahr über daran gezweifelt.“
Für die Bildungsexpert:innen aus der Ukraine und Deutschland, die sich anlässlich der Zeugnisvergabe zu deutsch-ukrainischen Bildungsgesprächen zusammengefunden haben, markiert dieses Pilotprojekt den Beginn einer Zusammenarbeit, von der beide Seiten profitieren können. Da ist zunächst vor allem die ukrainische Seite: Lilia Hrynevych, von 2016-2019 Bildungsministerin der Ukraine und jetzt als Beraterin tätig, hofft darauf, dass die Absolvent:innen bald zurückkehren und sich am Wiederaufbau ihrer Heimat beteiligen. Und darauf, dass die geflüchteten Lehrer:innen, von denen aktuell in Bayern rund 600 unterrichten, Impulse in die noch vor Kriegsbeginn gestartete Bildungsreform hin zu einer „New Ukrainian School“ einbringen.
Deutschland wiederum könne aus dieser Situation lernen, Vielfalt als Chance zu begreifen und ein Schulsystem der Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln, so Dagmar Wolf, Bereichsleiterin Bildung der Stiftung. Sie fordert angesichts des eklatanten Lehrkräftemangels und der strukturellen Herausforderungen an den Schulen generell mehr Sozialpädagog:innen, Schulpsycholog:innen und mehr Unterrichtsbegleitung. „Wir wissen beispielsweise aus unserem Schulbarometer, dass als eine Folge der Corona-Pandemie jedes 4. Kind in Deutschland eine behandlungswürdige Störung aufweist“, sagt sie. „Deshalb machen wir uns für multiprofessionelle Teams an Schulen stark, und das nicht nur für ukrainische Geflüchtete.“
Es bleibt die Frage, ob es dem deutschen Bildungssystem gelingen wird, geflüchtete Schüler:innen im Vergleich zur letzten großen Fluchtzuwanderung 2015 besser zu integrieren. Zwar wurden damals Angebote entwickelt, die sich jetzt bei der Aufnahme der Ukrainer:innen als grundsätzlich tragfähig erwiesen haben. Geflüchtete Schüler:innen brauchen neben Unterricht vor allem einen Schutzraum, einen organisierten Tagesablauf.
„Das Problem ist aber, dass dieses Wissen nicht in Schulen verankert ist, sondern bei einzelnen Personen und Gruppen liegt. Wir können deshalb von Schulen wie der SchlaU Ideen übernehmen für das System, damit wir in der nächsten Situation nicht wieder von Neuem überlegen, was wir tun müssen.“
Genau diesen Schutzraum hat Anastasiia Butkevych gespürt. Die 17-jährige aus Kyiv hat ihren ukrainischen Abschluss mit Auszeichnung bestanden, wie die Goldmedaille auf ihrer Brust bezeugt. „Das Besondere an der SchlaU-Schule war, dass sie fast wie eine Heimat für mich war, ein Zuhause.“ Sie ist im März 2022 allein nach Deutschland gekommen, der Bruder lebt in Spanien, die Eltern sind in der Ukraine geblieben. Nach ihren Träumen gefragt, antwortet Anastasiia: „Ich mache keine großen Pläne für die Zukunft. Ich habe gelernt, dass sich innerhalb eines Tages alles ändern kann.“ Ein technisch ausgerichtetes BWL-Studium an der TU München schwebt ihr vor. „Ich bin froh, die Schule jetzt beendet zu haben. Gleichzeitig macht mir das auch ein bisschen Angst, weil ich nicht weiß, was im September kommt.“ Für die SchlaU-Schule wissen sie das schon ziemlich genau: Vier Klassen wird es dort im kommenden Jahr geben, die bei ihrer Zukunft auf sie setzen.