Ist das deutsche Gesundheitssystem wegen der Corona-Pandemie endgültig am Limit? Vor welchen Herausforderungen steht es? Und wie kann die Digitalisierung dazu beitragen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern? Drei Vertreter:innen des Bosch Health Campus diskutieren Aufgaben und Lösungen.
Darüber sprechen:
Schönthaler: Im Vergleich zu anderen Ländern, auch Industrienationen
wie Großbritannien oder USA, steht Deutschland immer noch sehr gut da. Zu keinem Zeitpunkt der Pandemie war das deutsche Gesundheitswesen ernsthaft überlastet – was nicht heißen soll, dass es für die Ärzt:innen und das Pflegepersonal nicht sehr schwierig war und viele weit über ihre Belastungsgrenzen hinausgehen mussten. Aber das System als solches hat sich bewährt – bisher.
Alscher: Meiner Einschätzung nach erleben wir im Moment eine Krise des Gesundheitssystems. International gesehen bringt es gute Leistung, auch in der Pandemie bewährte es sich, da schließe ich mich Frau Dr. Schönthaler an. Aber wir haben ein Finanzierungsproblem.
„Wir zahlen Harrods und bekommen Woolworth. Und das ist ein Problem.”
Straub: Ja, wir haben im internationalen Vergleich das drittteuerste Gesundheitswesen der Welt. Und was die Leistung, beziehungsweise die Gesundheit der Bevölkerung anbelangt, sind wir nicht mal im obersten Dutzend. Um es plakativ zu sagen: Wir zahlen Harrods und bekommen Woolworth. Und das ist ein Problem.
Straub: Das Gesundheitswesen in Deutschland ist gekennzeichnet durch eine starke sektorale Zergliederung, die einem gesamtheitlichen Wandel entgegensteht: Es gibt die ambulante Versorgung, den Krankenhaus-Sektor und stationäre Reha-Einrichtungen. Dazu die grundsätzliche Unterteilung in Pflege und Behandlung und nicht zuletzt die fachärztliche Ausdifferenzierung. Das alles erfüllt seine Funktion, führt im worst case jedoch zu einem Silo-Denken. So wird sowohl eine patientenorientierte Weiterentwicklung des Systems verhindert als auch medizinisch-technische Innovationen, die auf diese Sektorengrenzen keine Rücksicht nehmen.
Straub: Nehmen wir die Pflege. Die Betreuung eines Menschen durch eine Pflegekraft kann medizinisch relevant sein, bevor dieser Mensch überhaupt in eine Krankheitssituation schlittert. Es wäre zum Beispiel vorstellbar, dass schon in Primärversorgungsumgebungen Tuchfühlung gehalten wird, Gesundheitsdaten erfasst, an ärztliche Stellen weitergeleitet und mögliche Krankheiten frühzeitig erkannt werden. Gerade ältere und chronisch kranke Patient:innen würden von einem solchen eher durchlässigen System sehr profitieren.
Straub: Wir haben demografisch betrachtet schon längst keine Bevölkerungspyramide mehr, sondern eine Zwiebel, irgendwann sogar ein Cocktailglas. Für das Gesundheitswesen erhöht das den Druck, sich noch schneller auf die Behandlung von chronischen Krankheiten einzustellen – dies gilt auch für das Thema Multimorbidität in den älteren Bevölkerungsschichten.
Alscher: Die Themen Vorsorge, Prävention und Diagnostik werden immer wichtiger. Durch genetische Daten wird man zum Beispiel wissen, welche Disposition eine Patientin oder ein Patient hat, dann kann man mit präventiven Maßnahmen und den entsprechenden Vorsorgeuntersuchungen gut gegensteuern. Unser Ziel muss sein, möglichst gesund alt zu werden. Gesundheit ist der wichtigste Faktor in Sachen Lebensqualität.
Schönthaler: Es ist natürlich schwer abzusehen, wo der größte Einschlag herkommen wird, aber einige Dinge erkennt man schon jetzt. Die hohe globale Mobilität macht die Eindämmung von Krankheiten schwierig bis unmöglich. Das hat man nun an COVID-19 gesehen. Die Migration wird einen zunehmenden Einfluss auf die Entwicklung von Krankheiten haben, denn dadurch kommt es zu einer Mobilität der Erreger.
