Dekolonisierung der Friedensförderung

Warum „Race and Power“ auch in der Friedens­förderung eine große Rolle spielen

Der Bericht „Race, Power and Peacebuilding“ analysiert die ungleichen Machtverhältnisse in der Friedensförderung. Shannon Paige, Policy Associate bei Peace Direct und Hauptautorin der Studie, erklärt im Interview, warum Dekolonisierung auch in der Friedensförderung wichtig ist und welche Möglichkeiten dadurch entstehen. 

Text
Robert Bosch Stiftung
Illustration
Nash Weerasekera
Datum
09. November 2022

Warum ist es notwendig, sich ausführlich mit „Race, Power und Peacebuilding“ zu beschäftigen?

Shannon Paige: Nach der Veröffentlichung unseres ersten Berichts „Time to Decolonise Aid“ hat uns das große Interesse positiv überrascht. Obwohl wir unsere Ergebnisse bei unterschiedlichen Gelegenheiten vorstellen konnten, waren es größtenteils Organisationen aus den Bereichen Entwicklung und humanitäre Hilfe, die uns kontaktierten. Wir waren aber der Meinung, dass es auch für uns als Friedensorganisation wichtig ist, die Art und Weise zu prüfen, wie sich struktureller Rassismus in unserer Arbeit zeigt. Es wäre zu einfach anzunehmen, dass wir als Friedensakteur:innen vom Vermächtnis des Kolonialismus ausgenommen sind - beispielsweise aufgrund des nicht-kolonialen Ursprungs, der Professionalisierung und der hohen moralischen Ansprüche unseres Sektors. So hat sich gezeigt, dass Friedensakteur:innen der festen Überzeugung sind, dass auch der Friedensförderungssektor von strukturellem Rassismus und ungleichen Machtverhältnissen geprägt wird. „Race, Power, and Peacebulding“ war für Peace Direct eine Gelegenheit, den Friedensförderungssektor zu einer ehrlichen Reflektion einzuladen, wie die Normen, Praktiken und Terminologien des Sektors bestimmte Machtstrukturen in bereits fragilen Kontexten unbeabsichtigt verstärken können.

Zur Person

Shannon Paige ist Policy Associate und leitet die Aktivitäten von Peace Direct zum Thema Dekolonisierung des Friedensförderungssystems sowie die Entwicklung des Friedensförderungsprogramm von Peace Direct in den USA. Sie ist Hauptautorin des Berichts „Time to Decolonise Aid“ und Ko-Autorin von „Race, Power and Peacebuilding”. 

Welche Perspektiven wurden in den Bericht aufgenommen?

Wie in unserem ersten Bericht war es unsere Priorität, den Fokus auf die Perspektive der Friedensakteur:innen und marginalisierten Gruppen aus dem Globalen Süden zu legen. Dazu gehören unter anderem Peacebuilderinnen, junge Friedensakteur:innen und People of Color. Für „Race, Power, and Peacebuilding“ wollten wir von unserem ersten Bericht lernen und zielgerichtet Friedensakteur:innen mit vielfältigen Perspektiven einladen. Mit GPPAC, ICAN und UNOY konnten wir Institutionen einbinden, deren Arbeit wir sehr schätzen. Wir waren besonders erfreut über diese Kooperation, weil die drei Organisationen Expertinnen darin sind, marginalisierte Gruppen einzubinden. Wir konnten von und mit ihnen lernen, bestimmte unterrepräsentierte Gruppen und Communities in Gespräche über Dekolonisierung einzubinden. In diesem Sinne sind wir stolz auf die Vielfalt der Perspektiven, die durch die verschiedenen Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen vertreten sind.

Terminologie und Sprache sind Faktoren, die lokale Friedensakteur:innen vom Sektor ausschließen. Was sind mögliche Wege zu mehr Inklusion?

Obwohl es viele mögliche Anpassungen in der Sprache und Terminologie des Sektors gibt, die eine größere Inklusion bewirken können, haben wir während unserer Recherche herausgefunden, dass Friedensakteur:innen einfache Veränderungen fordern: Beispielsweise die Übersetzung von Ergebnissen in ihre Sprachen, die Vermeidung von Fachjargon und, sollte dieser doch verwendet werden, eine klare Definition von Fachbegriffen.

Substanzielle Veränderungen, gerade wenn es um Konzepte der Friedensförderung und ihre Terminologien geht, sollten angestrebt werden. Um diese Veränderungen herbeizuführen, wäre vor allem in der Projektentwicklung mehr Zeit notwendig sowie größerer Input von lokalen Communities. Während unseres Beratungsprozesses wurde als eine Lösung deswegen vorgeschlagen, zusätzliche Zeit im Projektablauf zu schaffen, damit sich Friedensakteur:innen aus dem Globalen Süden mit den konzeptuellen Designs friedensfördernder Projekte befassen können.

Sprachlicher Zugang wird oft auf gesprochene Sprache begrenzt. Unsere Recherche zeigt aber, wie wichtig es ist, dass Akteur:innen aus dem Globalen Süden eine zentrale und leitende Funktion bei den konzeptuellen Grundlagen einnehmen. Unsere Erkenntnistheorien, unser Verständnis von scheinbar universellen Konzepten wie Frieden und Gerechtigkeit sind von unserer Kultur und Sprache beeinflusst. Als Sektor müssen wir mehr Möglichkeiten schaffen, bei denen Menschen aus verschiedenen Communities zusammenkommen und herausfinden, wo die Unterschiede liegen, um so repräsentativere Terminologien und Konzepte zu entwickeln.

