Gastbeitrag

„Es droht die Teslaisierung der Medizin in Deutschland“

Die Vorteile der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind so offensichtlich wie der Schaden, den jedes weitere Zögern verursacht. Aber es gibt Grund zur Hoffnung.

Text
Prof. Dr. Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité
Bilder
Björn Hänssler; Charité
Datum
15. Februar 2022

Das deutsche Gesundheitswesen hat sich in der Pandemie bewährt. Es kam zum Teil an seine Belastungsgrenzen, das Personal arbeitete oft auch jenseits des Zumutbaren. Aber das Gesamtsystem erwies sich als leistungsfähig. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass unser Gesundheitssystem auf dem heutigen Niveau nur dann überlebensfähig ist, wenn wir die Digitalisierung konsequent vorantreiben.

Der Bedarf ist offensichtlich. Im Augenblick sind wir noch mitten in der Pandemie, die Zahlen, die das Robert Koch-Institut jeden Tag vermeldet, sind enorm – zugleich wissen wir aber erschreckend wenig über die tatsächliche pandemische Lage im Land. Wir wissen nicht, wie viele Menschen aktuell in den Krankenhäusern liegen. Wir haben aber auch keine genauen Daten darüber, wer geimpft ist. Der Grund liegt darin, dass die Impfungen immer noch in diesen kleinen gelben Büchlein vermerkt werden und eine digitale Erfassung fehlt. Damit haben wir keine Möglichkeit, fundierte Aussagen über die Wirksamkeit des Impfstoffs zu treffen. Wir sind also in der absurden Situation, dass ein Impfstoff zwar in Deutschland mit entwickelt wurde, wir alle Informationen über diesen Impfstoff aber aus dem Ausland erhalten müssen – etwa aus Israel. 

„Wir sind in der absurden Situation, dass ein Impfstoff zwar in Deutschland mit entwickelt wurde, wir alle Informationen über diesen Impfstoff aber aus dem Ausland erhalten müssen.“

Zitat vonHeyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité
Zitat vonHeyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité

Ein effizienter, smarter und schneller Umgang mit Daten, der immer nur ein digitaler sein kann, ist so dringlich wie vielleicht nie zuvor. Die Zeit der Faxgeräte und gelben Impfausweise ist definitiv vorbei. Die Eindämmung der Pandemie ist jedoch nicht der einzige Punkt, an dem sich die dringende Notwendigkeit der Digitalisierung zeigt. Sie ist meines Erachtens die einzige Möglichkeit, dem demografischen Wandel mit einem funktionierenden Gesundheitssystem zu begegnen. 

Schon heute ist vielerorts die hausärztliche Versorgung nicht mehr gesichert, eine Entwicklung, die bei einer schnell alternden Bevölkerung dramatische Auswirkungen haben wird. Zugleich zeigt sich aber das disruptive Potenzial der Digitalisierung. Sehr viele relevante Gesundheitsdaten lassen sich heute über eine Smartwatch erheben. Wenn ich den Finger darauflege, kann ich ein EKG ableiten oder erhalte in 30 Sekunden eine zertifizierte Diagnose, ob ich Vorhofflimmern habe. Man kann an seinem Handgelenk also drei Fachkräfte tragen: einen Arzt, eine Pflege- und eine Verwaltungskraft. Der Besuch beim Haus- oder Facharzt und viele stationäre Krankenhausaufenthalte könnten vielleicht bereits in fünf Jahren durch eine smarte Übertragung relevanter Gesundheitsdaten ersetzt werden.

„Es zeigt sich das disruptive Potenzial der Digitalisierung.“

Zitat vonHeyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité
Zitat vonHeyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité

Daneben tut sich ein riesiges Feld an Möglichkeiten auf, was das gesundheitliche Monitoring älterer oder anderweitig hilfsbedürftiger Menschen betrifft. Das bringt nicht nur Effizienzsteigerungen mit sich, sondern so kann auch in dünn besiedelten Regionen die ärztliche Grundversorgung sichergestellt werden – mit konkretem Nutzen für die Patient:innen. Alte Menschen wünschen sich meist nichts dringlicher, als weiter in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung zu bleiben. Smarte digitale Lösungen können ihnen dabei helfen. 