Alscher: Dem muss ich zustimmen. Wir haben in Deutschland plötzlich wieder Krankheitsbilder, die wir in der Vergangenheit so nicht gesehen haben, oder von denen wir dachten, wir hätten sie hinter uns gelassen. Etwa Diphtherie, sie erreicht uns jetzt wieder aus Osteuropa. Oder Herzerkrankungen durch entzündliche Veränderungen der Herzklappen oder multiresistente Keime. Aber natürlich bringt die Migration auch viele Chancen mit sich. Der Zuzug von vielen Menschen könnte eine Antwort auf den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen sein. Das ist eine Herausforderung, weil dieser Bereich sprachlich und auch kulturell sehr sensitiv ist. Hier wird es auf die Qualität der Ausbildung ankommen und auch darauf, wie der Pflege-Alltag konkret organisiert wird.
Alscher: Wir sehen in den Industrieländern gerade, dass die primärärztliche Versorgung nicht mehr funktioniert, dass zum Beispiel Menschen nicht mehr in ihren Quartieren entsprechend behandelt werden. Das ist ein riesiges Problem. Auf der anderen Seite haben wir viele Länder, in denen überhaupt keine sinnvolle, qualitativ gute ärztliche Versorgung vorhanden ist. Parallel erleben wir, dass vor allem Plattformanbieter sich massiv in Gesundheitsthemen einarbeiten – beispielsweise Apple mit seiner Smart Watch, die Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung und weitere Daten messen kann und daraus gesundheitliche Ratschläge ableitet. Und natürlich können einfache Hausarzt-Tätigkeiten von Algorithmen übernommen werden. Ich denke an Sensorik zur Blutdruckkontrolle oder Blutzuckereinstellung. Über Smartphones kann ich all diese Dinge messen und zur Verfügung stellen. Die spannende Frage wird sein, ob diese einfachen Hausarzt-Tätigkeiten von Internet-Giganten kommerziell erschlossen werden oder ob es auch das herkömmliche Gesundheitssystem schafft, hier Lösungen anzubieten.
„Die größte disruptive Kraft in Sachen Digitalisierung sehe ich in der Diagnostik.”
Straub: Hier wird sich in den nächsten Jahren unglaublich viel tun. Nicht nur im Bereich der Sensorik, den Herr Prof. Alscher gerade angesprochen hat. Es gibt noch ein Feld, das für die Patient:innen, aber auch für die Effizienz des Gesamtsystems ganz konkrete Nutzen mit sich bringen wird. Nehmen wir das Beispiel Patientendaten. Viele Untersuchungen werden mehrfach vorgenommen. Sollte der Patient, die Patientin, über all seine Daten verfügen und diese problemlos von einem Facharzt mit zum nächsten nehmen können, wäre das ein riesiger Fortschritt.
Schönthaler: Die größte disruptive Kraft in Sachen Digitalisierung sehe ich in der Diagnostik. Künstliche Intelligenz wird uns die Möglichkeit geben, riesige Datenmengen effizient zu verarbeiten, etwa in der Bildgebung. Man wird in kürzester Zeit Referenzfälle heranziehen können und kann damit die Behandlung optimieren. Ich sehe jedoch auch Entwicklungen, die zu schwierigen Entscheidungen führen werden. Sehr bald werden wir deutlich verbesserte Möglichkeiten haben, eine individualisierte Risikoeinschätzung anhand des Genoms vorzunehmen. Aber damit geht natürlich auch eine neue Verantwortung einher. Was fangen Menschen mit der Information an, dass sie x Prozent Wahrscheinlichkeit für das Ausbilden gewisser Erkrankungen haben? Wir werden also lernen müssen, mit den Informationen, die uns künstliche Intelligenz zur Verfügung stellt, umzugehen.
„Das Robert-Bosch-Krankenhaus als eines der zentralen Elemente des Bosch Health Campus zeichnet sich dadurch aus, dass es ein forschendes Krankenhaus ist.”