„Die Einbeziehung lokaler Praktiken und Kenntnisse ist entscheidend für den anhaltenden Erfolg jeder friedensfördernden Maßnahme.“

Zitat vonShannon Paige
Zitat vonShannon Paige

Lokale Praktiken und Kenntnisse bleiben von internationalen Friedensakteur:innen und Geber:innen oft unbeachtet. Wie können diese lokalen Ressourcen den internationalen, friedensfördernden Maßnahmen helfen?

Die Einbeziehung lokaler Praktiken und Kenntnisse ist entscheidend für den anhaltenden Erfolg jeder friedensfördernden Maßnahme. Lange bevor die internationale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit und ihre Ressourcen auf die Bewältigung eines Konflikts richtet, haben lokale Akteure der Konfliktbewältigung viel Zeit und Ressourcen gewidmet. Um lokale Praktiken und Kenntnisse erfolgreich einzubeziehen, müssen die Akteur:innen vor Ort integriert werden. Die Zusammenarbeit mit lokalen Führungspersönlichkeiten hat viele Vorteile. Der offensichtlichste ist, dass sie Expert:innen für die lokalen Praktiken, Überzeugungen und Ansätze sind und es der internationalen Gemeinschaft ermöglichen, sicherzustellen, dass ihre Konzepte und Ansätze zur Friedenskonsolidierung kontextsensibel sind und auf lokale Resonanz stoßen. Sie können dabei helfen, sich in der jeweiligen Sprache und Kultur zurechtzufinden, und sicherstellen, dass der konzeptionelle Rahmen der Kultur und den Prioritäten der lokalen Community entspricht.

Was die Prioritäten vor Ort anbelangt, ist eine bedeutende Einbindung lokaler Akteur:innen und lokaler Führungspersonen wichtig. Das garantiert der internationalen Gemeinschaft zugleich, dass ihre Bemühungen für die lokale Community nachvollziehbar sind, da sich lokale Führungspersonen gegenüber ihrer eigenen Community verantworten müssen. Daher wird sehr wahrscheinlich auch in den Communities das Gefühl der Eigenverantwortung für die friedensfördernden Maßnahmen verstärkt, was wiederum ihre Bemühungen für einen Erfolg der Friedensförderung erhöhen wird. 

Wenn ein internationales Friedensförderungsprojekt ein hohes Maß an Verantwortung gegenüber der lokalen Community aufweist, wird das Vertrauen in internationale Akteur:innen und in das Projekt gestärkt. Dieses Vertrauen und das Gefühl der Eigenverantwortung können sich unglaublich positiv auswirken und sicherstellen, dass die Wirkung einer internationalen friedensfördernden Maßnahme in einer bestimmten Community nachhaltig ist. 

Durch die sinnvolle Einbeziehung lokaler Praktiken, Kenntnisse und Führungsqualitäten kann die internationale Gemeinschaft als Partnerin der lokalen Community verstanden werden, mit der sie gemeinsam an der Lösung des Konflikts arbeitet. Somit werden friedensfördernde Maßnahmen nicht nur als neueste externe Intervention wahrgenommen, die nur wenig von der lokalen Community beeinflusst werden kann und wenig Einfluss auf sie hat.

Wie können private Förderer:innen, wie die Robert Bosch Stiftung, zu Veränderungen im Friedensförderungssektor beitragen?

Private Förderer:innen haben eine der wichtigste Rollen in der Dekolonisierung des Friedensförderungssektors – sie entscheiden, was in den Bereich der Friedensförderung fällt und was nicht. Nach der Veröffentlichung unseres ersten Berichts hörte ich immer wieder von gleichgesinnten INGOs, dass sie zwar an der Idee der Dekolonisierung interessiert waren, aber befürchteten, dass sie entweder keine Mittel für diese Arbeit erhalten würden oder sogar Gefahr liefen, gänzlich ins Abseits zu geraten. Unser Sektor, wie alle Zweige des gemeinnützigen Sektors, ist manchmal zögerlich und möchte vermeiden, die Geldgeber:innen zu verärgern. 

Wenn es um sensible und potenziell kontroverse Themen wie die Dekolonisierung geht, haben private Förderer:innen meiner Meinung nach die Möglichkeit, mutig zu sein. So wie die Robert Bosch Stiftung mich eingeladen hat, über die Dekolonisierung des Friedensförderungssektors zu sprechen, so können auch andere private Förderer:innen Räume für derartige Gespräche schaffen. Viele kleinere INGOs werden, sobald sie wissen, dass sie kontroverse Themen ansprechen und mit verschiedenen privaten Förderer:innen in Verbindung bleiben können, ihre Absicht zur Dekolonisierung deutlicher zum Ausdruck bringen und sich mehr Gedanken darüber machen, wie die Zukunft der Friedensförderung aussehen kann.

Peace Direct hat zusammen mit GPPAC, ICAN und UNOY einen Bericht mit dem Titel „Race, Power and Peacebuilding“ veröffentlicht. Der Bericht betrachtet Friedensförderung durch eine „Dekolonisierungsbrille“ und wurde auf Basis von Interviews mit Akteur:innen in der Friedensförderung weltweit erstellt.

Zum Download des Berichts
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