Das deutsche Gesundheitswesen ist im Augenblick jedoch noch geprägt von einer extremen Kluft zwischen ambulanter und stationärer Behandlung. Eine entsprechende Sensorik könnte dabei helfen, diese Kluft zu schließen und im Idealfall ein Kontinuum der Behandlung zu etablieren. Ärtz:innen würden rechtzeitig erkennen, wann eine Intervention in der Klinik nötig sein könnte.

Für Patient:innen hätte eine digitale Dokumentation aller relevanten Daten aber noch einen weiteren entscheidenden Vorteil: Alle behandlungsrelevanten Informationen könnten so zusammengeführt werden und wären etwa über das Smartphone abrufbar. Beim Einchecken ins Krankenhaus, aber auch beim Wechsel von einer fachärztlichen Behandlung zur nächsten, könnten alle relevanten Daten sofort zur Verfügung stehen – so wie es heute schon in Israel und zum Teil auch in den USA der Fall ist. Die Patient:innen wären dabei gleichzeitig die Eigentümer ihrer Daten und könnten sich unabhängig über ihre Befunde informieren.

Neben diesen beiden eng verflochtenen Feldern – Patient:innendaten und smarte Diagnostik – gibt es noch einen dritten digitalen Großtrend im Gesundheitswesen: künstliche Intelligenz und Robotik. In ein paar Jahren wird künstliche Intelligenz standardmäßig dabei helfen, MRT- oder Röntgenaufnahmen auszuwerten. Innerhalb kürzester Zeit könnte man eine sehr große Zahl von Vergleichsfällen in Relation stellen und so die Therapie optimieren. Überall dort, wo es große Mengen digitaler Informationen gibt, wird künstliche Intelligenz unabdingbar sein. Für deren Entwicklung aber braucht man genau das: eine große Menge an Daten. Sind diese in Deutschland nicht zugänglich, droht das, was ich die Teslaisierung der Medizin nenne: Deutschland, ein ehemaliger Standort der Spitzentechnologie, wird international abgehängt.

„Zu lange wurde gezögert und gezaudert. Nun ist es Zeit zu handeln.“ 

Zitat vonHeyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité
Zitat vonHeyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité

Aber ich sehe auch Licht am Ende des Tunnels. Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung steht, dass die elektronische Patientenakte (ePA) nicht nur eingeführt, sondern auch mit einer Opt-out-Anwendung versehen wird. Das heißt: Alle bekommen eine digitale Patientenakte, und wer nicht will, hat die Möglichkeit, dies anzukreuzen. Wenn man es dann noch schafft, dass die größeren Datensammlungen über öffentlich-rechtliche und somit staatliche Konstrukte laufen und nicht von vornherein rein kommerziell aufgezogen werden, rechne ich mit einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung.

Wenn ich mir etwas für das deutsche Gesundheitswesen wünschen dürfte, dann also das: Dass es den politischen Willen gibt, die Digitalisierung voranzutreiben. Dass diese mit den nötigen monetären Mitteln ausgestattet wird. Und zuletzt: Dass darüber frühzeitig der Dialog mit der Öffentlichkeit gesucht wird. Zu lange wurde gezögert und gezaudert. Nun ist es Zeit zu handeln. 

Prof. Dr. Heyo Kroemer

Er ist Pharmakologe und Vorstandsvorsitzender der Charité in Berlin. In den 1990er-Jahren arbeitete und forschte er am Institut für Klinische Pharmakologie der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Er ist Mitglied im International Advisory Board des Bosch Health Campus.

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