Alscher: Das Robert-Bosch-Krankenhaus als eines der zentralen Elemente des Bosch Health Campus zeichnet sich dadurch aus, dass es ein forschendes Krankenhaus ist. Das hat schon der Stifter so gewollt. Er verfügte, dass hier alle Möglichkeiten, die der Gesundung dienen, zum Einsatz kommen, auch wenn sie unkonventionell sind. Dieses Mindset ist bis heute bestimmend. Was auch entscheidend ist: Wir haben den großen Vorteil, dass wir mit der Robert Bosch GmbH einen Partner an der Seite haben, der in Sachen Gesundheitstechnologie und Digitalisierung ganz vorne dabei ist.
Straub: Der Bosch Health Campus ist eben weder nur Forschungseinrichtung oder Bildungseinrichtung oder Fördereinrichtung, sondern bringt diese Dinge synergetisch zusammen. Wir können zum Beispiel sehr schnell und unbürokratisch die Förderung von Studien genehmigen. Universitäre Häuser sind da anders aufgestellt, sind vielleicht nicht so schnell, weil sie akademische Entscheidungsstrukturen haben. Nehmen wir das Zusammenspiel zwischen der Robert Bosch Stiftung als Träger und dem Krankenhaus oder dem Bosch Health Campus. Wir tauschen uns in Gremien regelmäßig aus. Und wenn wir Budgets für die Forschung zur Verfügung stellen, sind wir in der Mittelfreigabe sehr schnell. Was nicht heißt, dass wir nicht messen oder evaluieren. Aber wir müssen nicht langwierige Prozesse abwarten, um Entscheidungen zu treffen. Wir können schnell anfangen, zu arbeiten und zu forschen und währenddessen gegebenenfalls auch Richtungsanpassungen vornehmen. So kann man Prozesse enorm beschleunigen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir am Bosch Health Campus die Möglichkeit haben, über die Sektorengrenzen hinweg modellhaft das eine oder andere auszuprobieren. Wir können so einen Showcase bieten, mit dem wir zeigen können, wie eine optimale Patient:innenreise ausschauen könnte – digital, medizinisch, technisch. So können wir auch international wirken.
Auf dem neuen Campus greifen unterschiedliche Einrichtungen bestmöglich ineinander – zum Wohle der Patient:innen.
Schönthaler: Die Translation ist dafür gut geeignet, denke ich. Also die schnelle und direkte Übertragung von Forschung in Therapie. Medizinische Forschung wirkt von außen oft etwas langsam und das liegt daran, dass hier zunächst mit klassischen Modellen, etwa mit Tierversuchen, gearbeitet wird und diese Ergebnisse dann sehr langwierig auf Menschen übertragen werden müssen. Das ist alles wichtig, keine Frage. Aber wir haben – in der Zusammenarbeit mit dem Robert-Bosch-Krankenhaus und gefördert durch die Robert Bosch Stiftung – die Möglichkeit, mit Patientenmaterial zu arbeiten. Dadurch lassen sich natürlich ganz konkrete Therapieoptionen viel schneller ableiten. Wir haben Patient:innen, denen wir die Teilnahme an Studien anbieten können, die sich aber auch für Forschung interessieren und gerne an diesen Studien teilnehmen. So eingebettet, können wir den Weg der Translation dramatisch abkürzen.
Die Zusammenführung einzelner Fachbereiche an einem Ort ermöglicht eine moderne interdisziplinäre Behandlung der Patient:innen – auf universitärem Niveau und auch bei komplexen Krankheitsbildern. Die enge Verzahnung von Behandlung und medizinischer Forschung ist dabei ideal, um Ergebnisse aus der Spitzenforschung schnell und direkt in die Gesundheitsversorgung zu bringen. Dank des Campus-eigenen Bildungszentrums können Fachkräfte gezielt aus- und fortgebildet werden. Der integrierte Förderbereich – das Robert Bosch Center for Innovative Health – macht aus dem Campus ein Living Lab; ein Experimentierfeld für Ideen, wie eine bessere Gesundheitsversorgung aussehen könnte. Als unabhängige und gemeinnützig agierende Einheit führt das Center zudem Projekte mit externen Partner:innen durch und fördert Vorhaben Dritter. Schnelles und agiles Vorgehen ist in diesen disruptiven Zeiten ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg. Der Bosch Health Campus bietet alle Voraussetzungen dafür.
Straub: Nehmen wir die Megatrends, über die wir vorher sprachen: Alternde Gesellschaft, Migration, Klimawandel, aber auch Digitalisierung. Wenn Sie diese Dinge alle zusammennehmen, dann kommen Sie automatisch darauf, dass eine getrennte, in Silos ablaufende Ausbildung immer darauf angewiesen wäre, dass diese Siloschnittstellen ideal funktionieren und damit die Menschen, die dort handeln, auch gut zusammenarbeiten. Das ist aber leider nicht immer der Fall. Demgegenüber ist eine transsektorale und integrierte Ausbildung, wie wir sie am Bosch Health Campus vorantreiben, vorteilhaft. Weil Sie dann die Aus- und Weiterbildung in Teams und an konkreten Fällen organisieren können. Das ist eine Möglichkeit, die der Bosch Health Campus in idealer Weise leisten kann, weil wir dort die Bildung als integralen Bestandteil von Forschung und Therapie sehen. Pflegekräfte und Ärzteschaft beschreiten ja getrennte Ausbildungswege und finden sich erst am Krankenbett zusammen. Es wäre besser, wenn wir diese beiden getrennten Wege in der Ausbildung stärker zusammenführen würden. Den Patient:innen hilft etwa konkret, wenn auch das Pflegepersonal frühzeitig Symptome erkennen kann, wenn es also ein Kontinuum von Pflege und Behandlung gibt. Dafür ist ein stetiger Austausch wichtig - und den institutionalisieren wir. Wir wollen den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das muss generell der Anspruch von Medizin sein.
Schönthaler: Wir wollen einen gesunden Menschen. Einen Menschen, der schnell die richtige Hilfe bekommt, wenn er krank wird. Ideal wäre es, wenn man zum Beispiel einen Tumor ganz früh erkennt, noch bevor man ihn in der Bildgebung sieht. Da wird konkret daran gearbeitet. Oder aber: Man ermächtigt den Körper, selbst mit Krebs fertigzuwerden. Das heißt, die Patient:innen bekommen eine Injektion und gehen wieder. Und zwar bevor sie operiert werden müssen. Das ist noch Zukunftsmusik, aber in zehn Jahren wird man da sehr viel weiter sein. Und mit dem Bosch Health Campus können wir einen großen Beitrag dazu leisten.
Alscher: Was Frau Dr. Schönthaler beschreibt, ist natürlich der Idealfall. Aber es wird auch dann noch zu schwereren Krankheitsverläufen kommen. Dafür brauchen wir ein gestuftes System, das jedem ermöglicht, im akuten Fall die bestmögliche Behandlung zu erhalten. Als forschendes Krankenhaus sehen wir uns hier besonders in der Verantwortung. Am Robert-Bosch-Krankenhaus werden Therapien entwickelt oder weiterentwickelt, von denen Patient:innen schon bald einen konkreten Nutzen haben werden.
Straub: Und wir brauchen ein leistungsfähiges Gesundheitssystem, das die Sektorengrenzen endlich überwindet, also vor allem die strikte Aufteilung in stationäre Behandlung, ambulante Behandlung und Reha und Pflege. Den Bosch Health Campus kann man hier als gelungene Case Study betrachten. Wir dürfen aber auch eines nicht vergessen: Die beste Behandlung ist die, die gar nicht notwendig ist. Das hat auch mit dem Thema wellbeing zu tun. Wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, sich um ihre Gesundheit kümmern zu können. Das betrifft ganz viele Gebiete, die unsere Stiftung bearbeitet: Wie bekommen wir das Thema Ungleichheit in den Griff? Wie sorgt man für optimale Bildungsvoraussetzungen? Wir betrachten das Thema Gesundheit als Nexus, in dem alle relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenkommen. Deshalb dürften wir am Bosch Health Campus in diesem Bereich keine Mühen scheuen.